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Im Gespräch: Dr. med. Christa-Maria Steinberg

Dr. med. Christa-Maria Steinberg, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Verh. mit Eberhard Steinberg, zwei Söhne. Geboren in Kolberg/Pommern, 1945 geflohen. Nach dem Krieg war der Vater Pfarrer in Damme/Oldbg., Bielefeld und Lüdenscheid/Brügge. Nach dem Studium in Hamburg und Heidelberg Berufstätigkeit in der Johannes-Diakonie Mosbach/Baden. Anschließend Einladung in das Evangelisationsteam unter Leitung von Lutz Scheufler. Dort seit 2014 tätig. Wohnhaft in Limbach-Oberfrohna.

Liebe Frau Steinberg, ich erinnere mich noch gern an den Kongress des Gemeindehilfsbundes 2013 in Bad Gandersheim. Sie hielten ein Seminar „Vergebung – eine Hilfe bei Depression?“ Bitte sagen Sie unseren Lesern kurzgefasst, weshalb Vergebung eine so zentrale Rolle spielt für unsere seelische Gesundheit.

Wenn wir dem anderen vergeben, befreien wir uns innerlich von ihm. Wir tragen seine Verfehlungen nicht mehr hinter ihm her – wir schleppen uns ja damit ab, nicht er – und leben frei. So wie ich die große Freude habe, dass Jesus mir immer wieder gern alles ganz und gar vergibt, so gibt es ebensolche Freude ins Herz, wenn ich dem anderen vergebe. Das verhindert Bitterkeit, Anspannung, Grübeln, Verdrossenheit. Wenn ich durch langdauernde und tiefgehende Verletzungen allerdings seelisch krank geworden bin, dann brauche ich zuerst Heilung, z. B. durch Medikamente und durch Psychotherapie. Später kann ich dann auch diesen Verletzern vergeben.

Sie waren bis 2006 Chefärztin in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Bitte geben Sie uns einen Einblick in Ihre Erfahrungen aus der Arbeit mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen. Welches sind die hauptsächlichen psychischen Probleme der heranwachsenden Generation heute?

Die hauptsächlichen seelischen Probleme der jungen Generation sind Unsicherheit, Mangel an Selbstwertgefühl, Angst. Viele Kinder werden allein gelassen, weggegeben, „laufen nebenher“, wie sich die Eltern ausdrücken. Lebenslang sehnen sie sich nach Mutterwärme und bedingungsloser Elternliebe, auf die jeder Mensch ein Recht hat. Diese traurigen Grundgefühle werden überspielt mit Aggression, Rückzug, Zwangserkrankungen, Süchten. Wenn wir in der Kinderpsychiatrie die Eltern für ihre Kinder gewinnen konnten, wurden die Kinder heil.

Sie haben sich vor über 10 Jahren dem Evangelisationsteam in Sachsen angeschlossen. Auf einer Vorstellungs-CD sind Sie mit einem Lebenszeugnis zu hören. Darin sprechen Sie über die Bedeutung christlicher Lieder für Ihren Glauben. Sie haben auch in vielen Chören mitgesungen. Die Bibel fordert uns ja auch an vielen Stellen zum Lobgesang auf. Inwiefern ist das Singen so wichtig?

Ich bin in einer musikalischen Familie groß geworden, wir haben alle ein Instrument gespielt und mehrstimmig gesungen. Wir sangen das Wochenlied zur Morgenandacht, Abendlieder zum Einschlafen und Lob- und Danklieder vor oder nach der Mahlzeit. Dieses Glück hat nicht jeder! Singen tut der Seele wohl, es spricht unmittelbar an. Jeder hat seinen eigenen Musikstil und kann sich verlieren, erholen, befreien von Angst und Sorgen, wenn er singt oder dem Singen zuhört. Ob man allein singt oder im Chor, kunstvoll oder direkt – Singen tut gut! Die Psalmen sind Lieder. Im Himmel wird gesungen werden!

Zu Ihrer Biographie eine Frage: Sie berichten von Ihrem gläubigen Vater, von einer Evangelisation mit Ruth Frey und vielen Begegnungen mit Glaubensvätern und -müttern. In Ihrem Buch „Die Frau im Fahrstuhl der Gefühle“ habe ich mit Erstaunen gelesen, dass Sie trotz dieser christlichen Sozialisation erst mit 41 Jahren zum lebendigen Glauben an Jesus Christus gekommen sind. Was hat Sie so lange gebremst?

Meine Glaubenserfahrungen und -anfänge sind von niemandem richtig wahrgenommen und geschult worden. Zu Hause ging es nicht fröhlich zu, es wurde viel kritisiert und sich beklagt. Mein Vater liebte die Gemeinde und sie ihn, aber für uns blieb wenig Spontanes übrig. Ich habe gelernt, dass man als Pfarrerstochter vorbildlich leben muss und die schönsten Dinge des Lebens nicht tun darf. Das hat mich gebremst, ich wollte Freiheit. Die christlichen Formen habe ich beibehalten, bin z. B. als Studentin immer zum Gottesdienst gegangen. Aber erst in einer tiefen Notlage habe ich Jesus gesucht, und er ließ sich finden!

