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Erzbischof Janis Vanags, Predigt zum lettischen Nationalfeiertag am 18.11.20

Guten Morgen, Lettland!

Mit diesem Festgottesdienst beginnen wir die Feier des 102. Jahrestages der Gründung unseres lettischen Staates. In diesem Jahr möchte ich uns allen dazu gratulieren, insbesondere zu der Tatsache, dass wir heute wie jedes Jahr den 18. November feiern können. Vielleicht haben Sie auf YouTube ein Video gesehen, in dem ein nettes Mädchen mit einer Tasse Kaffee aus dem Fenster schaut, während das sorglose Lied „Raindrops“ (Regentropfen) erklingt. In der Nähe steigt ein Atompilz auf. Ein außerirdisches Schiff taucht aus dem dunklen Wirbel am Himmel auf. Sie runzelt ein wenig die Stirn, lächelt den Tyrannosaurus an, der hinter einem Baum lauert und freundlich einer Menge Zombies zuwinkt, die sich der Straße nähern. Der Titel des Clips lautet „Ein normaler Tag 2020“. Menschen, die lächeln können, drücken so ihre Gefühle über das Unglaubliche, das geschieht, aus.

In der freien Welt müssen heutzutage Menschen um Erlaubnis bitten, ihre Häuser zu verlassen, und Bürger werden verhaftet, weil sie spazieren oder zum Gottesdienst gegangen sind. In der Zitadelle des Kapitalismus brennen und plündern Menschen Städte. In London wird das Churchill-Denkmal mutwillig beschädigt, und das soll ein Protest gegen den Faschismus sein. Selbst in unserem relativ friedlichen Lettland können Sie die Bank nur mit einer Maske im Gesicht betreten, und der Wachmann kann Sie verhaften, wenn Sie sie nicht haben. Schüler sehnen sich nach der Schule! Wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir wieder den Lockdown. Das alles wird ein Teil des Alltags, genau wie für dieses Mädchen der Dinosaurier und die Menge der Zombies beim Morgenkaffee.

Es ist gut, wenn wir manches mit einem Lächeln betrachten können, aber diejenigen, die lange anstehende Operationen auf unbestimmte Zeit verschoben bekommen haben oder die Angst haben, ihren Job oder ihr Unternehmen in den kommenden Monaten zu verlieren, möchten wahrscheinlich nicht lächeln. Früher haben wir Antoine de Saint-Exupéry oft zitiert, dass der einzige wirkliche Reichtum die menschlichen Beziehungen sind, aber jetzt ersetzen wir sie durch soziale Distanzierung. Wie radikal und auf unbestimmte Zeit werden unsere Grundfreiheiten eingeschränkt!

Die schwierigste ist jedoch die bohrende Ungewissheit über die Zukunft. Das Stoppen der üblichen Prozesse, das Schwanken vieler Böden führt zu Unwissenheit und Unsicherheit. Wie wird alles enden? Wird es überhaupt enden? Deshalb ist es so schön, den 18. November wieder zu feiern! Zu machen, was wir immer gemacht haben. Ein schöner Moment der Stabilität. Das Leben geht weiter. Es ist so wichtig, die Freude über sein Land und den Stolz über sein Volk zu spüren, welches das erkämpft und gebaut hat! Wir können aus einer alten Schlussfolgerung lernen, zu der christliche Missionare gekommen sind: Sie können eine Kultur, die Sie hassen, nicht evangelisieren! Das ist nicht möglich! Wir können das sogar an der Geschichte der baltischen Christianisierung sehen. Umgedreht können Sie das Land, das Sie verachten, nicht verbessern. Internet-Trolle versuchen in den Menschen die Verachtung gegen den lettischen Staat zu säen – damit wir nie besser leben. Es macht keinen Sinn, mit denen zu diskutieren. Stattdessen lasst uns unser Land heute stolz feiern, denn wir wollen es behalten und den durch die Pandemie verursachten Schaden reparieren.

Im Jahr 2020 waren alle vom belarussischen Volk überrascht. Vielleicht betrachten wir ihren Mut mit Überraschung und Bewunderung. Aber lasst uns daran erinnern – einmal waren wir genauso! Wir haben an unseren Traum von einem freien Lettland geglaubt und wagten es, uns gegen die Panzerwagen zu stellen. Und wir erlebten uns emporgehoben und glücklich. Vor 30 Jahren mussten wir das tun, was das belarussische Volk heute tut. Jetzt müssen wir mit dem gleichen Mut den Weg ab 2020 nach vorn ebnen. Haben wir etwas Besseres zu tun?

