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„Hilfe zum Leben statt Hilfe zum Sterben“(1)

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid vom 26.2.2020 untergräbt den Kern ärztlichen Handelns mit seinem Grundsatz nihil nocere und greift tief in elementare Grundlagen unseres menschlichen Zusammenlebens ein. Das Bundesverfassungsgericht hat eine existentielle Thematik auf den Aspekt der Selbstbestimmung reduziert. Die Folgen für die Gesellschaft finden explizit keine Beachtung.(2) Die ungünstigen Erfahrungen in den Nachbarländern, die fatalen Erfahrungen aus der deutschen Geschichte, die Warnungen aus der Suizidforschung und die Fortschritte in der Palliativmedizin waren für das Gericht nicht entscheidend. Der assistierte Suizid setzt voraus, dass ein Menschenleben nicht nur vom Suizidenten, sondern auch von einer zweiten Person, nämlich dem „Sterbehelfer“, als lebensunwert beurteilt wird. Andernfalls müsste dieser seine Unterstützung des Vorhabens verweigern. Auch diese Problematik findet im Urteil keine Beachtung.

Das Urteil gefährdet den in unserer Verfassung intendierten Schutz des menschlichen Lebens gerade in einer höchst vulnerablen Phase, in der sich ein suizidaler Mensch fast immer befindet. Es ist wichtig, den Suizidwunsch als Symptom(3) menschlicher Not, als Hilferuf, zu erkennen, der fast immer vorübergehender Natur ist. Wenn der Suizidwunsch jedoch als Ausdruck von Selbstbestimmung gewertet wird, wird der verzweifelte Suizidgefährdete in seiner Not allein gelassen. Aufgabe des Arztes ist es, dem suizidalen Menschen einen Ausweg aus seiner vermeintlichen Hoffnungslosigkeit aufzuzeigen, mit ihm neue Perspektiven im Umgang mit seiner schwierigen Situation zu entwickeln oder die schwierige Situation mit ihm auszuhalten. Der Schwerpunkt muss „auf Suizidprävention und dem Kampf um das Leben jedes einzelnen Menschen liegen.“(4)

Indem der Patient seinen Suizidwunsch dem Arzt anvertraut, öffnet er sich für das Gespräch. Gerade darin liegt die Chance, dass der verzweifelte suizidale Mensch seine Situation reflektieren und wieder „Ja zum Leben“ sagen kann. Es ist wichtig, den Suizidwunsch nicht zu tabuisieren, sondern den Patienten in der ganzen Vielfalt seiner Person entgegenzunehmen und gemeinsam mit ihm in alle Richtungen nach Lösungen zu suchen.(5) So erlebt der Patient, dass er auch in einer schweren Notlage oder mit seinem Gebrechen „er selbst“ sein kann und als Person angenommen ist. Er schöpft Hoffnung und lernt, mit seiner schwierigen Situation umzugehen. Die Grundlage des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient ist die Gewissheit, dass der Arzt höchsten Respekt vor dem Leben – auch in seiner gebrechlichen Form – bewahrt.

Die Bedeutung des ärztlichen Ethos in der Hippokratischen Tradition sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft wurde unlängst durch die Forschungsergebnisse einer interprofessionellen Gruppe von Wissenschaftlern aus Europa, Amerika, Australien und Israel nochmals detailliert herausgearbeitet.(6) Die Autoren sehen ernsthafte Risiken für die Gesellschaft, wenn sich die Haltung der Medizinischen Fachgesellschaften, die den ärztlich assistierten Suizid und Euthanasie traditionell ablehnen, ändern würde. Insbesondere warnen sie vor den Folgen für die ärztliche Professionalität, vor den Konsequenzen für hilfsbedürftige Menschen und für das Gemeinwohl insgesamt.

Auch der Weltärztebund (World Medical Association) bekräftigte auf seiner Jahresversammlung 2019 in Tiflis(7) erneut seinen ablehnenden Standpunkt gegenüber Euthanasie und ärztlich assistiertem Suizid. Er betont sein starkes Bekenntnis zu den tradierten Grundsätzen des ärztlichen Ethos und fordert höchsten Respekt vor dem menschlichen Leben. Das Nationale Suizidpräventionsprogramm Deutschland (NaSPro) wies kürzlich in seiner Stellungnahme an Bundesgesundheitsminister Spahn(8) differenziert auf die Gefahren für Individuum und Gesellschaft hin, die mit dem assistierten Suizid verbunden sind: Suizidalität sei ein individuelles Problem mit gesellschaftlichen Ursachen und Folgen. Begutachtungsverfahren seien nicht geeignet, die Entscheidungsfindung des Suizidenten zu unterstützen, und die Möglichkeit des assistierten Suizids wirke nicht suizidpräventiv. Vielmehr sei zu vermuten, dass mit der Erlaubnis des assistierten Suizids «neue Zielgruppen für dieses Angebot erschlossen werden.» Empirische Forschungsergebnisse zur Bestimmung des vom Bundesverfassungsgericht «beschriebenen mehrdimensionalen Konstrukts der Freiverant- wortlichkeit» fehlten.

Eine humane Gesellschaft lässt sich nur verwirklichen, wenn die Freiheit des Einzelnen eingebettet ist in eine Kultur der Sorge und des Beistandes.(9) Die menschliche Autonomie ist immer eine relationale Autonomie, eine Autonomie in Beziehung zum Mitmenschen. Daher „wird die Haltung der Menschen, die Suizidwilligen begegnen, immer auch den Suizidwunsch in die eine oder andere Richtung beeinflussen – die Selbstbestimmung entlässt keinen Mitmenschen und erst recht keinen Arzt aus der Verantwortung.“(10) Dass der Mensch in all seinen Lebensphasen auf die Hilfe anderer angewiesen ist, ist eine Grundbedingung menschlichen Lebens. Eine Einschränkung seiner Autonomie liegt darin nicht begründet.

