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Im Gespräch: Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann

Univ.-Prof. Dr. Thomas S. Hoffmann lehrt Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Fernuniversität in Hagen; er hat Philosophie, Evang. Theologie und Italianistik an den Universitäten Tübingen, Wien und Bonn studiert; an der Universität Bonn, an der er auch promoviert wurde (1990) und sich habilitiert hat (1999), war er seit 1990 tätig; im Jahre 2003 wechselte er an die Ruhr-Universität Bochum, wo er in einem Forschungsprojekt zur kulturübergreifenden Bioethik mitarbeitete. Gastprofessuren der letzten Jahre hat er in Österreich, Kroatien, Argentinien und Kolumbien wahrgenommen.

Berührungen und Gemeinsamkeiten zwischen dir und dem Gemeindehilfsbund gibt es schon viele Jahre. 2008 haben wir deinen Vortrag „Kierkegaard als reformatorischer Christ“ in unserer Broschürenreihe veröffentlicht. 2011 haben wir in enger Absprache mit dir die Zeitschrift „Aufbruch“ des früheren von dir geleiteten Vereins „Evangelischer Aufbruch in Deutschland“ (EAD) übernommen. Für die Rubrik „Nachrichten und Kommentare“ hast du wichtige Artikel beigesteuert. Wie siehst du die Entwicklung des „Aufbruch“?

Der erste „Aufbruch“ ist im Herbst 1993 als kleines, unscheinbares Mitteilungsblatt einer spontan entstandenen Initiative aus dem Rheinland erschienen. Er war wie ein Dissidentenblättchen aus den Kellern der früheren DDR mit der Schreibmaschine geschrieben, wurde im Kopierladen vervielfältigt und an vielleicht 80 Adressen versandt. Damals hätte niemand gedacht, daß daraus einmal so etwas wie ein christliches „Magazin“ werden würde, das mehrere Jahrzehnte überdauern und dann immer noch seine Aufgabe haben könnte, ja seinen Radius stetig vergrößern würde. Dieser unplanbare „Erfolg“ freut mich natürlich sehr, wie es mich auch freut, daß sich die Übergabe an den Gemeindehilfsbund vor zehn Jahren als die richtige Entscheidung erwiesen hat.

Du lehrst das Fach Philosophie an der Fernuniversität Hagen. Gibt es in unserer von Naturwissenschaft und Technik faszinierten und medienorientierten Gesellschaft überhaupt noch genügend junge Menschen, die sich für die philosophischen und ethischen Grundfragen der menschlichen Existenz interessieren?

Die Fernuniversität Hagen ist mit über 78.000 Studenten die größte deutsche Universität; aus dieser Zahl sind etwa 4500 Personen in Studiengänge eingeschrieben, in denen sie sich als Haupt- oder Nebenfächler, als Bachelor- oder Masterstudenten, als Gasthörer oder Promovenden der Philosophie widmen. Alleine der Masterstudiengang Philosophie, den man nur im Hauptfach studieren kann, ist mit derzeit 538 eingeschriebenen Kommilitonen der aktuell wohl größte philosophische „Master“ in Deutschland – über Mangel an Interesse kann man also nicht klagen! Allerdings muß man dabei im Blick haben, daß wir als Fernuniversität eine keineswegs alltägliche Klientel haben. Neben „normalen“ Studenten, die es bei uns natürlich auch gibt, die aber das Fach Philosophie meist nicht aus Berufs- oder Karrieregründen, sondern aus innerem Antrieb studieren, treffe ich im Seminar oder sonst als Lehrender auf Rechtsanwälte und Theologen, auf Medizinprofessoren und Berufssportler, auf Mütter und Hausfrauen, auf hochbegabte Schüler, die schon vor dem Abitur zum Hochschulstudium zugelassen worden sind, oder auch auf Inhaftierte, die ihre Zeit nur an einer Fernuniversität für ein Studium einsetzen können. Alle diese Leute versprechen sich von einer fundierten, wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Philosophie eine echte Erweiterung des Horizonts, in dem sie jeweils stehen, und natürlich auch zuverlässige Antworten auf elementare Fragen, die sie sonst nicht finden.

