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Wer die dunklen Seiten des Korans verdrängt, tut den Muslimen keinen Gefallen

Dienstag 15. September 2020 von Dr. Abdel-Hakim Ourghi


Dr. Abdel-Hakim Ourghi

Die im Namen des Islams begangene Gewalt sei ein einziges grosses Missverständnis, behauptet der Islamwissenschafter Mouhanad Khorchide in seinem neuen Buch. Eine solche Lesart setzt sich kühn über den Text des Korans und historische Fakten hinweg. Wenn Muslime heute ihre Friedfertigkeit damit beweisen wollen, dass der Islam auch historisch nur «Frieden» und «Barmherzigkeit» sei, dann ist das blosse Apologetik. Selbstverständlich steht es jedem Muslim frei, den Islam so zu verstehen, wie er es für richtig und gut hält. Wer aber unbequeme Traditionen des Islams in diesem Sinne uminterpretiert und historische Ereignisse verdrängt, muss mit Kritik seiner gutgemeinten Auslegungen rechnen.

Im Juli dieses Jahres ist das neue Buch des Soziologen und Islamwissenschafters Mouhanad Khorchide mit dem Titel «Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam» erschienen. Der Autor, selbst Muslim, möchte die Macht der konservativen Gelehrten und der Vertreter des politischen Islams brechen und dadurch den etablierten Islam von «Missverständnissen» befreien.

Bereits 2012 veröffentlichte Khorchide ein populärwissenschaftliches Buch mit dem programmatischen Titel «Islam ist Barmherzigkeit». Der Koran, die Tradition des Propheten sowie die Geschichte und die heutige Realität des Islams sprechen indes eine andere Sprache. Die Islamisten berufen sich für die Rechtfertigung ihrer Gewalttaten auf einige Koranverse aus der medinensischen Epoche (622–632) und orientieren sich damit am politischen Handeln des Propheten. Schon allein deshalb ist der Islam nicht nur Barmherzigkeit und Frieden, wie Khorchide uns glauben machen will.

«Wahrer» und «falscher» Islam

In seinem neuen Buch nun knüpft Khorchide an seine damaligen Thesen an. Der Islam der ersten Stunde zwischen 610 und 661 sei demnach missverstanden und missbraucht worden. Dieser «wahre Islam» erstrecke sich über die Periode des Propheten Mohammed (610–632) und seiner unmittelbaren Nachfolger, der sogenannten vier rechtgeleiteten Kalifen (632–661). Laut Khorchide begann der Verrat des Islams mit der Errichtung der ersten «Diktatur» im Islam durch die Omayyaden (661–750). Der danach über Jahrhunderte gelebte Islam gilt ihm als unwahr und als «eine manipulierte Version dieser Religion».

Eine solche mosaische Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, richtiger und falscher Religion ist nicht neu. Dieselbe These findet sich schon bei der Reformbewegung zur Wiederbelebung des Islams bei Mohammed Abduh (1849–1905) und zieht sich wie ein roter Faden auch durch das Werk des syrischen Intellektuellen Mohammed Shahrour (1938–2019). Auch alle Salafisten mit ihrem extremistischen Theoretiker Sayyid Qutb (gestorben 1966) an der Spitze bedienen sich dieses Argumentationsmusters und meinen, die Ideale des Islams jener Frühzeit seien verraten worden – nur haben sie dabei andere Ideale im Sinn als Khorchide.

Das Neue und Überraschende bei Khorchide ist allerdings die historisch nur schwer zu begründende Behauptung, der Prophet sei «sowohl in Mekka als auch in Medina lediglich als Verkünder einer göttlichen Botschaft und ohne den Anspruch auf eine Machtposition» aufgetreten: «Er war kein Staatsoberhaupt, weder in Mekka noch in Medina.» Denn die islamische Gemeinschaft in Medina sei kein Staat gewesen, folglich Mohammed auch kein Staatsmann.

Freilich ist das 622 vom Propheten in Medina begründete Gemeinwesen mit einem Staat im modernen Sinne nicht zu vergleichen. Das heisst aber nicht, dass der Prophet in der medinensischen Epoche nicht als Politiker in Erscheinung getreten ist.