Zu diesem Buch habe ich noch zwei Fragen. Sie sprechen ausführlich über das Gefühlsleben und die Gedankenwelt der Frau. Dabei gebrauchen Sie das Bild vom Fahrstuhl, in dem sich die Frau oft wiederfindet. Sie machen Mut, den Fahrstuhl anzuhalten. Es muss also eine Instanz geben, die stärker ist als die Rutschbahn der Gefühle und das Negativpotential der Gedanken. Was ist das für eine Kraft und wie findet man Zugang zu ihr?

Die Kraft, die mir hilft, den „Fahrstuhl der Gefühle“ zu beherrschen, ist Jesus. Er macht mir Mut, wenn es zu viel ist. Er entspannt mich, wenn ich richtig Grund habe, mich zu ärgern. Er gibt mir Aufgaben und die Kraft dazu, so dass ich nicht müßig sitze und mich zu sehr mit mir selbst beschäftige. Zugang zu dieser Kraft finde ich in der täglichen ausgiebigen Stillen Zeit, beim fortlaufenden Lesen der Bibel, im Gottesdienst und beim Abendmahl, das bei uns trotz Corona gefeiert wird. Und Gespräche mit Leuten, die aus derselben Quelle trinken wie ich, sind immer eine große Freude.

Die zweite Frage richtet sich an ihr antiemanzipatorisches Verständnis von Ehe und Familie. Sie sprechen von Ihrer „Grundeinstellung, dass der Mann den Familienvorsitz innehat und die Verantwortung für das Ganze trägt“. Der Ehefrau raten Sie, auf das letzte Wort zu verzichten. Man muss ja heutzutage lange suchen, bis man solche Aussagen findet. Wie sind Sie zu diesem biblischen Verständnis der Geschlechterrollen gekommen? Und kränken Sie damit nicht auch das Selbstwertgefühl junger Frauen, die nichts anderes kennen als Emanzipation?

Ich bin eine sehr emanzipierte Frau: geboren als ältestes von 7 Pfarrerskindern und früh gelobt für meinen verantwortungsvollen Umgang mit den Geschwistern. In der Schule bis zum Abitur immer die Beste, Chefärztin, einzige Frau unter den baden-württembergischen Klinikleitern im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie: die geborene Anführerin. Damit hätte ich fast meine Ehe ruiniert und meine Söhne für immer unglücklich gemacht. Da kam ich durch die Andacht einer Aidlinger Diakonisse zum Glauben und fand eine Seelsorgerin, die mir half. Margret Scheffbuch lehrte mich, wie eine Ehe gut funktioniert, eben so, wie Gott sich das gedacht hat: der Mann trägt die Verantwortung für das Ganze und Mundhalten in aufgeheizten Situationen schafft Frieden. Alles wird abgesprochen, es gibt keine unabhängigen Entscheidungen oder Pläne. Zum Beispiel wäre ich dem Ruf nach Sachsen ins Evangelisationsteam nicht gefolgt, wenn mein Mann dagegen gewesen wäre!

In Ihrem Buch „Heilung ist möglich“ widmen Sie einige Seiten der Pornografiesucht, insbesondere unter Männern. Aus unserer fast 40jährigen Eheseminararbeit können meine Frau und ich bestätigen, dass auch in christlichen Ehen Pornografiekonsum ein großer Ballast ist. Bitte geben Sie eine Hilfestellung, wie man aus dieser Sucht frei werden kann.

Zuerst muss man erkennen, dass man süchtig ist. Dann muss man fest entschlossen sein, die Sucht loszuwerden. Dann gibt es professionelle Hilfen: Sperrung bestimmter PC-Programme, Selbsthilfegruppen, regelmäßige, langdauernde Psychotherapie, Änderung von Lebensgewohnheiten. Wenn man einen Partner gefunden hat, ist die Einübung einer normalen Sexualität eine Aufgabe, die viel Geduld und viel Einfühlungsvermögen erfordert. Pornografische Bilder haften fest im Kopf. Deshalb ist nur ein ganzes Abkehren von den alten Gewohnheiten und eine totale Annahme der Hilfe, die Jesus bietet, eine Garantie für ein glückliches Eheleben.

Noch einmal zum Evangelisationsteam mit Lutz Scheufler. Seit sieben Jahren ist er ja nicht mehr Angestellter der Sächsischen Landeskirche, sondern hat einen kirchenunabhängigen Verein aufgebaut. Hat sich dieser Schritt bewährt? Wie sehen Sie die Zukunft der Landeskirchen? Was raten Sie jemand, der bei einer Evangelisation oder in der Seelsorge an Jesus Christus gläubig wird und in seiner Kirchengemeinde kein klares Evangelium zu hören bekommt?

