„Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt“ (Johannes 15,19). Diese Ankündigung Christi an seine Gemeinde spricht eine Wirklichkeit an, die von den kirchenleitenden Gremien der evangelischen Landeskirchen in Deutschland wohl eher als Bedrohungsszenario denn als Wesensmerkmal von Kirche wahrgenommen wird. Weder wird eine Distanz zur Welt empfunden noch angestrebt. Der Hass der Welt soll vermieden werden.
Die Ablehnung von Kirche und Glauben scheint dabei in den westlichen Gesellschaften um so mehr zu wachsen, je weiter sich die kirchlichen Aktivitäten den Gegebenheiten in der Welt annähern, je weniger unterscheidbar die Gemeindearbeit von säkularer Sozialarbeit oder politischer Agitation wird. So tragen weite Teile der evangelischen Kirche zur Säkularisierung der Gesellschaft durch eine Selbstsäkularisierung bei.
Fehlentwicklungen der liberalen Theologie
Welche theologischen Weichenstellungen haben zu dieser Situation beigetragen? Um manche Entwicklungen einordnen zu können, eignet sich die Vorrede zu der 1872 in Leipzig gedruckten „Protestanten-Bibel“. Es handelte sich um eine kommentierte Neuausgabe des Neuen Testaments in Verantwortung des 1865 als Dachverband der liberalen Theologie gegründeten Deutschen Protestantenvereins. Wie in vielen älteren Bibelausgaben bezog man sich für das Verständnis der Bibel auf 2. Timotheus 3,16: „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.“ Allerdings ging die lutherische Tradition mit dem biblischen Wortlaut davon aus, dass der Nutzen der Heiligen Schrift durch die Offenbarung Gottes gegeben ist und in den Bereichen Lehre, Zurechtweisung, Besserung, Erziehung erfahrbar wird. Aus der dankbar staunenden Wahrnehmung und dem Bekenntnis wurde in der „Protestanten-Bibel“ eine Wertung bzw. Unterscheidung: Teile der Bibel gelten als relevant, sofern sich deren Nützlichkeit erweisen lässt:
„Selbst zu der Zeit, wo das erst christliche Schriftthum sich schon zu allgemeinerer Bekanntschaft und Würde in der Christenheit erhob, da ist das Ansehen einer jeden ‚gotteingegebenen Schrift‘ begründet allein durch ihre Nützlichkeit zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit.“ (S. XXVII).
Der Nutzen der Bibel und der Kirche steht also nicht fest, was die Verkündigung des Evangeliums aus dem Wesen seiner gleichbleibenden Botschaft heraus motivieren würde, sondern muss – nach dieser Auffassung – erst erarbeitet werden. Bezugspunkt ist dann nicht der Auftrag Gottes, sondern die Gesellschaft bzw. das politische Gemeinwesen, für das sich Kirche nach den Maßstäben des gesellschaftlich-politischen Lebens als nützlich – in Corona-Zeiten könnte man sagen: als „systemrelevant“ – präsentieren muss.
Nutzen für die Gesellschaft – statt Erlösung
Im Hintergrund steht auch der Gedanke einer Zivilreligion, wie ihn besonders präzise der französische Aufklärungsphilosoph Jean-Jacques Rousseau formuliert hat. Er sprach in seinem „Sozialvertrag“ von einem rein staatsbürgerlichen Glaubensbekenntnis und meinte damit die „Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein“. Von Erlösung und ewigem Leben ist weder hier noch in den Konkretionen die Rede, die in dieser „Protestanten-Bibel“ dann genannt werden: „Die Herausgeber der Protestanten-Bibel bekennen sich zu dem Glauben, daß der Anfeindung zwischen Vernunft und Glauben, zwischen Religion und Wissenschaft ein Ende gemacht werden muß, wenn unser Volksleben gedeihen soll“ (S. IX). Das kirchliche Leben soll also zu einem gesellschaftlichen Gedeihen, zum Zusammenhalt, zu einem Funktionieren der politischen Abläufe beitragen.