Abschied vom Dialog

Das Scheitern des Propheten bei der Verkündung und Gründung eines Gemeinwesens (Umma) in Mekka (610–622) verkehrte sich durch seine Auswanderung im Jahre 622 nach Medina in einen politischen Triumph, er selbst wurde der weltlich-politische Führer einer allmählich wachsenden Gemeinde. Die zwischen Mohammed und den Stammesführern von Medina nach seiner Ankunft vereinbarte «Konstitution von Medina» – ein diplomatisches Meisterstück – ist ein historischer Beleg für den Beginn der politischen Karriere des Propheten.

Ab 624 begann in Medina eine neue, militante Ära – eine Ära der Gewaltmassnahmen –, in welcher der Prophet Abschied vom Dialog mit den Nichtmuslimen nahm. Unterstützt durch kriegerische Offenbarungen, ging er gegen die arabischen Heiden, die Dichter und die Juden vor. Khorchide behauptet, Mohammed habe nur Verteidigungskriege gegen Ungerechtigkeiten geführt. All diejenigen, die dies anders einschätzen, betrachtet er als «Vertreter einer exklusivistischen Position».

Indes gibt es nirgendwo in den arabischen Quellen oder im Koran einen Anhaltspunkt für diese These. Vielmehr waren es zunächst die Muslime, die die Mekkaner durch Raubzüge provozierten. Über ihren Sieg bei Badr 624 heisst es im Koran, nicht die Muslime hätten die Mekkaner getötet, sondern Gott selbst (Koran 8:17). Im Frühjahr 628 schloss der Prophet mit den Mekkanern einen zehnjährigen Friedensvertrag (Koran 48:27). Doch ohne nennenswerten Grund marschierte Mohammed schon zwei Jahre später an der Spitze einer Streitmacht von ungefähr 10 000 Mann gegen Mekka, das widerstandslos kapitulierte.

Das Scheitern seiner Bekehrungsarbeit führte auch zum Bruch mit den medinensischen Juden, was für sie ein blutiges Nachspiel mit fatalen historischen Folgen hatte. Die Liste der Angriffskriege des Propheten und seiner Gemeinde kann beliebig verlängert werden, etwa um die Unterwerfung der Christen von Nadjran im Jahre 630.

Theologische Schönheitschirurgie

Über die Vertreibung der Juden, die Versklavung ihrer Frauen und Kinder und die Tötung der Männer verliert Khorchide kein einziges Wort. Er betätigt sich vielmehr als eine Art theologischer Schönheitschirurg. Alles, was das Ansehen des Islams und die Vita des Propheten entstellen könnte, wird von Khorchide dezent geglättet oder gänzlich entfernt.

Stattdessen zitiert er allein ethisch-moralische Verse aus der mekkanischen Periode (zum Beispiel Koran 88:21, 50:21 und 6:52), die bezeugen sollen, dass der Prophet «nur Warner» bzw. Verkünder einer frohen Botschaft gewesen sei. Den juristisch-politischen Koran der medinensischen Epoche, etwa die sogenannten Schwertverse (Koran 2:191, 9:5, 9:29), die als Grundlage für den politischen Islam des Propheten und den Heiligen Krieg gelten, unterschlägt er.

Den Jihad begreift Khorchide nicht nur als einen individuellen Kampf gegen die Triebseele, sondern darüber hinaus ausnahmslos als einen Weg zum Frieden und als Verteidigungsmassnahme. Anscheinend will er den Jihad als bewaffneten Kampf gegen die Nichtmuslime entmilitarisieren. Josef van Ess, einer der weltweit renommiertesten Islamwissenschafter, kommt dagegen zu einem anderen Schluss: Mohammed «hatte auch Gewalt üben müssen, mit anderen Worten: Krieg geführt, Karawanen überfallen, um sein Unternehmen zu finanzieren und die Wirtschaft der Mekkaner zu schwächen». Das entspricht auch dem Bild der arabisch-islamischen Geschichtsschreibung, der gemäss Mohammed selber an den Kämpfen und Beutezügen teilnahm und einen Fünftel der Beute erhielt (Koran 8:41).

Auch die Expansion zur Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen, die von Khorchide als Vorbilder für seinen barmherzigen Islam gepriesen werden, ignoriert er. Dabei war die Aussenpolitik der ersten Kalifen gegenüber Nichtmuslimen vom Grundsatz geleitet: Entweder die Annahme des Islams oder die Bezahlung eines Tributs – oder ihre Bekämpfung durch das Schwert.

