Gemeindenetzwerk

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Ideologie oder Glaube? Was brauchen lebensmüde Menschen?

Donnerstag 14. Januar 2021 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

Seitdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 „ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ festgestellt hat, und zwar „in jeder Phase menschlicher Existenz“, reißt die Debatte über den sog. assistierten Suizid nicht mehr ab. Schon Jahre vorher hatten der frühere EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider und seine 2014 an Krebs erkrankte Frau Anne in publizierten Gesprächen das Thema in die Öffentlichkeit getragen. Erst vor wenigen Monaten hat sich Anne Schneider in einem Interview noch einmal für die selbstbestimmte Selbsttötung ausgesprochen. „Wenn ich am Ende eines erfüllten Lebens im Reinen mit mir und den mir nahen Menschen Medikamente nähme, um mein Sterben zu beschleunigen, könnte ich dies mit meinem Gottvertrauen vereinbaren“ (Evang. Zeitung 18.10.2020).

Schon bald nach dem BVG-Urteil hatte der Hannoversche Landesbischof Ralf Meister Verständnis für die Karlsruher Richter gezeigt. Im September 2020 erklärte er in einem Interview, dass man „die Willensentscheidung des Sterbenden“, „aus dem Leben scheiden“ zu wollen, „hören und ernst nehmen“ müsse. Das gelte auch für kirchliche Einrichtungen (Evang. Zeitung 14.9.2020). Einen neuen Höhepunkt erhielt die Debatte am 11.1.2021, als in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ganzseitiger Artikel mit dem Titel „Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen“ erschien. Geschrieben war er vom Vorsitzenden der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD Reiner Anselm, der Lehrstuhlinhaberin für Praktische Theologie Isolde Karle und dem Präsidenten der Diakonie Deutschland Ulrich Lilie.

Dieser Text hat es in sich. Er bemüht sich, den Begriff der Selbstbestimmung als einen zentralen Wert evangelischer Ethik, ja sogar als Ausdruck christlicher Freiheit herauszustellen. Zu den positiven „Lernerfahrungen der christlichen Ethik der Gegenwart“ wird die „Einsicht“ gezählt, „dass die besondere Würde der Person als Fundament der liberalen Kultur keinen Widerspruch zu den eigenen Traditionen darstellt“. M.a.W. der emanzipatorische Begriff der Selbstbestimmung des Individuums lässt sich nach Überzeugung der Verfasser durchaus aus dem christlichen Menschenbild ableiten. Die Verfasser sprechen sich dementsprechend für kirchliche Einrichtungen als „sichere Orte“ für Suizidwillige aus, „weil sie einem Sterbewilligen unter kontrollierten und verantworteten Rahmenbedingungen in einem aus dem christlichen Glauben entspringenden Respekt vor der Selbstbestimmung Beratung, Unterstützung und Begleitung anbieten“. Ethisch-theologische Bedenken gegen eine kirchliche Beihilfe zur Selbsttötung werden neutralisiert. Es sei nicht statthaft, „vorschnell Partei zu ergreifen, etwa dadurch, dass von kirchlich-diakonischer Seite der assistierte Suizid als unvereinbar mit dem christlichen Glauben gebrandmarkt wird“. Schließlich machen sich die Verfasser noch Gedanken über die Professionalität einer solchen kirchlich verantworteten Beihilfe zur Selbsttötung. Wie wird die „Qualitätssicherung“ gewährleistet? „Gibt es genügend Ärztinnen und Ärzte, die sich zur Suizidbeihilfe bereitfinden?“ Was muss geschehen, „dass Einzelne in ihrer individuellen Situation professionelle Unterstützungsangebote auch für den Suizid vorfinden“?