Die Verfassung der Republik Lettland besagt, dass der Staat Lettland auf der Grundlage des unveränderlichen Staatswillens der lettischen Nation gegründet wurde. Was bedeutet „Staatswille“? Dies bedeutet sicherlich nicht einfach, ein unbeschwertes Leben in einem prosperierenden Land führen zu wollen, und sicherlich nicht, nur an eigene Wünsche zu denken. Im realen Leben erfordert der Staatswillen vielmehr immer etwas zu opfern.

Es erforderte am Anfang sogar, in den Krieg zu gehen und das Leben zu opfern. Heute bedeutet es eher, dass jeder nach Spitzenleistungen auf dem Gebiet strebt, wo er seinem Volk dienen kann. Das nennt man Exzellenz. Excellenz erfordert ebenfalls, etwas zu opfern – vor allem die jugendliche Sorglosigkeit und das bloße Genießen des Lebens, sondern stattdessen das zu tun, was einen Sinn hat. Erst danach kommen vielleicht die Pläne für eine besser bezahlte Karriere im Ausland. Lettland braucht die Exzellenz seiner Menschen mehr, auch wenn es derzeit nicht in der Lage ist, dafür zu bezahlen. Umso mehr.

Warum möchte ich heute über Exzellenz sprechen? Der ehemalige Harvard-Professor für Wirtschaft und Geschichte David S. Landes hat ein Buch mit einem interessanten Titel geschrieben „Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind?” Wahrscheinlich fragen sich viele von uns dasselbe. Warum ist zum Beispiel Japan, das keine natürlichen Ressourcen hat, so reich, aber einige gute andere Länder sind erfolglos und arm, obwohl es reichlich natürliche Ressourcen gibt? Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen ist, dass die Schlüsselressource gegenseitiges Vertrauen ist. Wenn eine Nation in der Lage ist, eine Gesellschaft des gegenseitigen Vertrauens aufzubauen, wird sie erfolgreich und reich.

Im Jahr 2020 brauchen unsere Menschen dringend Gelegenheiten, einander Vertrauen zu schenken. Das steht in direktem Zusammenhang mit Spitzenleistungen. Unsere Ärzte zeigen in der Krise hervorragende Leistungen. Wir wissen, dass wir uns auf sie verlassen können, und das ist ein großer Trost. Deshalb ehren und danken wir ihnen am meisten. Neben Ärzten gibt es Apotheker, Sozialarbeiter, Geistliche, Supermarktverkäufer und Fahrer, die das Notwendige liefern oder öffentliche Verkehrsmittel fahren, und viele andere, die weniger häufig erwähnt werden, für die wir aber auch dankbar sind. Denn solange wir ihnen vertrauen können, leben wir friedlicher. Selbst wenn wir ein Kind in den Kindergarten bringen, müssen wir wissen, dass dort alles in Ordnung sein wird. Die Exzellenz der Pädagogen ist unser Seelenfrieden.

Was ist also mit den Leitern des Landes, besonders in dieser Zeit der globalen Krise? Wie unschätzbar wichtig ist es, ihnen vertrauen zu können! Und welches Maß an Exzellenz und Kompetenz ist erforderlich, um dieses Vertrauen aufzubauen! Während der Plagen haben die livländischen Leiter zum Fasten und zum Buß- und Bettag aufgerufen! Wie tief muss man erkunden, um das Wesentliche dessen zu beurteilen, was für den Staat gut sein wird!

Bei der Entscheidung über Beschränkungen zur Bekämpfung der Krankheit entscheiden die Staatsoberhäupter auf die eine oder andere Weise über das Leben und den Schicksal der Menschen. Lockerere Regeln können für ältere Menschen besonders gefährlich sein und sie ihrer letzten Lebensjahre berauben. Zu strenge Beschränkungen können Unternehmen zerstören, Menschen ihren Lebensunterhalt rauben und bei jungen und aktiven Menschen zu Depressionen, Alkoholkonsum und sogar Selbstmord führen. Wer kann verlorene Lebensjahre und unerfüllte Träume zählen und vergleichen?