Du verstehst dich als ein gläubiger Christ, der sein Leben und seinen Glauben an der Bibel und den evangelisch-reformatorischen Bekenntnisschriften ausrichtet. Bitte schildere unseren Lesern kurz deinen Weg zum Glauben an Jesus Christus. Welche Bedeutung hat der christliche Glaube für deine philosophische Arbeit?

Eine alte Philosophentugend lautet: „De nobis ipsis silemus – Wir schweigen von uns selbst!“ Ich bin in der Tat davon überzeugt, daß diese Regel, wenn man sie ernst nimmt, enorm dazu beitragen kann, den Blick klar auf die Sache gerichtet zu halten und den vielen Versuchungen unseres hochgradig narzißtisch gestörten Zeitalters eben nicht zu erliegen. Trotzdem will ich die Frage nicht unbeantwortet lassen. Ich erinnere mich an ein kleines Erlebnis aus meinem dritten Schuljahr: Um die Klasse für den Religionsunterricht aufteilen zu können, fragte die Lehrerin der Reihe nach durch die Bänke: „Bist du katholisch oder evangelisch?“ Als ich an der Reihe war, sagte ich laut und nicht eben verlegen: „Ich bin Mennonit!“ Die Lehrerin war verblüfft, schaute mich zuerst ganz ratlos an und rettete sich dann in die Frage: „Und … und was habt ihr da für ein Gesangbuch?“ „Das kann ich morgen mitbringen!“ war meine Antwort, ich brachte es ihr dann auch am nächsten Tag. In der Tat denke ich, daß mir die Herkunft aus einer traditionsreichen Freikirche sehr früh beigebracht hat, daß es christlich überhaupt nichts Besonderes ist, auch ganz alleine zu stehen und nicht nach dem Strom der toten Fische zu schielen. Was Kierkegaard mit der „Kategorie des einzelnen“ meinte, die wieder zu erwecken sei, habe ich schon als Gymnasiast verstanden, als ich ihn intensiv las. Am Ende der Gymnasialzeit habe ich dann meine Lehrer, die mich bereits für die Fächer Physik, Chemie und Zahnmedizin verplant hatten, mit der Ankündigung regelrecht schockiert, ich wolle Theologie und Philosophie studieren. Ich habe das dann auch ohne Zögern getan, und zwar mit Sondergenehmigung beider zuständiger Dekane im Simultanstudium, was ich nie bereut habe.

Was beide Fächer zusammen für mein Studium bedeutet haben, kann ich in folgender Formel zusammenfassen: Ich war aus theologischen Gründen gegen jede Art ideologisch werdender Philosophie gefeit, und ich habe zugleich mit philosophischen Mitteln sehr schnell und sehr klar die Ideologien durchschaut, die von theologischen Kathedern im Gewande theologischer „Wissenschaft“ verkündet wurden. Als beispielsweise eine berühmte Tübinger „Koryphäe“ in der Systematischen Theologie ihren Satz breittrat: „Wahr ist, was das Leben wahr macht“, erwachte der bereits philosophisch geschulte Theologe in mir, und ich ging nach der Vorlesung gleich nach vorne, um dem Herrn Professor freundlich mitzuteilen, daß er uns offenbar ein psychologisches Wahrheitskriterium, d.h. einen pragmatischen Wahrheitsbegriff habe unterjubeln wollen, was meines Erachtens in der Theologie aber gar nicht gehe. Der hochdekorierte Mann drehte sich auf dem Absatz um und hat mehrere Semester mit mir, dem kleinen Studenten, kein Wort mehr gewechselt – was mich freilich nicht nur bestätigt, sondern auch amüsiert hat. Übrigens habe ich mich im Theologiestudium insbesondere durch die kirchengeschichtlichen Lektüren von der Patristik bis zur Reformation zum lutherischen Bekenntnis hin entwickelt.