Gerade die Hilfe und Sorge um den Anderen, sowie das oberste Gebot, dem Patienten nicht zu schaden, stehen im Zentrum des ärztlichen Handelns. Diese Grundprinzipien der Humanität sollten wir Ärzte dringend verteidigen. Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.2020 und der dadurch forcierten Debatte über das Verbot des ärztlich assistierten Suizids in unserer (Muster-) Berufsordnung sind wir als Ärzteschaft aufgerufen, uns erneut zu positionieren.

Wir empfehlen in der jetzigen Situation, nicht vorschnell den §16 unserer (Muster-) Berufsordnung zu ändern, denn selbst das Bundesverfassungsgericht hat die Frage nach der Verfassungskonformität unserer Berufsordnungen, die uns – unserem Selbstverständnis entsprechend – die Beihilfe zur Selbsttötung verbieten, nicht abschließend geklärt.(11)(12) Auch kann nach dem Urteilsspruch kein Arzt zur Mitwirkung an einer Selbsttötung verpflichtet werden.

Es darf niemals die Absicht ärztlichen Handelns sein, dass die letzte Konsultation maßgeblich zum Tode des Patienten beiträgt. Wir Ärztinnen und Ärzte werden uns weiterhin tatkräftig einsetzen für die Förderung einer Kultur der Fürsorge und des Beistandes für schwer kranke und sterbende Menschen, die Mut macht und Hoffnung weckt für ein Leben bis zum letzten Atemzug.

Bitte laden Sie die Originaldatei hier herunter. Jeder Arzt oder jede Ärztin kann die Zustimmung am Schluss des Dokuments erklären. [1]

(1) Vgl. „Hilfe zum Leben statt Hilfe zum Sterben.“ Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie u.
Psychotherapie, Psychosomatik u. Nervenheilkunde vom 27.2.2020
und: Arbeitsbündnis „Kein assistierter Suizid in Deutschland!“, Symposium „Hilfe zum Leben statt Hilfe zum Sterben“ beim Weltpsychiatrie-Kongress in Berlin, Oktober 2017
(2) Vgl. aerzteblatt.de 16.4.2019, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/102481/Das-Recht-darf-zur- Sterbehilfe-nicht-schweigen
(3) Vgl. Ringel, E.: Das präsuizidale Symptom – medizinische, soziale u. psychohygienische Konsequenzen. Hexagon „Roche“ 1985; 13(1): 8-14
(4) Vgl. „Hilfe zum Leben statt Hilfe zum Sterben.“ Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie u. Psychotherapie, Psychosomatik u. Nervenheilkunde vom 27.2.2020
(5) Vgl. Deutscher Ethikrat: Recht auf Selbsttötung? Online-Veranstaltung, 20.10.2020, Andreas Kruse: Medizinisch-psychologischer Sachstand
(6) Vgl. Physician-Assisted Suicide and Euthanasia: Emerging Issues From a Global Perspective“, Journal of Palliative Care 2018, Vol. XX(X) 1-7
(7) Vgl. WMA Declaration on euthanasia and physician-assisted suicide, adopted by the 70th WMA General Assembly, Tbilisi, Georgia, October 2019
(8) Vgl. Nationales Suizid Präventions Programm – Zur möglichen Neuregelung der Suizidassistenz, September 2020
(9) Vgl. Giovanni Maio: Den kranken Menschen verstehen – Für eine Medizin der Zuwendung. Herder 2015, S. 90 10 Karen Nestor, Töten oder sterben lassen? – die entscheidende Frage der Sterbehilfe. In: Den Weg zu Ende gehen – in der Begegnung mit dem Sterbenden Lebendigkeit erfahren. Ev. Landeskirche des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2019
(11) Vgl. Urteil des BVerfG vom 26.2.2020, Randnote 296, Seite 81
(12) Vgl. Rudolf Henke, Kultur der Zuwendung – Die Beihilfe zum Suizid gehört auch in Zukunft ganz grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten. Rheinisches Ärzteblatt, Heft 12, Dezember 2020

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer
Leiter des Fachgebiets Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg

Prof. Dr. med. Paul Cullen
Erster Vorsitzender „Ärzte für das Leben“

Dr. med. Marianne Herzog
Ehrenvorsitzende Ökumenischer Hospizdienst Gummersbach e.V.

Dr. med. Susanne Hörnemann
Nervenärztin und Psychotherapie, Köln

PD Dr. med. Ute Lewitzka
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Dresden

Dr. med. Susanne Ley
Internistin und Rheumatologin, Köln

Dr. med. Steffen Liebscher
Internist, Hausarzt in Aue
Vorstand der Sächsischen Landesärztekammer, Delegierter zum Deutschen Ärztetag

Prof. Dr. Dr. Uwe Henrik Peters
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln

Prof. Christoph von Ritter MD PhD
Prof. em. Ludwig-Maximilians-Universität München

Dr. med. Thomas Sitte
Palliativmediziner für Kinder und Erwachsene, Fulda

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Manfred Wolfersdorf
Ehemals Ärztlicher Direktor Bezirkskrankenhaus Bayreuth
jetzt in eigener Praxis als Facharzt Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

V.i.S.d.P.:
Liga Ärzte in Ehrfurcht vor dem Leben
c/o Dr. med. Susanne Ley, Postfach 68 02 75, 50705 Köln Email: liga@aerzte-in-ehrfurcht-vor-dem-leben.de Website: www.aerzte-in-ehrfurcht-vor-dem-leben.de