Das Weltwirtschaftsforum spricht über den „Großen Neustart“. Man sagt dort: Globale Probleme, ob Covid oder Klima, brauchen eine globale Lösung. Die nationalen Regierungen sind dazu nicht in der Lage, daher müssen die Entscheidungen den supranationalen Gremien überlassen werden. Dieses Argument ist verständlich – aber das Lesen der Materialien dieser globalen Aktivisten wirft erneut die Frage des Vertrauens auf. Wird dieser sog. große Neustart nicht wie die Geschichte von Joseph ausgehen, der die Ägypter zu seinen Sklaven machte, um die Hungerkrise zu überwinden? Wie kann ein gewöhnlicher Mensch da durchblicken? Es macht keinen Sinn, jemand dafür zu kritisieren, dass er an Verschwörungstheorien glaubt. Vielmehr sollte man an den unschätzbaren Wert denken, wenn man den Führungskräften und ihrer Exzellenz vertrauen kann. Alles hängt von diesem Vertrauen ab – bis hin zur Bereitschaft zur Solidarität – dem Anlegen einer Maske an einem öffentlichen Ort und der Begrenzung der Anzahl der Gottesdienstbesucher in der Kirche.

Die Krisensituation wirft Licht auf das, was es bedeutet, “in die Politik zu gehen”. Möge Gott uns gnädig davor behüten, dass jemand in die Politik geht, als ob da eine Anzeige im Fenster des Parlaments oder Rathauses wäre: „Hier gibt es Arbeit“. In die Politik zu gehen bedeutet zu sagen: „Ich habe die Kompetenz und Exzellenz, um zu entscheiden und Verantwortung für das Leben und den Schicksal der Menschen zu übernehmen.” Auch die Wähler müssen sich dessen bewusst sein: Durch die Abstimmung geben wir unser Leben und unsere Zukunft zumindest teilweise in die Hände unserer Kandidaten. Vielleicht ist es das, was die jüngere Generation am meisten verstehen muss, damit sie ihre prime-time nutzt, um nach Spitzenleistungen zu streben, die es ihnen ermöglichen, diejenigen zu sein, die zur richtigen Zeit Verantwortung übernehmen.

Aber Exzellenz und Professionalität helfen nicht, wenn man einer Person nicht vertrauen kann. Wer weiß, wie schwierig es ist, Vertrauen zu gewinnen und wie leicht, es zu verlieren, der begreift, wie schnell Vertrauen in seinem Berufsumfeld oder in seiner Familie zerstört werden kann – sei es durch einen Scherz, einen bewussten Schritt oder einen Ausrutscher. Um so etwas zu vermeiden, ist es nützlich, sich an einige Dinge zu erinnern.

Martin Luther erklärt das 4. Gebot und lehrt über die politischen Herrscher, dass sie für ihre Staatsangehörigen wie Eltern sind. Und ich denke, gute Eltern wissen aus Lebenserfahrung, dass Vater und Mutter nur so glücklich sein können wie ihr unglücklichstes Kind. Es ist eine gute Formel für das Glück, mit der man in die Politik gehen müsste – nach eigenem Glück zu streben, indem man sich für das Glück seiner unglücklichsten Kinder sorgt.

Eine weitere Erinnerung besteht darin, meine Handlungen und Entscheidungen danach zu bewerten, wie ich mich fühle, wenn ich mit ihnen vor Gott stehe. Wenn wir frei beten können, während wir vielleicht entlang der Küste gehen, ist dies ein gutes Zeichen. Aber wenn man beim Planen oder Tun Gott den Rücken zudreht und sich vor ihm verstecken möchte, dann sollte man am besten sofort eine solche Absicht aufgeben und eine solche Handlung stoppen. Aber dafür braucht man ein Herz, das Gott kennt.

Die Menschen fragen mich von Zeit zu Zeit – was ist in der Welt nur los? Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Epheser: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen sondern … mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“ Es scheint mir, dass dies im Einklang mit Carl Gustav Jungs Idee steht, dass nicht Menschen Ideen haben, sondern Ideen die Menschen.

