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Der Salafismus. Zur Binnenlogik eines radikalen Denkens

Der Salafismus. Zur Binnenlogik eines radikalen Denkens

Zurück zu den Wurzeln

Im Vorspanntext der „Hamburger Lektionen“ heißt es über Mohammed Fazazi, daß er in Marokko die salafistische Variante des Islam gelehrt habe, nach der allein der Prophet und seine Gefährten sowie die drei folgenden Generationen der Muslime gläubig und rein genug gelebt hätten.Gemeint ist damit, daß die islamische Glaubensrichtung der Salafisten die Rückkehr zu einem vermeintlichen Ur-Islam predigt, dessen religiöse Substanz durch den Koran und die überlieferten Worte und Taten des Propheten Mohammed („hadith“) ein für allemal kanonisch festgelegt ist. Da es sich beim Koran um eine Offenbarung unmittelbar göttlichen Ursprungs handelt, ist für den Salafismus jede Frage nach dessen historischen Entstehungsbedingungen per se ketzerisch. Die Koraninterpretation ist nur zulässig als wortwörtliche Auslegung der Suren und Verse. Dies hat zur Folge, daß alle im Lauf der Geschichte anzutreffenden Lesarten des Korans, die mehr Interpretationsspielräume zugelassen haben, als verderbliche Neuerungen („bid’a“) verdammt werden. Aus diesem äußerst orthodoxen Koranverständnis leitet sich ein allumfassender Anspruch von Religion ab, wie ihn Fazazi in den „Hamburger Lektionen“ explizit formuliert: „Die islamische Religion ist umfassend, vollständig, widerstandsfähig, komplett und vollkommen. Und sie mischt sich ausnahmslos in alle Bereiche des Lebens ein. Der Islam hat Antworten auf jede Frage und für alles ein besonderes Programm.“ Die hier selbstverständliche Einheit von Religion, Politik und Gesellschaft ist gegen alle Entwicklungen der Moderne gerichtet – nicht nur gegen die Ungläubigen, den „Westen“, sondern auch innerhalb des Islam.

Fundamentalismus und Moderne

Dabei ist der Salafismus, wenn man so will, selbst ein Produkt der Moderne. Er ist ein Teil jener globalen religiösen Erweckungsbewegungen, wie wir sie bei den orthodoxen jüdischen Siedlern in Israel ebenso finden wie bei den Evangelikalen in den USA: Die biblische Schöpfungsgeschichte wortwörtlich als reale Entstehungsgeschichte der Welt zu verstehen, zeugt vom selben buchstabengläubigen Textverständnis wie jenes, das die drakonischen Strafen der aus dem Koran abgeleiteten Rechtsnormen der Scharia bei Diebstahl (Handabhacken) oder Ehebruch (Steinigung) als göttliche Offenbarung ansieht, die um kein Jota geändert werden darf. Der Hinweis, daß es sich bei solchen Strafnormen um zeittypische Normen arabischer Stammeskulturen aus der Frühzeit des Islam handele, verfängt bei Salafisten nicht. Die Scharia allerdings auf ein archaisches Strafrechtssystem zu reduzieren, wäre ihr nicht angemessen. Neben ihren Rechtsnormen, die keineswegs in allen islamischen Staaten Gültigkeit haben, sind es vor allem die fünf Glaubensübungen, denen sich jeder gläubige Muslim (nicht nur der Salafist) verpflichtet fühlt. Das Glaubensbekenntnis („Es gibt keinen anderen Gott als Allah…“), die täglichen Gebete, das Fasten im Ramadan, die Almosen für die Armen und die Pilgerfahrt nach Mekka. Aus all dem ergibt sich eine Lebenshaltung, die nicht nur gegenüber Ungläubigen, sondern auch gegenüber anders denkenden Muslimen zu Abschottung und demonstrativer Bekundung des wahren Glaubens durch eine entsprechende Kleidung führt: Bei Männern der wuchernde Bart, die weiße Kappe auf dem Kopf und der knöchellange weiße Rock, die Galabiyya, bei Frauen die Ganzkörperverhüllung. Noch vor zwanzig Jahren waren junge Männer mit Bart und Galabiyya in deutschen Städten, aber auch in Istanbul, Rabat oder Karatschi kaum zu sehen, inzwischen gehören sie in manchen Städten fast schon zum Alltagsbild in der Öffentlichkeit. Die beäugt sie natürlich mit Mißtrauen, denn mit dem äußeren Erscheinungsbild verbindet sich die Vorstellung, daß sich unter der Galabiyya ein Sprengstoffgürtel verbergen könnte. Salafisten werden aber nicht zwangsweise zu Attentätern und Terroristen, sondern wollen in erster Linie so fromm und gottesfürchtig leben, wie ihrer Meinung nach der Prophet und dessen Gefährten gelebt haben, die „al-Salaf al-Salih“ (daher der Name Salafismus). Daß es da gerade in westlichen Gesellschaften zu Konflikten im Alltag kommt, zeigen die Fragen, die Imam Fazazi gestellt werden. Auf jeden Fall ist mit einer salafistischen Haltung aber eine klare Absage an jede Form von Integration verbunden. Auf die Frage, ob man sich denn an die Gesetze der Ungläubigen halten müsse, gibt Fazazi am Ende der „Hamburger Lektionen“ eine unmißverständliche Antwort: Die Gesetze und Regeln in Deutschland seien „unwirksam“, weil sie nicht der Scharia entsprächen: „Jede Bestimmung, die nicht im Buch Gottes steht, ist unwirksam.“ Ganz konkret heißt das, daß Reisepässe und Visa nicht der Scharia entsprächen (weil sie in ihr nicht vorkämen) und deshalb als unwirksame Dokumente auch gefälscht werden dürften. Mit dieser Einstellung dürfte es allerdings nicht nur in Deutschland, sondern auch in Marokko oder Ägypten Probleme geben.