In dem letzten Zitat werden mit der Spannung von Vernunft und Glauben bzw. Religion und Wissenschaft auch die Bezugsinstanzen theologischer Erkenntnis und Entscheidung angesprochen, an denen sich Kirche, will sie in dieser Weise nützlich für die Gesellschaft sein, abarbeitet. Bereits in der frühen Christenheit gab es Theologen wie z.B. Origenes, die zwischen dem Wortlaut der Bibel und einem tieferen Sinn dahinter unterscheiden wollten. Verfestigt hat sich das Gegeneinander eines zeitlosen und universal gültigen Kerns und einer vermeintlich zeitbedingten Schale in der Theologie allerdings seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Der Mensch als Richter über Gottes Wort
Ging es zunächst um Vereinbarkeit mit der Vernunft, so später um Kompatibilität mit einem politischen System, mit vorherrschenden Ideologien oder mit dem Selbstverständnis sozial definierter Gruppen. Gemeinsam war allerdings allen inhaltlichen Füllungen, dass die Bewegungsrichtung nicht von Gott und seinem Wort zu den Menschen verlief, sondern umgekehrt der Mensch als Richter über Gottes Wort auftrat. Grundsatz des dann „historisch-kritisch“ genannten Unterscheidungsmodells ist bis heute, dass Ereignisse der Geschichte nur linear aus anderen geschichtlichen, innerweltlichen Vorgängen erklärt werden dürfen und mit Wundern, also einem Eingreifen Gottes, nicht gerechnet werden kann.
Charakteristisch für eine solche liberale Theologie ist die Behauptung, Wahrheit sei nicht eindeutig fassbar und von Gott könne nicht direkt oder aufgrund von Offenbarung oder Erfahrung gesprochen werden. Es seien allenfalls symbolische Redeweisen von Gott und seinem Wirken möglich. Alle Geschichtlichkeit, wie sie Gegenstand des Glaubensbekenntnisses ist, wird bestritten. Der Glaube wird in einem ersten Schritt seiner Konkretheit beraubt, bleibt inhaltlich zumindest flexibel und die Beziehung von Gedanken, Begriff und Wirklichkeit wird in der Schwebe gehalten. Mit der Entkonkretisierung wird allerdings in einem zweiten Schritt eine Rekonkretisierung verbunden. Den traditionellen Glaubensinhalten werden, da sie ja zunächst nur einen symbolisch-begrifflichen Status haben, durch Interpretation und Aktion konkrete neue Füllungen verliehen. „Gott“ und seine Heilstaten gewinnen dann Wirklichkeit in dem, was die Menschen bzw. die Kirche daraus machen.
Zentral ist die Diskussion darüber, was mit dem Evangelium als „viva vox“, also als einer lebendigen Stimme gemeint sei (Luthers Werke, Epistel Petri gepredigt und ausgelegt, 1523, Weimarer Ausgabe 12, S. 259). Die Reformation bekannte sich zur Wirksamkeit (efficacia) der Heiligen Schrift aus ihrem Wesen als Wort Gottes heraus. Durch das Predigtamt wird, so heißt es im fünften Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses, Evangelium und Sakrament gegeben, wodurch als Heilsmittel der Heilige Geist gegeben wird, der dann, „wo und wann er will“ den Glauben bei denen bewirkt, die das Evangelium hören. Die liberale Theologie legt hingegen alles Gewicht auf die Predigt als Interpretation bzw. Aktualisierung, durch die der eigentliche Gehalt des Evangeliums erst je neu Gestalt gewinne. Nicht der Heilige Geist, sondern der Mensch, der sich als Ausleger auf Gegebenheiten der Situation und gesellschaftliche Erfordernisse bezieht, ist dann das handelnde Subjekt. Dadurch kommt es zu einer fast unbegrenzten Anpassungsfähigkeit der evangelischen Kirche und es entstehen Anknüpfungspunkte für jedwede säkulare Weltanschauungen.