Es lohnt sich, dieses Dokument evangelisch-kirchlicher Standortbestimmung genauer unter die Lupe zu nehmen. Der am häufigsten gebrauchte Begriff ist „Selbstbestimmung“. Dieses Leitwort wird regelrecht in einen Kultstatus gehoben, ohne dass auch nur ansatzweise der Versuch unternommen würde, seine Problematik zu diskutieren. Schon die Rosenheimer Erklärung der bayrischen Landessynode von 1991 stellte die Selbstbestimmung der schwangeren Frau über das biblische Tötungsverbot. „In Konfliktsituationen kann die letzte Entscheidung der betroffenen Frau von niemandem abgenommen werden“, so hieß es damals. Viele Menschenleben im Mutterleib sind seitdem im Sog dieser Ideologie ausgelöscht worden. In vielen anderen Ausprägungen hat sie Triumphe gefeiert, vor allem in der Kindererziehung, in der Sexualethik und in der Umwälzung des Ehebegriffs. Man kann an dieser Stelle durchaus einmal die Frage stellen, ob die Gesellschaften, die sich die Selbstbestimmung auf ihre Fahne geschrieben haben, wirklich menschlicher, sicherer und lebenswerter geworden sind. Es wird schwerfallen, hierauf mit Ja zu antworten. Dessen ungeachtet folgt allerdings die evangelische akademische und kirchenoffizielle Ethik unverdrossen seit 30 Jahren aus Angst vor irgendeiner „Fremdbestimmung“ diesem alten Paradigma der 68er Bewegung. Nun hat also die Welle der Selbstbestimmung auch das Sterbedatum erfasst.

Die verheerenden Folgen dieses Menschenbildes spielen im Text der drei Verfasser keine Rolle. Dass nämlich der „selbstbestimmte“ Mensch beziehungsarm und beziehungsunfähig wird. Dass der Mensch auf Vorbilder und Leitbilder angelegt und angewiesen ist, wenn er die seelischen und geistigen Potentiale entwickeln will, die Gott in ihn hineingelegt hat, und dass er demzufolge ein Leben lang derselbe bleibt, wenn er nur sich selbst zum Maßstab nimmt. Und dass er geschichtsvergessen wird. Denn was interessiert mich noch die Geschichte, wenn ich mein Leben nach meinen eigenen Maßstäben entwickle! Dieses dürftige, entwicklungshemmende und geschichtsvergessene Menschenbild hat nicht nur nichts mit dem biblischen Menschenbild zu tun, es steht ihm auch diametral entgegen. Als Geschöpfe eines kommunikativen Beziehungsgottes, der selbst als Vater, Sohn und Heiliger Geist in engster Beziehung lebt, sind wir Menschen zu gelingender Beziehung hin erschaffen. Nur wenn unsere vertikale Beziehung zu Gott und die horizontale Beziehung zu unseren Nächsten stimmt, finden wir zu einem sinnerfüllten Leben. Deswegen sollte es eigentlich zu den vorrangigen kirchlichen Aufgaben der Gegenwart gehören, den Glauben und die Liebe der Christen zu fördern, damit sie beziehungsfähiger werden. Das sollte jemand wissen, der die Diakonie in Deutschland leitet, der Praktische Theologie lehrt und der „Kammer für öffentliche Verantwortung“ vorsteht.

Nun also soll von Seiten der evangelischen Kirche dem Menschen allgemein und insbesondere dem Lebensmüden und Sterbenden auch noch am Lebensende ein Akt der Selbstbestimmung angeboten werden, indem man ihm die Möglichkeit einräumt, sein Sterbedatum selber zu bestimmen und indem man ihm dafür auch eine professionelle Unterstützung anbietet. Das Argumentationsschema ähnelt demjenigen in der Abtreibungsfrage. Waren es dort „Konfliktsituationen“ der schwangeren Frau, die man meinte, mit der selbstbestimmten Letztentscheidung der Frau lösen zu können, so sind es jetzt Menschen, die sagen, dass sie Hilfe brauchen, „um aus dem Leben zu treten“ (Ralf Meister in Evang. Zeitung 14.9.2020). In beiden Argumentationen bezieht man sich auf verzweifelte Menschen in Extremsituationen und möchte ihnen im Namen der Selbstbestimmung ihre in der Verzweiflung entstandenen Wünsche erfüllen. Der Wille des Menschen ist der letzte Maßstab.

Auf der Strecke bleibt Gottes Wille. Die Abtreibung setzt sich über den erklärten Willen Gottes hinweg, einem Menschen das Leben zu geben (Ps 139,13 „Du hast mich gebildet im Mutterleibe“), sodass sich jeder, der sie in irgendeiner Weise durchzuführen ermöglicht, vor Gott und den Menschen schuldig macht. Die bewusste Selbsttötung unter Inanspruchnahme anderer Menschen setzt sich in ähnlicher Weise über Gottes Hoheitsrechte hinweg (Ps 90,3 „Der du die Menschen lässest sterben“). Auch sie lädt Schuld auf sich und andere.