Im 20. Jahrhundert faszinierten die Ideen des Marxismus und des Nationalsozialismus ganze Völker und versetzten sie in einen fanatischem Glauben. Es waren nicht die Menschen, die mit den Ideen arbeiteten, sondern es waren die Ideen, die die Menschen trieben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Quelle dieser Ideen ein Signal des transzendentalen Bösen war, das von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten weiter gefunkt wurde.

Ein solcher „Funkturm“ war Karl Marx. Zwei seiner Ideen betreffen uns heute besonders. Erstens die Tatsache, dass die Welt ein Schlachtfeld zwischen Unterdrückten und Unterdrückern ist. Zweitens seine Lehre über Basis und Überbau. Für Marx war die Basis die wirtschaftlichen Beziehungen. Der Überbau ist Kultur, Religion, Traditionen und Normen. All das wurde im Interesse der Unterdrücker geschaffen, um die Basis zu schützen und zu stärken. Daher war es die Pflicht des marxistischen Intellektuellen, alles vom Überbau niederzureißen und zu revolutionieren, um zur Basis zu gelangen. Manchmal habe ich mich gefragt, warum die Änderungen der Sittlichkeit so heftigen Widerstand im Parlament und auch danach hervorgerufen haben ? Vielleicht, weil sie wie ein Versuch erscheinen, die erhabene Arbeit des Abrisses der Überbau zurückzudrehen?

Der nächste Turm ist Friedrich Nietzsche, der diesen Abriss bereits in berühmten Worten formuliert hat: „Gott ist tot! … Und wir haben ihn getötet! … Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen?“ Er sagt dies nicht im Triumph, und er spricht auch nicht vom Blut Gottes, sondern prophetisch von unserem Blut, das später die Ideologien des 20. Jahrhunderts wirklich vergossen haben. Nietzsche erkannte deutlich, dass die Gesellschaft durch den Verzicht auf das Christentum weder die universellen Werte noch die Moral, die sich aus dem Glauben an Gott ergeben, behalten kann. Was bleibt übrig? Die Meinungen bleiben – meine, deine, jedermanns eigene. Die Welt ist ein Meinungskonflikt und die Aufgabe des Protagonisten ist es, seine Meinung, seinen Willen, seine eigenen Werte in den Vordergrund zu rücken. Wille jenseits der Vernunft.

Es scheint mir, dass die Leidenschaft, Gott zu töten, in unserem Bildungssystem offensichtlich geworden ist. Die Möglichkeit, den Religionsunterricht zu lehren, verschwindet, und manchmal gibt es das Gefühl, dass viele applaudieren würden, wenn Kinder aus christlichen Familien ihren Glauben im Schulprozess verlieren könnten. Es besteht wahrscheinlich die Hoffnung, dass sie dann zu aufgeklärten Menschen der Zukunft werden. Nietzsche dachte anders. Er sah den Nihilismus voraus, und er erlebte ihn ganz persönlich. Der Glaube an nichts. Wenn das Glaubensboot des Menschen versenkt wird und er in ein anderes Boot gezogen wird, macht er die Erfahrung, dass Boote versenkt werden können. Nicht nur das vorherige, sondern jedes Boot. Auch das, in dem er jetzt ist. Ohne universelle Werte ist jedes Glaubenssystem zerstörbar. Keines ist vertrauenswürdig. Nietzsche sagte es voraus, dass die Menschen aufhören würden, an Sinn zu glauben und das Leben aufgeben würden. Junge Menschen sind heute oft von einem solchen vorzeitigem Zynismus betroffen.

Ein weiteres Ergebnis ist der Sprung in radikale Ideologien, die zu extrem intensiven Zusammenstößen führen. Das letzte Jahrhundert erlebte zwei Weltkriege. Aber auch 2020 fragen sich die Menschen: Woher kommen heute die Menschenmengen, die Städte verbrennen und Denkmäler zerstören? Das sind die Passagiere von versenkten Booten, Leute, die den Überbau abreißen wollen, um die Basis zu revolutionieren – was auch immer sie damit meinen. Der Wille hat Vorrang vor der Vernunft. Und wie im Marxismus üblich, ist die Gewalt keine unerwünschte Nebenwirkung, sondern eine Methode, um das Ziel zu erreichen.