Seit deinem Einsatz für den EAD in den 90er Jahren beobachtest du den Weg der evangelischen Kirche in Deutschland mit Sorge und deutlicher Kritik. Wenn du ein Zwischenfazit der letzten 30 Jahre ziehen solltest, was würdest du sagen? Was rätst du evangelischen landeskirchlichen Christen, die am ethischen Kurs und aktuell an der Gendertheologie der EKD verzweifeln?

Um ehrlich zu sein: den Weg der EKD beobachte ich nicht mehr, ich habe für Dinge, die gar keinen brauchbaren Inhalt mehr haben, gar keine Zeit. Die kirchensteuerfinanzierten Religionsbehörden sind seit geraumer Zeit wirklich nichts anderes mehr als Vorfeldorganisationen des linken politischen Establishments. Es wäre ein fataler Fehler, ihnen gegenüber noch irgendwelche theologisch-geistlichen Kategorien anzulegen. Wenn heute Theologieprofessoren öffentlich bekunden, „Kirche“ müsse mit den Mitteln der Luhmannschen Systemtheorie über ihre gesellschaftliche Funktion definiert werden oder sie sei im Sinne Wittgensteins ein „Sprachspiel“ wie viele andere auch, ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Evangelischen Christen kann ich nur raten, sich in Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ immer neu zu üben und dabei nicht zuletzt auch alle falsche Befangenheit in Traditionen, alle Autoritätsgläubigkeit gegenüber Religionsbeamten abzulegen. Ansonsten empfehle ich ihnen die SELK.

Du hast dich in einem Aufsatz mit dem Titel „Auf dem Weg in den totalen Staat“ (Herder Korrespondenz Mai 2020) sehr kritisch mit dem Suizid-Urteil des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt. In der dort im Namen der Selbstbestimmung verfügten Freigabe der Selbsttötung siehst du eine ungeheure Anmaßung des Staates. Bitte erkläre unseren Lesern die Gründe für deine Einschätzung. Mittlerweile haben sich führende evangelische Theologen für den sog. assistierten Suizid sogar in kirchlichen Einrichtungen ausgesprochen. Wie muss man aus der Sicht christlicher Philosophie diesen unerhörten Vorgang bewerten?

Beginnen wir mit dem unmittelbaren Anlaß und Zweck des Urteils – der Name des Gegenstands, um den es hier geht, benennt die Sache in schnörkelloser Brutalität. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2020 über die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ zu befinden – und hat diese dann erlaubt. Schon der Begriff „Förderung der Selbsttötung“ kann für jeden wahrhaft sittlich denkenden Menschen nur ein riesiges Stoppschild aufstellen, weshalb die Fassung des § 217 des Strafgesetzbuches von 2015, die eine solche Förderung für den Fall freigegeben hatte, daß sie ohne Gewinninteresse erfolgte, bereits der Anfang der schiefen Ebene war – das haben damals nicht wenige auch sehr deutlich gesagt. Neu ist jetzt, daß es erlaubt ist, an der Mitwirkung bei einer Selbsttötung auch Geld zu verdienen, was natürlich auch „kirchlichen Einrichtungen“ nicht verboten ist, die offensichtlich auch gleich in diese Richtung zu denken anfangen.