Genauso wenig scheinen Khorchide auch die bald folgenden Kriege unter den muslimischen Glaubensbrüdern zu interessieren, die als historisch-politisches Urtrauma der islamischen Geschichte gelten und zur Spaltung der Umma in Sunniten, Schiiten und weitere Glaubensgemeinschaften geführt haben. Drei der vier Kalifen, der Nachfolger des Propheten an der Spitze der islamischen Gemeinde, wurden ermordet.

Zum Opfer stilisiert

In einem Interview im Deutschlandfunk sagte Khorchide kurz nach Erscheinen des Buches: «Wenn der Prophet Mohammed heute geboren oder auferweckt würde und den Islam sähe, würde er seine Verkündigung nicht wiedererkennen und sagen: Moment, ich habe die Freiheit des Menschen gewollt. [. . .] Ich wollte Gleichheit, Freiheit für die Menschen. Wo ist denn das alles heute im Namen des Islams?»

Es mag sein, dass er mit dem ersten Teil seiner Behauptung recht hat, aber zur Zeit des Propheten waren Begriffe wie «Gleichheit» und «Freiheit» im Arabischen im Sinne unseres heutigen Verstehens unbekannt. Es sind ahistorische Wunschvorstellungen Khorchides, die er auf die Frühzeit des Islams projiziert.

Im Mittelpunkt seiner Thesen steht somit die Stilisierung des missverstandenen Mohammed und seiner «missbrauchten» Lehren zu Opfern der Geschichte. Die wahren Opfer seiner Epoche, etwa die Juden, sind für Khorchide hingegen nicht von Belang. Mohammed zur «tragischen Held-Opfer-Figur» zu machen und den «wahren Islam» als verraten und missbraucht zu charakterisieren, ist nichts anderes als Geschichtsklitterung.

Mehr noch: Die Vertreter der These vom «Verrat am Islam» wollen bewusst eine Opfergeschichte des Propheten und des Islams der ersten Stunde etablieren, um die Entstehung einer kritisch-reflektierenden Erinnerungskultur zu verhindern. Die Heroisierung und die Viktimisierung des Propheten sind eine Inszenierung, die nur funktionieren kann, indem die politische Verstrickung Mohammeds und der politisch-juristische Koran als Legitimation für sein Handeln verdrängt werden. In anderen Worten: Sie funktioniert nur auf Kosten der Verleugnung historischer Fakten.

Khorchide will die kollektive Gewaltpolitik der ersten Gemeinde des Islams unter der Führung des Propheten verdecken, weil sie nicht in sein Bild vom barmherzigen Islam passt. Damit bemüht er sich, den schon in seinen Anfängen politischen Islam als normative Grundlage für den heutigen politischen Islam aus der kollektiven Identität der Muslime zu löschen. Dem militanten «wahren Islam» der Salafisten setzt er den seinigen, friedlichen entgegen, betätigt sich somit als freundlicher Fundamentalist, der nur die erhabenen Aspekte seiner Religion wahrnimmt. Trotz einigen reformerischen Ansätzen reiht er sich damit als Apologet in den Opferdiskurs der konservativen Muslime ein, die den politischen Islam ebenso verleugnen und verharmlosen.

Erinnern statt verdrängen

Die politische Rolle des Propheten abzustreiten und ihn zum falsch verstandenen Friedensengel zu stilisieren, löst keine Probleme, sondern macht Khorchides Thesen angreifbar. Stattdessen müsste eine muslimische Erinnerungskultur sowohl die Ambiguität des Wirkens des Propheten als auch die im Koran angelegte Ambiguität seines offenbarten Islams zwischen ethisch-moralischen Lehren und politischem Wirken ernst nehmen und für eine Reform des Islams nutzbar machen.

Eine solche Erinnerungskultur erlaubte allen Muslimen, Anteil an den Schicksalen der im Namen des Islams vertriebenen und hingerichteten Opfer der damaligen Zeit zu nehmen. Sie bedeutete Vergegenwärtigung der Vergangenheit und die Fähigkeit, zu erinnern und nichts und niemals zu vergessen oder zu verdrängen. Die Muslime können es sich heute nicht mehr leisten, bloss das Gute ihrer Geschichte auszuwählen. Nur durch eine analytische Reflexion des politischen Islams zu Lebzeiten des Propheten kann der Weg zu einer differenzierten Erinnerungskultur geebnet werden.

Dr. Abdel-Hakim Ourghi leitet den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br.

Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2020

 

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 15. September 2020 um 12:03 und abgelegt unter Weltreligionen.