Der Wille Gottes ist natürlich für viele Zeitgenossen heute eine unbekannte Größe. Unsere weitgehend entchristlichte Gesellschaft wird vermutlich der Ideologie der Selbstbestimmung des Individuums weiter folgen, weil sie die staatstragenden Institutionen und Werte der Ehe, der Familie, der Unverletzlichkeit des Lebens, der christlichen Nächstenliebe und eines an die Zehn Gebote gebundenen Rechtssystems verlassen hat und weiter verlässt. Man darf sich da keiner Illusion hingeben. Aber dass eine große christliche Kirche, die sich in ihren Grundordnungen immer noch auf die Bibel und auf die altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse bezieht, dabei ist, sich zu einem „sicheren Ort“ für professionell organisierte Selbsttötungen zu erklären, ist doch sehr bestürzend.

Ein weiteres unerklärliches und schweres Defizit im F.A.Z.-Text vom 11.1.21 ist das Fehlen der Dimension von Schuld und Vergebung. Der selbstbestimmte Wunsch nach Selbsttötung wird theologisch genauso wenig hinterfragt wie die Beteiligung anderer Menschen, insbesondere von Medizinern und Seelsorgern an solchen Handlungen. Was ist mit der Schuld, dass der assistierte Suizid ein schwerer Eingriff in die Hoheitsrechte Gottes darstellt? Was ist mit dem Selbsttötungskandidaten, wenn ihm auf seiner allerletzten Wegstrecke plötzlich die Schuld seiner Absicht schwer auf das Gewissen fällt? Was ist mit den Beteiligten, wenn ihnen – vielleicht erst lange Zeit später –  ihr Handeln als Schuld vor dem lebendigen Gott klar wird? Ein theologischer Text, der auf die Fragen nach Schuld und Vergebung keine Antwort gibt, ist höchst unbefriedigend.

Auf welche Zeiten wir zugehen, wenn sich, wie es bei der Abtreibung der Fall ist, auch der „assistierte Suizid“ gesellschaftlich etabliert, kann man sich anhand eines kritischen Leserbriefs zu Landesbischof Ralf Meister vor Augen stellen, der am 4.10.2020 in der Evangelischen Zeitung zu lesen war: „Die Abtreibungszahlen sind hoch, und sie steigen. Ähnlich mag es denn auch zu einem stillen Einstieg in die Sterbehilfe durch Tötung kommen. Der Bischof hat ja den gerichtlich bestätigten Rechtsanspruch der Menschen in der Bundesrepublik bestätigt. So mag es denn bald in Todesanzeigen zu lesen sein: Danke auch an den freundlichen Pflegedienst, der im xx-Haus ein offenes Ohr für unsere Großmutter hatte und ihr als Sokratischen Becher die wohltuende Blausäure reichte“.

Eine Kirche, die sich auf die Reformation bezieht, sollte zur Kenntnis nehmen, was Martin Luther, der niemals auf die Idee eines ‚assistierten Suizids‘ gekommen wäre, den Sterbenden zugerufen hat: „Nun siehe, was soll dir dein Gott mehr tun, dass du den Tod willig annimmst, nicht fürchtest und überwindest? Er weist und gibt dir in Christus das Bild des Lebens, der Gnade und Seligkeit, so dass du vor dem Bild des Todes, der Sünde und der Hölle dich nicht entsetzest. Er legt dazu deinen Tod, deine Sünde und deine Hölle auf seinen liebsten Sohn und überwindet sie dir und macht sie dir unschädlich. Er lässt dazu deine Anfechtung des Todes, der Sünde und der Hölle auch über seinen Sohn gehen und lehrt, dich darin zu halten und macht sie unschädlich, ja erträglich. Er gibt dir des alles ein gewisses Wahrzeichen, dass du ja nicht daran zweifelst, nämlich die heiligen Sakramente“. (Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, 1519).

Das sind Worte, die ein lebensmüder Mensch braucht. Wer angesichts seines nahen Endes in Anfechtung oder Verzweiflung gerät, braucht Glaubensstärkung und keine ideologische „Selbstbestimmung“.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 14. Januar 2021 um 15:33 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Kirche, Lebensrecht, Medizinische Ethik, Seelsorge / Lebenshilfe.