Neben der monetären Seite hat die Sache jedoch auch noch ganz andere Dimensionen. Eine dieser Dimensionen ist, daß der Staat hier das Recht zu töten bzw. an einer (Selbst-)Tötung mitzuwirken, ja aus ihr Gewinn zu ziehen, an Private delegiert. Damit ist ein ehernes Prinzip der europäischen Rechtstradition über den Haufen geworfen worden: das Prinzip nämlich, daß kein Unschuldiger von Rechts wegen getötet werden darf. Das Töten wird statt dessen zu einer „regulierten“ und deshalb auch „regulären“ sozialen Praxis erhoben, es wird im Umgang der Bürger miteinander normalisiert. Das Perfide daran ist ein Doppeltes:

Erstens, auch der Staat selbst durfte – so schon nach dem römischen Recht – keine Unschuldigen töten; nur in Fällen der Verteidigung der Rechtsordnung als solcher (im Krieg, in der Anwendung der Todesstrafe bei erwiesenem Kapitalverbrechen und bei der Notwehr) war staatliches Töten zulässig. Jetzt aber vergibt der Staat Lizenzen zum Töten an die Bürger, ja sogar an entsprechend geschäftstüchtige Bürger, und baut sich eben damit im Hintergrund in ganz neuer Weise als ein Herr über Leben und Tod auf, der er so vorher niemals war.

Und zweitens, das Ganze geschieht unter der Maske, der Staat wolle die „Autonomie“ der Bürger fördern – was wiederum in mehrfacher Hinsicht höchst irreführend ist. Zum einen hat Immanuel Kant, der Vater des Autonomiebegriffs, seinen Lesern eindringlich eingeschärft, daß weder die Tötung eines Menschen noch die Selbsttötung ein „autonomer“ Akt sein könne. „Autonomie“ bedeutet „Selbstgesetzgebung“, d.h. das Aufstellen einer vernünftigen Regel, der sich alle Vernunftwesen aus Vernunftgründen unterordnen können. Die Tötung eines Menschen begeht aber, so Kant, den Widerspruch, ein Vernunftwesen auszulöschen und diese Negation von Vernunft für vernünftig zu halten. Aus der Selbstmordforschung wissen wir zudem, daß die allermeisten der jährlich etwa 100 000 Personen, die in Deutschland einen Selbstmordversuch begehen, alles andere als eine „freie Entscheidung“ treffen. Ihr Entschluß ist in aller Regel nichts anderes als Ausdruck von Verzweiflung, von rundherum scheiternder Kommunikation, ist eher ein Hilferuf als eine Aussage.

Ein anderes großes Problem ist der Versuch des Verfassungsgerichts, auf im Wortsinn halsbrecherischem Wege ein „Recht“ auf die Selbsttötung aus dem deutschen Grundgesetz abzuleiten, was bisher mit guten Gründen immer abgelehnt wurde. Niemand verfüge über sein Leben wie über einen äußeren Besitz, sagt Hegel; der Mensch „hat“ kein Leben, er lebt es; es aufheben, heißt eine Person aufheben – dazu aber kann es kein „Recht“ geben, da wahres Recht die Personengemeinschaft aufrichten, nicht sie zerstören will. Übrigens habe ich dieser Tage den ersten Entwurf zur Zulassung der aktiven Sterbehilfe Euthanasie in Deutschland gelesen. Das war abzusehen und liegt in der „Logik“ des Karlsruher Entscheides.

Georg Friedrich Wilhelm Hegel hatte im letzten Jahr seinen 250. Geburtstag. Du hast 2004 eine umfangreiche Darstellung seines Denkens veröffentlicht (2020 in 4. Aufl. erschienen). Im Vorwort bezeichnest du die Philosophie „als das größtangelegte Geschäft des menschlichen Geistes“. Wenn ich demgegenüber an Heinrich Kemners Wort denke, dass man mit dem menschlichen Intellekt „alles beweisen, alles erklären und alles entschuldigen“ kann, und dann auf Paulus höre, der in 1 Kor 2 einiges über die Begrenztheiten des menschlichen Geistes sagt, bin ich doch etwas zurückhaltend im Blick auf die Möglichkeiten der Philosophie. Liege ich da falsch?