Das Feindbild des Salafismus

Lügen und Betrügen gegenüber den Ungläubigen ist also erlaubt, religiös legitimiert. Wenn man dann das klassische Bild der Ungläubigen mit seiner Unterscheidung von Schutzbefohlenen und echten Ungläubigen, wie es Fazazi in seinen Ausführungen entwickelt, auf ein aktuelles Feinbild projiziert, könnte man, sehr vorsichtig formuliert, von psychologischer Vorbereitung gewalttätigen Handelns sprechen. Ein moderner Ungläubiger, heißt es in den „Hamburger Lektionen“, ist jemand, der „sich am Krieg gegen den Islam durch Meinungsäußerung oder durch geistige Anstrengung oder durch ein Lied oder durch ein Theaterstück oder durch eine Fernsehserie beteiligt, die die Muslime beleidigt oder sie verzerrt darstellt. Der ist ein Krieger und ist zu töten, selbst wenn es eine Frau oder ein Kind ist.“ Diese geistige Militanz, wie sie im Begriff des Kriegers zum Ausdruck kommt, läßt sich auch im salafistischen Verständnis nicht unmittelbar aus dem Koran oder aus der Scharia ableiten (im salafistischen Verständnis allein schon deshalb nicht, weil Fernsehserien dort nicht vorkommen). Sie hat etwas mit einem tief sitzenden Unterlegenheitsgefühl zu tun, das Muslime seit den kolonialistischen Eroberungen in einer auch in den „Hamburger Lektionen“ deutlich werdenden Opferrolle sieht. Immer wieder wird dem Imam die Frage gestellt, warum alle Formen von unbestreitbarem gesellschaftlichen und technischen Fortschritt nur bei den Ungläubigen anzutreffen seien. Fazazis darauf als Antwort gegebene Kolonialismuskritik, die die andauernde geistige, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entmündigung der islamischen Welt beklagt, ist durchaus nachvollziehbar. Aber sie ist für ihn nicht das entscheidende Moment, da seine Kritik am Westen, an den Ungläubigen viel fundamentaler ist.

Salafisten als Attentäter

Daß wir es im Falle von Mohammed Fazazi nicht mit einem geistlichen Vertreter „des“ Islam, sondern mit einer fundamentalistisch zugespitzten Variante des Islams zu tun haben, wird im abschließenden Insert des Films deutlich. Nach seiner Rückkehr nach Marokko wurde er als geistiger Inspirator der Selbstmordattentate von Casablanca im Jahr 2003 von einem marokkanischen Gericht zu dreißig Jahren Haft verurteilt. Dieses Attentat von 2003 verdeutlicht eine Stoßrichtung, wie sie in den „Hamburger Lektionen“ als legitime Tötung von Ungläubigen in der Tat schon vorgedacht wurde. Damals hatten sich in Casablanca vierzehn marokkanische Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt und mehr als vierzig Menschen mit in den Tod gerissen, fast alle Marokkaner. Ziele der parallel erfolgten Anschläge waren das spanische Kulturzentrum, das belgische Konsulat, ein vor allem von Touristen besuchtes Hotel in der Altstadt, ein jüdischer Friedhof und das Gemeindezentrum marokkanischer Juden. Laut Insert wurde Fazazi ein Jahr später auch mit den Terroranschlägen in Madrid in Verbindung gebracht, da einige der in Madrid lebenden Attentäter (die keine Selbstmordattentäter waren) aus Tanger stammten und Kontakt zu Fazazi gehabt haben sollen. Auch das ist in den „Hamburger Lektionen“ schon angelegt, wenn gesagt wird, daß der gesamte Westen der Feind des Islam sei, weil er islamisches Territorium besetzt halte. Beschämendstes Beispiel sei Spanien: „Al Andalus (Andalusien) ist ein islamisches Land, und ist besetzt von den Spaniern.“ Zusammenfassend lässt sich sagen, daß die „Hamburger Lektionen“ einen tiefen Einblick in die „Binnenlogik“ eines radikalen Denkens zulassen, wie Romuald Karmarkar das genannt hat. Diese Binnenlogik mag man realitätsfremd, verzerrt, pathologisch oder wie auch immer nennen. Daß eine solche Logik keine islamische Spezialität ist, hat Karmarkar schon einmal mit seinem Film „Das Himmler-Projekt!“ gezeigt.

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© Bundesverband kommunale Filmarbeit 2007 (www.kommunale-kinos.de) Autoren: Gisela Gerst, Ernst Schreckenberg. Redaktion: Eckhard Schleifer