Die Gründung des Missionswerkes „Evangelisationsteam e.V.“ hat sich bewährt. Wir haben Aufgaben ohne Ende, Menschen finden zum Glauben, Jesus beschenkt uns mit Zelten u.a. Viele Fürbeter, Sponsoren und Spender begleiten und helfen uns. Unsere Gemeinschaft untereinander ist herzlich und stärkend. Die Landeskirche schrumpft und ist nur da noch von Bedeutung, wo sie klares Evangelium predigt. Ich habe solches Glück in meiner örtlichen Kirchengemeinde. Wir Mitglieder des Evangelisationsteams sind alle noch in der Landeskirche. Ich werde nicht aus der Kirche austreten, sie ist von Kind an meine Heimat. Ich liebe das Kirchenjahr, die Liturgie, die Choräle und die Rituale an den Festen unseres Lebens.

Sie verfügen über eine reiche seelsorgerliche Erfahrung. Viele Menschen werden seit Monaten von den andauernden Corona-Infektionsmeldungen in Angst versetzt. Manche Wirtschaftszweige blicken mit großer Sorge in die Zukunft. Die demografische Entwicklung unseres Volkes verheißt nichts Gutes. Wie können wir angesichts dieser Entwicklungen fröhliche Christen bleiben?

In dieser Zeit werden wir auf die Probe gestellt. Wie stark ist mein Vertrauen in meinen Herrn? Hoffentlich suchen viele Menschen jetzt nach dem festen himmlischen Halt. Das könnte sogar die Botschaft all dieser Beunruhigungen sein: dass wir alle innehalten und uns besinnen auf unseren Schöpfer und Erlöser! Wie wir Christen jetzt „rüberkommen“, ob zitternd vor Angst oder ruhig im Sturm – das wird für unsere Mitmenschen eine Hilfe sein. Ob ich an Corona sterbe, wird im Himmel geplant. Die Vorsichtsmaßnahmen halte ich ein, will niemand ein Ärgernis geben und nicht leichtsinnig sein. Materiell helfen kann ich kaum, nur zuhören und trösten. Viel konkrete Not kann in unserem Staat gelindert werden, Geld ist da. Die Familie als stärkendes Miteinander rückt auch an manchen Stellen wieder in die Mitte.

Sie vollenden im nächsten Jahr so Gott will Ihr 80. Lebensjahr. Darf ich Sie um ein kurzes Zwischenfazit Ihres Lebens bitten? Was waren bisher Ihre schmerzvollsten und Ihre frohmachendsten Erfahrungen? Was möchten Sie gern unseren Lesern mit auf den Weg geben?

Die schmerzvollste Erfahrung meines Lebens war die, dass ich es mir anders vorgestellt hatte und mich in vieles fügen musste, das ich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Aber wie Gott mich freundlich geleitet, zu sich gezogen und über alles glücklich gemacht hat – das gäbe ein Extra-Buch. Mein Arbeitsleben war sehr erfüllend. Mein Einfluss reichte weit, Gott hat richtige Personalentscheidungen geschenkt. In meiner kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik ist es nie zu Katastrophen gekommen. Kein Mädchen ist schwanger geworden, es hat nur einmal geringfügig gebrannt, kein Selbstmordversuch ist geglückt, und niemand hat sich beim Ausreißen aus der Klinik schwer verletzt. Und erst der Ruhestand! Wer bekommt schon mit dessen Beginn eine völlig neue Aufgabe, die er sich nie hätte suchen und schaffen können? Wer wird im Alter noch so gefragt und gehört? Wer kann entspannt der Goldenen Hochzeit entgegensehen, und wer erlebt so viel Glück mit zwei wunderbaren Sohnfamilien und sechs liebevollen Enkeln? Mein Lebensfazit lautet: Ich bin begnadigt, reich beschenkt und sehe unendliche Freuden vor mir in der Ewigkeit!

Die Fragen stellte Pastor Dr. Joachim Cochlovius.

Quelle: Aufbruch – Informationen des Gemeindehilfsbundes (3/2020)

Die aktuelle Ausgabe des Aufbruchs kann hier [1] gelesen werden. Wenn Sie den Aufbruch kostenlos abonnieren möchten, schreiben Sie bitte an info@gemeindehilfsbund.de.


Leseempfehlung:

Christa-Maria Steinberg
Die Frau im Fahrstuhl der Gefühle
SDG-Verlag, Waldenburg 2013, 48 Seiten, 4,81
ISBN: 978-3-9308-6812-4

Christa-Maria Steinberg und Lutz Scheufler
Heilung ist möglich
SDG-Verlag, 3. Auflage, Waldenburg 2013, 36 Seiten, 3,88
ISBN: 978-3-9308-6808-7