Diese Frage ist enorm komplex und müßte eigentlich mit einer ganzen Vorlesung beantwortet werden. Ich beginne mit einer entscheidenden Vorerinnerung, die ich eben der Sache nach schon gestreift habe: Philosophie, die über sich selbst aufgeklärt ist, weiß, daß sie dem Menschen keinen Heilsweg anzubieten hat; tut sie es dennoch, wird sie zu bloßer Weltanschauung, zur Ideologie. Es gibt kein „philosophisches Evangelium“, keine Vergebung von Schuld durch Philosophie, keine Versöhnung auf das ewige Leben hin. Das ist das eine. Was sodann die Vielfalt der philosophischen Stimmen betrifft, die es in der Tat gibt, gilt: Es ist nicht das gleiche, ob ich Rationalist oder Skeptiker, durch Kant geprägter Pflichtethiker oder Nutzenmaximierer, Vertreter der Gottesbeweise nach Thomas von Aquin oder postmoderner Relativist bin. Hier gilt zunächst das Wort Fichtes: Was für eine Philosophie man wählt, zeigt, was für ein Mensch man ist. Und in der wissenschaftlich betriebenen Philosophie geht es dann natürlich auch um die besseren Argumente, um die Frage nach der überlegenen Position.

Wenn man dieser Frage ernsthaft nachgeht, hört die Beliebigkeit sehr schnell auf. Übrigens haben von Justin dem Märtyrer im 2. Jh. nach Chr. an Theologen immer wieder den Anspruch erhoben, die „eigentlichen“ Philosophen zu sein – denn wenn „in Christus alle Schätze der Weisheit (sophia) und der Erkenntnis verborgen liegen“ (Kol 2,3), dann sind natürlich diejenigen, die Christus lieben, auch die Liebhaber der wahren Weisheit, d.h. Philosophen. Ein Wort noch zu Hegel: Günther Rohrmoser hat ein größeres Publikum immer wieder daran erinnert, daß Hegel der bislang letzte große Philosoph gewesen ist, für den ein positives Verhältnis zum Christentum selbstverständlich war. Bei Hegel ist das Christentum „die absolute Religion“, ist Europa mit seiner Wertschätzung der Freiheit und seinem Prinzip Menschenwürde ohne das Christentum nicht denkbar. Und was mit das Interessanteste ist: Hegel rät den Theologen seiner Zeit, alle Dinge lieber im Lichte der eigentlich christlichen Lehren wie denjenigen von der Dreieinigkeit oder den zwei Naturen Christi zu sehen als im Licht ihrer nicht wirklich wichtigen „Gefühle“. Nur so können Glaube und Wahrheit zusammengehen und beide ihre befreiende Kraft entfalten.

Du begleitest nicht nur Kirche und Theologie kritisch, sondern auch unser Staatswesen. Unter Berufung auf Hegel sagst du, dass der Staat das Vertrauen seiner Bürger braucht und dieses Vertrauen nur erhält, wenn er sich als Rechtsstaat verhält. Gegenwärtig schränkt unser Staat die Grundrechte massiv ein. Es gibt nicht wenige Christen, die unter Berufung auf Röm 13 ein solches staatliches Handeln akzeptieren. Wo liegt die Grenze christlicher Unterordnung unter die Obrigkeit?

Röm 13 lehrt, daß eine Obrigkeit sein muß, um das äußere Zusammenleben der Menschen vor Willkür aller Art zu schützen und das Gute zu befördern. Der Staat ist in diesem Sinne nach der Überzeugung Luthers wie auch Hegels, der sich übrigens als Lutheraner verstand, der Garant des Rechts, ja in gewisser Weise das existierende Recht selbst und insoweit gerade auch von Christen zu achten und tätig zu unterstützen. Es gibt jedoch zwei Grenzen für eine Unterordnung des zur Freiheit geborenen Menschen unter den Staat: einmal diejenige, die die „clausula Petri“ (Apg 5,29) zieht – „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ Dann aber auch diejenige, die wirksam wird, wenn der Staat offen und bewußt gegen seine schöpfungsgemäße Bestimmung verstößt, also gerade nicht das Recht, sondern das Unrecht fördert, nicht vor Willkür schützt, sondern selber willkürlich handelt. Ein Alarmsignal in diesem zweiten Sinne ist immer dann gegeben, wenn sich ein Staat durch die Ausrufung des „Ausnahmezustands“ von der Bindung an das Recht suspendiert und dabei je länger je mehr die Machtstaatlichkeit an die Stelle der Rechtsstaatlichkeit tritt. Nach biblischem Zeugnis hat Gott das Recht lieb, nicht die Tyrannen. Die Herrschaft der Tyrannen beruht auf Furchteinflößung, die des Rechts auf Vertrauen. Hegel sagt, daß nur die letztere Form der Herrschaft auf Dauer Bestand haben kann.