Der nächste wichtige Funkturm ist Jean-Paul Sartre. Er wird der Begründer des Existentialismus genannt. Das erwies sich als äußerst einflussreiche Lehre. Die Grundidee kann in vier Worten gesagt werden: „Existenz ist vor dem Wesen“. Unter „Wesen“ kann man so etwas wie den Marxschen Überbau verstehen. Ein Mensch wird in einer Familie und Gesellschaft geboren, in der es einige Werte, Ideale und Traditionen gibt. Er ist in einem Land geboren, das bereits seine eigene Ordnung und Gesetze hat. Ein Individuum wird zu einer Persönlichkeit, indem es dieses vorgegebene Wesen in sein Leben einbezieht, in es hineinwächst und sich daran anpasst. Im Gegensatz dazu lehrt der Existentialismus, dass meine Existenz, meine Individualität und meine Freiheit an erster Stelle steht. Darauf basierend kann ich bestimmen, wer ich sein werde und wie ich leben werde. Ich selbst werde mir mein eigenes Wesen erschaffen. Viele junge Leute haben heute diese Position – belehrt mich nicht! Ich werde wissen, wer ich bin und wie ich leben soll.

Haben Sie den besten Film von 2018 „Shape of Water“ (Die Form des Wassers) gesehen? Ein schönes Märchen über eine stumme Frau, die wie ein Protagonist Nietzsches ihre eigene Stimme gegenüber der Welt um sie herum bekommt und sich in eine amphibische Kreatur verliebt, mit der sie unter Wasser zu leben beginnt. Egal, ob es eine gute und korrekte Stimme ist, im Einklang mit höheren Werten. Hauptsache, dass es ihre eigene ist! Am bedeutendsten ist jedoch der Titel des Films – doch welche Form hat denn das Wasser? Es kann in ein Glas gegossen, in einem Würfel eingefroren, in einer Wolke verdampft oder in einen Brunnen gesprüht werden. Es kann jede Form annehmen, wie im Existentialismus. Egal, ob Mensch oder irgendetwas anderes.

Scheint es mir nur so, als hätte ich gerade auf der Pressekonferenz unseres Verfassungsgerichts eine ähnliche Idee gehört? Da gab es den Satz: „Familie kann verschieden sein“. Was soll damit gemeint sein, und was ist die Grundlage für eine solche Aussage? Klang es nicht so, dass der Begriff der Familie wie Wasser in ein Glas gegossen, in die Luft gespritzt oder in jeder beliebigen Form gebracht werden kann? Wenn man Sartre konsequent anwendet, warum soll nicht eine Frau und eine amphibische Kreatur unter Wasser ebenfalls eine Familie sein können? Aber glauben wir das wirklich oder reißen wir einfach nur weiter unseren Überbau nieder?

Vor zehn Jahren hörte ich einen Witz über ein kleines Mädchen, das fragte: „Mama, kann ich wirklich werden, was ich will, wenn ich wirklich will?“ „Ja, Töchterchen“ erwidert die Mutter. Und das Mädchen sagt glücklich: „Dann werde ich ein Pferd sein!“ Es war damals, aber jetzt ist es kein Scherz mehr. Wenn sich eine Person als Pferd oder etwas anderes identifiziert, muss jeder zustimmen und die Gesetze entsprechend angepasst werden.

Schließlich Michel Foucault, der wie Marx die Welt als Schlachtfeld zwischen Unterdrückten und Unterdrückern betrachtet. Aber die Arbeiterklasse im Kapitalismus hatte begonnen, so gut zu leben, dass sie nicht zur Weltrevolution erschien. Stattdessen wird alle Hoffnung auf Identitätsgruppen bzw. Minderheiten gesetzt. Foucault erkannte die Sprache als das subtilste Werkzeug der Unterdrückung an. Seiner Ansicht nach hat die herrschende Mehrheit eine Ausdrucksform entwickelt, die ihre Dominanz stützt und Minderheiten unterdrückt. Eine solche Sprache muss nach seiner Meinung abgerissen, dekonstruiert werden. Entsprechend den Vorstellungen Foucaults stehen wir heute vor den Forderungen nach politischer Korrektheit in der Sprache, nach polizeilicher Überwachung der Sprache und in einem Kampf gegen die Meinungsfreiheit.