Wenn Moral an die Stelle des Evangeliums tritt
Für die evangelischen Landeskirchen in Deutschland wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der theologische Ansatz Karl Barths besonders einflussreich. Im Unterschied zur lutherischen Theologie lehnte Barth die Unterscheidung und den gleichzeitigen Wechselbezug von Gesetz und Evangelium ab. Vereinfacht ausgedrückt ging Barth von einer Versöhnung der Welt mit Gott als bereits erreichtem Zustand aus, der zeichenhaft im Tun der Kirche bezeugt werden sollte. In der Gemeindearbeit geht es dann darum, dem Evangelium gemäße Strukturen in der Welt zu schaffen. Gerade der späte Barth hielt sich in konkreten Lösungsvorschlägen für tagespolitische oder auch programmatische Grundsatzfragen der Politik keineswegs zurück. Da Kirche und Welt als vom Evangelium durchdrungen, als bereits jetzt von Christus beherrscht betrachtet wurde, wurden sämtliche politischen Fragen zu Ausdrucksformen des Evangeliums. Der Predigt im Gottesdienst kommt dann die Aufgabe zu, die bereits angelegten weltlichen Gestaltungsformen des Evangeliums aufzudecken, beim Namen zu nennen und mit dem apodiktischen Wahrheitsanspruch des Evangeliums als einzig zulässige Option zu verkünden. Das Evangelium nimmt gesetzliche Gestalt an, ist Zuspruch nur in Form des Anspruchs. Dies erklärt den Moralismus führender Vertreter der EKD, die fern jeglicher differenziert agierender Realpolitik ganz bestimmte tagespolitische Entscheidungen für die einzig legitimen erklären (z.B. aktuell im Umgang mit der Seenotrettung im Mittelmeer).
Während die Argumentation der Reformatoren stets den Rückbezug auf die Heilige Schrift gegen eine Neben- oder gar Vorordnung der (kirchlichen) Tradition betonte, kamen mit der Problematisierung des Schriftprinzips in der evangelischen Kirche neue Formen von Tradition ins Spiel. Das ist immer dann der Fall, wenn auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, die Bibel in ihrem Zeitkontext verstehen zu müssen, von dem man die heutige Zeit mit ihren neuen Erkenntnissen zu unterscheiden habe. Man differenziert dann nicht nur zwischen zeitlosen und vermeintlich zeitbedingten Teilen der Bibel, sondern meint, bei der Entstehung der Bibel nicht Gott, sondern kulturelle Konstellationen und soziologische Machstrukturen als maßgeblich herausstellen zu müssen. „Heute“ müsse man auf die neuen Erkenntnisse „der“ Wissenschaften Bezug nehmen und von dorther Sachkritik an der Bibel üben.
An die Stelle der Rechtfertigung tritt politische Korrektheit
Bemerkenswert ist dabei, dass das jeweils für anstößig Gehaltene in der inhaltlichen Füllung ebenso wechselt wie die Leitwissenschaften, an denen man sich zu orientieren hätte. So war erst die Philosophie mit ihrem rationalen Ansatz der Bezugsrahmen, dann waren es die Naturwissenschaften bis hin zur Rassenlehre bei den dem Nationalsozialismus nahestehenden Theologen, schließlich die Sozialwissenschaften und die damit verknüpfte Geschlechterforschung.
Insbesondere seit den 1960er Jahren wird die Bibel als Machwerk von Vertretern unterschiedlicher Varianten eines Unterdrückungssystems betrachtet. Weil man in Inhalt und Formulierung der Bibel den Ausdruck der Interessenpolitik bestimmter – dafür zu kritisierender – Kreise und Gruppen zu finden meint, sehen sich manche legitimiert, ihre eigenen Interessen in die Neuinterpretation bzw. Neuformulierung der Bibel einfließen zu lassen. Die Bibel gilt in ihrer herkömmlichen Form als nicht relevant, ja gefährlich. Die Bibel wird dann durch Selektion, Neudeutung und teilweise Neuformulierung (etwa in der „Bibel in gerechter Sprache“) relevant und nützlich gemacht, um für den Interessenkampf bestimmter sozial definierter Gruppen zu motivieren. Während die Reformation zwischen Glaube und Unglaube, Wort Gottes und Tradition unterschied, kommt es gegenwärtig im kirchlichen Raum zu neuen Unterscheidungen, ja Feindbildern. Es geht dann nicht um Glaube, sondern um (politische) Gesinnung, nicht um eine Gemeinschaft der Glaubenden, sondern um Mitstreiter in einem für gerecht gehaltenen Kampf. An die Stelle der Rechtfertigung aus Glauben tritt die politische Korrektheit und an die Stelle des Gerichts Gottes die für notwendig gehaltene Ausgrenzung und Tabuisierung abweichender Meinungen.