Beim letzten Regionaltreffen des GHB in München haben wir über das Phänomen des Zeitgeistes nachgedacht. Bei vielen Christen hat der Begriff ein negatives Vorzeichen. Aber gibt es nicht auch im Lauf der Kirchen- und Gesellschaftsgeschichte ausgesprochen christliche Prägungen des Zeitgeistes? Ich denke da z.B. an den Schutz der Ungeborenen, für den sich die Christen von Anfang an eingesetzt haben, oder an die Bildungsoffensive der Reformation oder an den diakonischen Aufbruch im 19. Jahrhundert. Was ist das eigentlich, der Zeitgeist?

Begriffsgeschichtlich gesehen lassen sich drei verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs „Zeitgeist“ feststellen: eine neutrale, eine positive und eine negative. Neutral ist zum Beispiel die Verwendung in den Kulturwissenschaften, wenn diese davon sprechen, daß verschiedene Zeiten einen verschiedenen „Geist“ gehabt haben – der Geist der Romanik ist sichtbar und hörbar ein anderer als der des Barock – Gregorianik klingt eben nicht wie Bach. Positiv gedeutet ist dagegen etwa jener „Zeitgeist“, den Friedrich Hölderlin in einer gleichnamigen Ode aus dem Jahre 1800 auch den „Gott der Zeit“, den „Vater“ nennt, der zu Taten anfeuert – „Zeitgeist“ ist dann das hier und jetzt Motivierende, und zwar zu großen Dingen. Dagegen ist der heute meist vorherrschende Begriff von „Zeitgeist“ der Begriff eines fremdbestimmten Denkens, das sich nicht mehr die Mühe macht, einen eigenen Gedanken zu denken, sondern einfach den öffentlich gerade herrschenden Vorstellungen folgt, welche diese auch seien. Wenn Kierkegaard einmal gesagt hat, daß wir nicht „Zeitungen“ brauchen, sondern „Ewigungen“, dann erinnert er auch daran, daß der „Zeitgeist“ immer ein vergänglicher ist. Christen, auch wenn sie natürlich in der Zeit leben, sollten sich nicht durch diese Zeit fremdbestimmen lassen, sondern umgekehrt das Licht der Ewigkeit in die Zeit hineintragen – dann kann die Zeit eben auch durch christliches Wissen wie das um die Würde des Menschen, den Sinn des Rechts, die Schönheit der Schöpfung bestimmt sein.

Das Schweigen der großen Kirchen zur Coronaplage enttäuscht viele Christen. Außer viel Verständnis für die staatlichen Restriktionen kann man nicht viel hören. Dabei wäre Luthers Sermon von der Zubereitung zum Sterben von 1519 eigentlich ein gutes Vorbild für ein seelsorgerliches Wort. Aber auch sonst gibt es kaum Versuche, Gottes hintergründiges Handeln bei dieser Plage zu deuten. Kann eine christliche Philosophie hierzu etwas sagen?

