Wir erschaffen uns neu
Donnerstag 15. Juni 2006 von Rheinischer Merkur
Günter Seubold
Wir erschaffen uns neu
In der neuzeitlichen Humantechnologie wird der Mensch sein eigener Schöpfer, sein Gott. Daran sind nicht nur die biologischen und medizinischen Technologien beteiligt. Die Geisteswissenschaften, das Gesundheitssystem, die Medizin, das ärztliche Handeln, die Massenmedien, sie alle entwerfen ein Bild vom Menschen. Deshalb soll der Begriff der Humantechnologie die Gesamtheit der Kräfte beschreiben, die den Menschen heute formen und formatieren und damit die Rolle Gottes einnehmen, von dem es am Anfang der Bibel heißt: Er schuf den Menschen zu seinem Bild.
Bei dieser Übernahme der Bildnerrolle vollendet sich auch die Zwitternatur des Menschen aus Animalität und Rationalität, wie sie der griechische Philosoph Aristoteles noch unterschieden hatte. Sie wird aufgelöst. Das Rationale ist das Animale: Geist wird auf das hirnphysiologische Geschehen reduziert, ist nur noch das Schießen der Neuronen. Seelische Konflikte? Verschreiben wir Prozac, die Glückspille. Der Mensch, das sind seine Gene. Alles hat eine körperliche Ursache. Glaube besteht aus Stromstößen in den Schläfenlappen. Betende Franziskanerschwestern und meditierende buddhistische Mönche werden in den Kernspin-Tomographen geschoben, um der Religion auf die Spur zu kommen. Auf Tagungen zum Thema „Wie funktioniert das Gewissen?“ wird nach neurobiologischen Abläufen gefragt.
Die Stammzelltherapie verspricht eine Überwindung bisher unheilbarer Krankheiten. Diese Therapie hat freilich einen „Schönheitsfehler“: Um an embryonale Stammzellen zu kommen, muss man Embryonen töten. Ist das erlaubt? Die einen sagen ja, die anderen nein, auf keinen Fall. Die Frage entzündet sich daran: Sind das schon „richtige“ Menschen? Besitzen Embryonen schon die Menschenwürde, die „volle“ Menschenwürde, oder doch noch nicht? Anders formuliert: Geht die Stammzelltherapie über Leichen?
Wenn man denn von einer Mobilmachung der Humantechnologien heute sprechen kann – wobei der Begriff zunächst wertfrei ist, denn es gibt ja auch die Mobilmachung für etwas Gutes –, dann kann man bei der „verbrauchenden Embryonenforschung“ wohl vom „totalen Krieg“ sprechen.
Mit der Autonomisierung verliert der Mensch Gott als seinen Schöpfer und zugleich als sein Ur-Bild. Sich als Abbild einer höheren Macht zu verstehen war ein Akt der Bescheidenheit. Mit dem Verlust dieses Abbilds beginnt eine Anmaßung.
Das Überschreiten von Grenzen, das vor allem den abendländischen Menschen bestimmt hat und noch bestimmt, konstituierte den Fortschritt in der Geschichte. Dass dieses Überschreiten aber nicht aus dem Ruder lief, dafür sorgte die Bescheidenheit vor Gott. Solange sich der Mensch als Abbild und Geschöpf einer überirdischen Idee und Instanz erfuhr, solange war eine Mäßigung vorhanden.
Genau diese Mäßigung aber fehlt unserer Zeit. Mit dem Dichter Friedrich Hölderlin könnte man daher fragen: „Gibt es auf Erden ein Maß?“ – und antworten: „Es gibt keines.“ Jetzt wird der bild-lose Mensch völlig frei für das bisher Unmögliche. Jetzt bestätigt sich auf objektiv-naturwissenschaftlicher Ebene, was bereits auf subjektiv-geisteswissenschaftlicher formuliert wurde: Der Mensch, so Friedrich Nietzsche, ist „etwas, das überwunden werden muss“.
Der Mensch der Gegenwart ist also bild-los, wesen-los. Und Nietzsche wusste wie kein anderer, was gottlos, bild-los heißt: „Wer das verlor, was Du verlorst, macht nirgends Halt!“, sagt er in seinem Gedicht „Vereinsamt“.
Dennoch ist zu fragen, ob sich heute nicht ein neues Bild des Menschen abzeichnet, eine Vorstellung davon, wie der zukünftige „bessere“ Mensch aussehen könnte. Wo wird es entworfen, welche Konturen zeichnen sich ab?
Man will den Körper so gestalten, wie er sein soll. Alles Störende, das Kranke, Hässliche, Schmerzen verursachende soll verschwinden, das Unzureichende, wie etwa das menschliche Gedächtnis, bekommt Unterstützung und wird schließlich neu gemacht. Der neue Körper wird durch und durch künstlich sein.
Und als „Künstler“, als Produzent und Schöpfer ist nicht mehr ein Individuum am Werk, wie etwa der Künstler in der Renaissance, sondern das Kollektiv: die Wissenschaftler, Techniker, die Medien, letztlich das Volk und die Menschheit. Das Verhältnis von Natur und Kunst hat sich also umgekehrt, und das „ist“ hat sich in ein „soll sein“ verkehrt: Es geht nicht darum, die Natur des Menschen für die Kunst gleichsam nachzuzeichnen, sondern den künstlichen Menschen als die zukünftige Natur des Menschen hinauszuprojizieren, hinaus in die Zukunft.
Man tut also genau das, was früher der Betrachtende tun musste: das dargebotene Produkt – in früherer Ästhetik das Bild, heute der empirische Mensch – aufspannen in den realen Raum. Der Mensch, wie wir ihn kennen, ist wie ein Gemälde in den Rahmen oder hinter die Scheibe verspannt und wird durch die Projizierung in die Zukunft hinein vergrößert, sprich idealisiert.
Das Ideal des Menschen soll Wirklichkeit werden, hier, in der empirischen Welt; nicht mehr, wie bei dem griechischenPhilosophen Platon durch eine unendliche Kluft voneinander getrennt; nicht mehr wie im Christentum durch einen – bei aller Ähnlichkeit – unendlichen Abstand des Schöpfers vom Geschöpf. Das ist die Utopie der heutigen Welt, die sich überall entwirft.
Friedrich Nietzsche, der rational-säkulare Humanist, ist der Stichwortgeber für die animal-säkularen Humanisten der Gegenwart: Der bisherige Mensch, sagt er, sei „gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft“.
Günter Seubold ist außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Bonn.
© Rheinischer Merkur Nr. 24, 15.06.2006
Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 15. Juni 2006 um 10:56 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.