Es gibt auch bei Jacques Derrida die Idee, dass die Bedeutung von Wörtern nicht in der realen Welt gefunden werden kann, sondern nur im Wörterbuch. Der eigentliche Kampf geht um das Recht, ein Wörterbuch zu schreiben und bestimmten Wörtern und Begriffen eine andere Bedeutung zu geben und damit bestimmte Beziehungen, bestimmte Rechte und Realitäten in unserem Leben zu verändern. So stellt sich plötzlich heraus, dass wir nichts mehr klar über Dinge wissen, die uns seit langem bekannt waren, wie Mann und Frau, Vater und Mutter, Ehe und Familie. Aber alles ist plötzlich klar über Dinge, die wir bis vor kurzem nicht einmal benennen konnten.

Ja, mir scheint, dass ich hier sehr lange über philosophische Ideen spreche und es vielleicht schwierig ist, den Zusammenhang mit unserem Land und diesem Tag zu erkennen. Verzeiht mir, bitte, wenn das so ist.

Aber die Menschen fragen mich von Zeit zu Zeit: was ist mit der Welt los? Es scheint mir, dass man durch das Verstehen der Ideen dieser fünf Denker ziemlich gut verstehen kann, was gerade in der Welt geschieht. Ideen haben Folgen. Sie beschäftigen Menschen nicht nur irgendwo im Westen, sondern auch in Lettland. Ideen setzen sich in den Gesetzen fest und beeinflussen unser Leben. Es ist nützlich, darüber nachzudenken und darüber zu sprechen. Kann man diesen Ideen vertrauen?

Die oben genannten mögen sympathisch erscheinen, zugunsten der Ausgegrenzten und Unterdrückten. Sie können anziehend sein, weil sie progressiv wirken und die Individualität und Freiheit einer Person hervorheben. Aber es ist wichtig, dass sie alle in einer Ideologie verwurzelt sind, die unser Volk durch sein Blut kennengelernt hat. Die behauptete von sich, die verteidige die Unterdrückten. Aber wo immer diese Ideologie im Leben realisiert wurde, verfolgte sie anders Denkende, beschränkte die Menschenrechte und Freiheiten, führte Zensur ein, brachte Armut und ließ Hunderte Millionen Ermordete zurück. Es scheint unwahrscheinlich, dass so etwas heute passieren könnte, aber schauen wir uns genau an, was mit der westlichen Zivilisation 2020 passiert, und erinnern uns an Solschenizyns Worte, dass die Ideen Zeit brauchen, um ihre wahre Natur zu zeigen. Wie können wir dagegen wehren?

In den letzten Jahren wurde das „kritische Denken“ als Zauberformel und universelles Werkzeug besungen. Es ist wie in einem Kult, und man meint, es wird Frieden geben und das goldene Zeitalter beginnen, wenn nur jeder das kritische Denken erlernt. Kritisches Denken ist natürlich sehr wertvoll, um die Wahrheit von den falschen Nachrichten zu unterscheiden. Es ist aber kein Allheilmittel. Indem wir die Überzeugung vermitteln, dass kritisches Denken alles umfasst und ohne Transzendenz auskommt, machen wir den Menschen anfällig für die destruktiven Zweifel, die nach Nietzsches Worten jeden Zweig, auf dem er sitzt, abschneiden können. Der kritische Teil unserer Vernunft ist in der Lage, selbst das Tiefste und Wahrste, was wir tun, in Frage zu stellen. Wenn uns beigebracht wird, an die Zweifel zu glauben, weil sie rational sind, können sie alle Grundlagen des Lebens in Frage stellen. Die Zweifel werden uns nicht vor Nihilismus oder totalitären Ideologien retten, sondern zu ihnen hinführen. Dostojewski hat bereits geschrieben, dass andere Antworten erforderlich sind, wenn der rationale Verstand nicht mit der Absurdität des Lebens fertig wird.

Der Existentialismus mit seinen Wurzeln bei früheren Denkern und in seiner Fortsetzung im modernen Neomarxismus ist eher ein sehr langweiliges System. Alles, was übrig bleibt, ist der langweilige Raum meines Ego, wenn man die überzeugende Kraft großer, objektiver Werte wegnimmt. Es bleibt eine winzige, kleine Welt, in der alles von mir bestimmt wird. Dort sind nur meine Ideen, meine Ziele. Das Theo-Drama oder das Drama Gottes, in dem mich diese Welt großer, objektiver Werte zu sich zieht, ist viel faszinierender als ein solches Ego-Drama. Und dahinter steht die Welt der höchsten Wahrheiten und Werte Gottes. Das Theo-Drama auf unterdrückt meine Freiheit nicht. Es weckt mich, es ruft mich und erhebt mich in meine wahre Freiheit. Es ist wunderschön und aufregend!