Interessanterweise sind auch viele Nichtchristen, so auch unter meinen Fachkollegen, über das in der Tat dröhnende Schweigen der Kirchen zu den verschiedenen Facetten von „Corona“ verblüfft, wenn nicht darüber enttäuscht. Wenn es schon für den Staat ein Armutszeugnis ist, wenn er die Menschen nur noch mit medizinisch-technischem Blick betrachtet und ihm außer „Warn-Apps“, Testungen und Impfungen nichts einzufallen scheint, ist es eindeutig noch viel schlimmer, wenn auch die Kirchen den Menschen und seine Lebensvollzüge nur noch als biologisches Wesen, als Fleisch und unter dem Aspekt der Volksgesundheit zu kennen scheinen. Wenn beim Abendmahl das eigentliche „Realpräsente“ die „Infektionsgefahr“ ist, wenn Altenheimbewohner auch „kirchlicher“ Altenheime gnadenlos isoliert und noch im Sterben alleingelassen werden, wenn die Seelen im „Lockdown“ geschlagener, ja mißbrauchter Kinder nichts mehr zählen, könnte es sogar sein, daß die Kirchen heimlich, still und leise ihren Platz einer neuen „Gesundheitsreligion“ geräumt haben, mit der sie gar nicht erst konkurrieren wollen.

Der eher dem linken Lager zuzuordnende, weltweit bekannte italienische Philosoph Giorgio Agamben hat in der „Neuen Zürcher Zeitung“ daran erinnert, daß es sehr merkwürdig sei, wenn gerade das Christentum, das früher nie den Kontakt zu Kranken gescheut habe, heute auch bei Gesunden das „social distancing“ praktiziere, weil irgendjemand ja doch ansteckend sein „könnte“. Sehr tiefsinnig scheint mir Agambens Einsicht zu sein, daß wir am Beginn der Ära einer neuen „Gesundheitspflicht“ stehen könnten, in deren Zeichen der christliche Gedanke, daß zur Gottebenbildkeit auch das Kranke, Leidende und Schwache am Menschen gehört, keinen Platz mehr haben wird. Zu Luther nur so viel: als 1527 in Wittenberg die Pest ausbrach, hat er sich geweigert, die Stadt zu räumen, da er gebraucht würde. In einem Brief lesen wir: „Wenn ich die Pest gleich tausend Mal an meinem Leibe hätte, will ich mich darum nicht zu Tode fürchten; denn ich habe Christus, ist es sein Wille, so soll mir die Pest weniger schaden als ein Floh unter meinem Arm; der frißt und sticht wohl ein wenig, er kann mir aber das Leben nicht nehmen. Aber weil wir nicht glauben und solche geistlichen Augen nicht haben, kommt es, daß wir uns so fürchten und verzagen und in so närrische Gedanken geraten. Alles Unglück, wie groß es vor deinen Augen ist, ist vor unserem Herrn Christus weniger denn nichts.“ Dazu noch folgender Hinweis: die Letalität, d.h. die Sterblichkeit im Falle der Pestinfektion, liegt unbehandelt zwischen 50 und 90%, bei moderner Behandlung immer noch bei 15 %. Die Letalität einer Covid19-Erkrankung beträgt etwa 0,2%.

Zum Schluss noch einige persönliche Fragen und eine Bitte um ein seelsorgerliches Wort: Wie deutest du unsere Zeit? Bewegen wir uns auf eine Welteinheitsregierung zu? Siehst du endgeschichtliche Anzeichen? Und: welchen Rat gibst du Christen, die angesichts der antichristlichen Tendenzen in unserer Gesellschaft verzagt sind?