In Deutschland könnte eine Station auf dem Weg zur Vorherrschaft einer auf das Diesseits fixierten Theologie auch in der Ablösung des landesherrlichen Kirchenregiments durch die Volkskirchenstruktur in einem demokratischen Gemeinwesen nach dem Ersten Weltkrieg gelegen haben. Luthers unbestreitbare Nähe zur fürstlichen Obrigkeit war vor allem darin motiviert, das Evangelium vor einer Überfrachtung durch irdische Angelegenheiten zu bewahren, es nicht zu verweltlichen und dadurch stumpf zu machen. Deswegen würdigte er die staatliche Macht, gerade insoweit sie nicht von kirchlichen Würdenträgern, sondern von weltlichen Amtsträgern ausgeübt wurde. Auch in Ausübung eines solchen Amtes sollte ein Dienst für Gott möglich sein, allerdings für Gott als Schöpfer und Erhalter, nicht als Erlöser. Die Zwei-Reiche-Lehre unterschied staatliche und kirchliche Aufgaben, entließ den Staat aber nicht in eine Autonomie, in der ohne Normen und Werte oder Verantwortung gehandelt werden dürfte. Vielmehr handelte es sich nach Luthers Verständnis um zwei von Gott eingesetzte Regimente, in den Gott in je spezifischer Weise durch menschliche Werkzeuge handelte. Die Fürsten sollten sich dabei aber gebunden wissen an Gottes Wort und Willen, wie das in den Zehn Geboten oder in Institutionen, die der Schöpfung eingestiftet wurden (z.B. Ehe), artikuliert ist.
Mit dem Wechsel der Staatsform hätten Formen einer Bindung an Gott auch für das demokratische Staatswesen gefunden werden können. Faktisch ersetzte aber die Gesellschaft die Fürsten und sah sich nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche als legitimiert an, das zu definieren, was des Volkes Wille sein sollte. So erhöhte sich mit zunehmender Pluralisierung der Gesellschaft der Druck auf die evangelische Kirche, die Strukturen der Gesellschaft nicht nur soziologisch, sondern auch inhaltlich in der Volkskirche abzubilden. Die Kirche soll dann zwischen verschiedenen Interessen vermitteln, jedem Individuum und jeglicher Gruppe Angebote durch entsprechend zugeschnittene Amtshandlungen machen. So findet das Dominanzstreben einzelner gesellschaftlicher Gruppen eine Fortsetzung in der Kirche, ja wird durch bewusste Parteinahmen noch unterstützt.
Gewissensschärfung oder Parteinahme?
Damit wiederum hängt ein letzter Aspekt zusammen. Die reformatorische Theologie ging davon aus, dass Amtsträger als Einzelpersonen anders handeln, wenn sie gläubig sind, von Gott in ihrem Charakter verändert wurden, sich Gott gegenüber verantwortlich wissen. Die politische Aufgabe der Kirche besteht dann v.a. in der Gewissensschärfung, die mit der vollumfänglichen Verkündigung der authentischen biblischen Botschaft einhergeht. Strukturen und Missstände in deren Umsetzung verändern sich dann, wenn veränderte Menschen in ihnen handeln, sich dem mit der Einsetzung durch Gott verknüpften Ursprungssinn der Institutionen verpflichtet fühlen.
Dagegen führt die Dominanz sozialwissenschaftlicher Deutungsansätze der Wirklichkeit in weiten Teilen der evangelischen Kirche dazu, dass der reformatorische Ansatz in seiner Stoßrichtung umgedreht wird: Man setzt alles auf die Veränderung politischer Strukturen und Systeme und will dadurch einen anderen, den neuen Menschen schaffen. Die Anfälligkeit für ideologische Utopien, die auch einen neuen Menschen und eine bessere Welt zu schaffen vorgaben, hat sich im Verhalten der evangelischen Kirche in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts hinlänglich erwiesen. Eine Besinnung auf das Wort vom Kreuz, das ein Kontrastprogramm zu innerweltlichen Erlösungsansätzen darstellt, wäre da hilfreich gewesen!
Dr. Christian Herrmann, Leonberg
Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
Quelle: Arbeitskreis Bekennender Christen in Bayern e.V., ABC-Nachrichten 2021/1