Das erste Buch der Bibel erzählt die Geschichte von Noahs Trunkenheit. Man könnte denken, warum so eine nutzlose Geschichte? Sie ist aber nicht nutzlos, sondern sehr tief. Noah hatte mit seinem Leben Gottes Gunst erlangt. Er baute eine Arche und rettete das Leben aller vor der Zerstörung. Aber er war nicht perfekt. Einmal wurde er betrunken und schlief nackt. Der jüngste Sohn, der alles gute Leben und alle Verdienste Noahs und seine eigene Errettung vergessen hatte, sah nur diesen einen Stolperstein, verachtete seinen Vater und erzählte anderen davon. Die leichtfertige Verachtung der Ehre des Vaters , des Geistes des Vaters, machte ihn aus einem Sohn zu einem Sklaven.

Wie bei Noah geschieht es heute mit der traditionellen christlichen Kultur und den Werten Europas und des Westens, die vom jüngsten Sohn verachtet werden. Sie wird auf verschiedene Weise verachtet und beschuldigt, und ihre historischen Denkmäler werden zerstört. Alle Aufmerksamkeit wird dem Stolpern und den Fehlern gewidmet, wobei vergessen wird, der christlichen Kultur zu danken, dass sie uns durch alle Fluten geführt und uns zu den größten Errungenschaften der Zivilisation geführt hat. Wir sehen an Noahs Geschichte, dass die Aussichten mit einer solchen Einstellung nicht gut sind. Man kann nicht genau vorhersagen, wie, aber aus einem Sohn wird ein Sklave. Aber Gott hat uns in die Freiheit gerufen.

Wir sollten innehalten und darüber nachdenken, wo wir, unsere Nation und unser Land, inmitten der Weltereignisse stehen. Was ist unser Weg, unsere Berufung und unsere eigener „großer Neustart“? Wie können wir Gottes Traum sowohl für Lettland als auch für unser eigenes Leben erfüllen?

2020 hat unerwartete Schocks und Herausforderungen gebracht. Nicht dass wir es wollten oder uns danach sehnten, aber wir haben eine ungewöhnliche Zeit bekommen, in der wir eine große, einheitliche Idee brauchen, die für gemeinsames und ethisches Handeln mobilisiert. Die Krise kann beängstigend und deprimierend sein, aber gerade dann ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir in der Lage sind, zu überleben und zu gewinnen. Gott schuf uns als Wesen mit Bewusstsein und zwei Gehirnhälften. Wenn die Dinge wie gewohnt laufen und wir die üblichen Dinge tun – Kaffee kochen oder Fahrrad fahren – tun wir dies automatisch und unbewusst. Uns wird das Bewusstsein gegeben, dem Ungewöhnlichen und dem Unbekannten zu begegnen. Mit der linken Gehirnhälfte arbeiten wir in Bereichen, wo alles untersucht und bekannt ist. Die rechte Hälfte schaltet sich ein, wenn wir dem Neuen und dem Unbekannten begegnen. Wenn das Unerwartete über uns hereinbricht, wenn es so wie 2020 kommt, ist es wichtig zu wissen, dass wir die Ressourcen haben, um uns dem zu stellen. Gott hat uns so geschaffen, dass wir überleben und gewinnen können.

„So stehet nun, umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angezogen mit dem Panzer der Gerechtigkeit und an den Beinen gestiefelt, als fertig, zu treiben das Evangelium des Friedens. Vor allen Dingen aber ergreifet den Schild des Glaubens, mit welchem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösewichtes; und nehmet den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes. Und betet stets in allen Anliegen mit Bitten und Flehen im Geist, und wachet dazu mit allem Anhalten und Flehen für alle Heiligen“. (Eph 6:14-18)

Jesus sagte im Johannesevangelium: „Euer Herz erschrecke nicht! Glaubet an Gott und glaubet an mich! Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du würdest die Herrlichkeit Gottes sehen?“

Erzbischof Janis Vanags, Predigt im Rigaer Dom am 18. November 2020

Übersetzung Pfr. Andris Kraulins