Das sind erneut keine ganz kleinen Fragen. Generell denke ich, daß unsere Zeit trotz ihres prahlerischen Wesens sehr viel fragiler ist, als man gemeinhin unterstellt. Wir haben es inzwischen in vielen Bereichen von der Kultur bis zur Wirtschaft, von der politischen Ordnung bis hin zur öffentlich organisierten Religion mit Kartenhäusern zu tun, die plötzlich zusammenstürzen können. Was die Welteinheitsregierung betrifft, ist es ein mehr oder weniger offenes Geheimnis, daß es starke Treiber in diese Richtung gibt und entsprechende Ziele auch immer unverhohlener kommuniziert werden. Neu in unserer gegenwärtigen Situation scheint mir zu sein, daß es erstmals eine bislang unvorstellbare Allianz von globalem Finanzmarktkapitalismus und marxistischer Ideologie gibt, die beide nicht nur die Digitalisierung als Instrument ihrer Machtsicherung verstehen und einsetzen, sondern auch ein gemeinsames Interesse an der Unselbständigkeit der Menschen und aller Formen ihrer Selbstorganisation – von der Familie über den Nationalstaat bis zur religiösen Gemeinschaft – haben.

Wenn ich selbst in dieser Hinsicht dennoch nicht nur pessimistisch bin, dann aus zwei Gründen. Der eine Grund ist, daß sowohl der Finanzmarktkapitalismus wie der Marxismus und vergleichbare Ideologien davon abhängig sind, daß reale Menschen in realen Welten für sie arbeiten und produktiv sind, während alles, was sie selbst erzeugen können, Produktivitäts- und Motivationshemmer für den einzelnen sind – schon Aristoteles etwa hat davon gesprochen, daß das, was wir heute „Finanzwirtschaft“ nennen, unnatürlich und deshalb auch verderblich sei.

Den anderen Grund finde ich bei Hegel, der lehrt, daß das Wesen der Geschichte darin besteht, die Absichten der Menschen in Beziehung auf das „Machen“ von Geschichte in ihr Gegenteil zu verkehren. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß ein forcierter Globalismus ganz neue Formen des Partikularismus hervorbringt, dafür gibt es sogar schon manche Anzeichen. Insofern könnte sich der erneute Versuch, den Turm von Babel zu bauen, auch wieder von selbst erledigen. Für sehr gefährlich halte ich inzwischen allerdings die Visionen des sogenannten „Transhumanismus“, die menschliche Spezies technisch und pharmakologisch zu „optimieren“. So bemitleidenswert naiv viele der hier leitenden Ideen auch sind – etwa die Idee, eine persönliche Identität digital vollständig zu reproduzieren, sie auf einer Festplatte zu speichern und ihr auf diesem Wege Unsterblichkeit zu verleihen –, so ernstnehmen muß man doch die Tatsache, daß gerade Technologie-Giganten wie „Google“ Jahr für Jahr Milliardenbeträge in Projekte investieren, deren Ziel die Verschmelzung von Mensch und Maschine und dabei zum Bespiel das elektronische Auslesen von Gedanken ist.

Leider wird eine Menschheit, die sich selbst schon lange freiwillig mehr in der digitalen als in der wirklichen Welt aufhält, dem kaum etwas entgegenzusetzen haben, wie sie möglicherweise auch schon länger kaum noch bemerkt, daß sie statt aus „festen Menschen“ nur noch aus durchsichtigen, substanzlosen Schatten besteht (um ein Bild aufzugreifen, das C. S. Lewis in seinem Buch „Die große Scheidung“ gebraucht). Mein Rat wäre in dieser Situation, für die eigene Festigkeit Sorge zu tragen: in der Treue zu festen Menschen, in der Treue zum Wort der Schrift, im Leben aber auch aus allen wirklich starken Quellen der Erkenntnis und der Kunst, die der Schöpfer dem Menschengeist ja zu gutem Gebrauch bestimmt hat.

Die Fragen stellte Pastor Dr. Joachim Cochlovius.

Aus: Aufbruch – 1/2021 (März)

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Thomas Sören Hoffmann
Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Eine Propädeutik
Marix-Verlag, Wiesbaden 2020, 4. Auflage, 544 Seiten, 25,00 Euro
ISBN: 978-3-8653-9290-9

Thomas Sören Hoffmann, Marcus Knaup (Hrsg.)
Was heißt: In Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens
Springer-Verlag, Berlin 2015, 328 Seiten, 37,99 Euro
ISBN:
978-3-6580-9776-9