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Im Gespräch: Pfr. Helmut Matthies

Helmut Matthies studierte Evangelische Theologie in Berlin, Hamburg und Heidelberg. 1982 wurde er zum Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau ordiniert. Von 1978 bis 2017 war er Leiter und Chefredakteur der Evangelischen Nachrichtenagentur idea (Wetzlar), seit 1.2.2018 ist er deren ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender. Er ist außerdem Mitglied des Hauptvorstandes der Deutschen Evangelischen Allianz.

Wer vier Jahrzehnte lang in einem leitenden journalistischen Dienst die kirchlichen und politischen Verhältnisse an vorderster Linie beobachtet hat, verfügt über einen Erfahrungsschatz, an den normale Zeitgenossen nicht heranreichen. Vielen Dank, dass ich den für unsere Leser ein wenig anzapfen darf. Vorweg: Was war die beglückendste und die schmerzhafteste Erfahrung in dieser langen Zeit?

Die beglückendste Erfahrung war für mich das Ende der zweiten Diktatur im letzten Jahrhundert in unserem Vaterland. idea hat immer daran festgehalten, dass wir ein Volk sind, und kritisch über die Zustände in der realsozialistischen Welt des Ostens berichtet. Dafür wurden wir jahrelang als ewig gestrig, ja rechtsradikal gescholten – leider auch in Teilen der evangelikalen Bewegung. Dass unser antikommunistischer Kurs in so großartiger Weise bestätigt wurde, hat mich natürlich tief beschämt.

Die schmerzhafteste Erfahrung ist, dass wir besonders in den letzten 20 Jahren in Synoden erleben mussten, dass auch evangelikale Repräsentanten Vorlagen zugestimmt haben, die eindeutig unbiblisch sind. Dazu gehört in der EKD-Synode die 2016 einstimmig erfolgte Erklärung gegen jedes missionarische Zeugnis unter Juden. Ungerecht war 2017 die Entscheidung, idea den jahrzehntelangen Zuschuss zu streichen. Dabei ist für mich das Schmerzhafteste, dass kein Synodaler aufgestanden ist und gegen den Beschluss protestiert hat. Der fehlende Mut einiger heutiger evangelikaler Repräsentanten in Synoden ist bestürzend.

Was ist das Geheimnis von idea? Dass sich ein von den Landes- und Freikirchen unabhängiger Nachrichtendienst, dem die EKD 2017 den Zuschuss gestrichen hat, schon so lange halten konnte, grenzt für mich an ein Wunder.

Sie haben Recht: Es grenzt an ein Wunder. Dabei ist das Größte für uns sogar gewesen, dass wir nach dem Beschluss der EKD-Synode, der ja ohne Vorwarnung und ohne jede Begründung erfolgt ist, eine unglaubliche Solidarität unserer Leser erlebt haben. Die Entscheidung war ja zum Abschluss meiner Leitungstätigkeit vor allen Dingen gegen mich und meinen idea-Kurs gerichtet. So haben es mir manche Synodale und Medienvertreter gesagt. Ich durfte dann erleben, dass genau mein letztes Jahr das wirtschaftlich und publizistisch erfolgreichste überhaupt geworden ist. Noch nie haben wir auch so viele neue Abonnenten im letzten Quartal erhalten. Das war eine Bestätigung unserer Position, dass wir uns allein an Jesus Christus auszurichten haben und nicht nach Trends und Entscheidungen von Synoden.

Machen Christen eine bessere Presse? Anders gefragt: Wie prägt sich ein bewusster evangelischer Glaube im Mediengeschäft aus?

Wir machen natürlich als Christen auch Fehler. Wichtig ist, dass wir uns dann korrigieren lassen und für eindeutige Fehler entschuldigen. Selbstverständlich haben wir uns als Christen nach neutestamentlichen Maßstäben auszurichten.

Im Buch „Gott kann auch anders“ gibt es acht „Vorschläge für eine Erneuerung der Volkskirche“. Seit dem „Rotbuch Kirche“ (Herausgeber Jens Motschmann und Helmut Matthies, 5. Aufl. 1976) hat sich trotz vieler ähnlicher Ratschläge an der Zeitgeistorientierung der EKD nichts geändert. Wer soll diese Vorschläge aufgreifen und umsetzen? Ist es nicht an der Zeit, dass sich die bibel- und bekenntnisorientierten Landeskirchler ein Vertretungsorgan in Gestalt einer eigenen Synode schaffen?

Ja, es ist an der Zeit eine Art Bekenntnissynode zu schaffen. Sie hätte aber nur Bedeutung, wenn hier viele bekenntnisorientierte Organisationen unter Zurückstellung eigener Interessen zusammenarbeiten würden. Nur ein sehr breites Bündnis hätte eine Chance.

Idea hat immer wieder Pfr. Dr. Theo Lehmann Raum gegeben. In dem von idea jetzt mitherausgegebenen Büchlein „Mauer. Frei. 30 Jahre danach“ warnt er davor, dass sich Deutschland allmählich zu einer „DDR Light“ entwickelt, und sieht besonders die Meinungsfreiheit zunehmend bedroht. Sind diese Befürchtungen berechtigt?

Die Befürchtung von meinem großen Vorbild Theo Lehmann besteht zu Recht. Wir haben es ja gerade bei Landesbischof Rentzing erlebt. Er hat im Alter von Anfang 20 Texte in einer Zeitschrift mit einer Auflage von nur 100 Exemplaren veröffentlicht, die er heute so nicht mehr verfassen würde, wie er ausdrücklich betont hat. Dabei sind sie harmlos im Vergleich zu dem, was manche linksorientierten Kirchenleiter einmal als Studenten oder Pfarrer verfasst haben. Die Tatsache, dass der EKD-Ratsvorsitzende – ohne die Texte von Rentzing genau zu kennen – schon gleich wieder vor Rechtsextremismus warnt, halte ich für unverantwortlich.

Die evangelische Kirchenpresse berichtet seit Jahrzehnten über sexualethische Themen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Sexualität, Ehe, Genderisierung und Frauenordination weithin einseitig und tendenziös im Sinn liberaltheologischer Auffassungen. Auch das Thema Christenverfolgung kommt allenfalls am Rand vor. Idea hebt sich aus dieser amtskirchlichen Einseitigkeit wohltuend ab. Herzlichen Dank dafür! Zum Thema Abtreibung: Woran liegt es, dass evangelische Kirchenleute sich so schwer damit tun, sich öffentlich für den Lebensschutz einzusetzen, wie man es beim diesjährigen Marsch für das Leben wieder feststellen konnte?

Es ist für mich ein merkwürdiges Phänomen, dass die EKD immer zu spät dran ist. Im 19. Jahrhundert hat sie sich kaum für die geplagte Arbeiterschaft eingesetzt. In der Weimarer Zeit trauerte sie der Monarchie nach und verachtete vielfach die Demokratie. Im Dritten Reich war die Mehrheit der Kirchen auf Seiten der Nationalsozialisten. In der DDR war der Widerstand gegen den roten Sozialismus auf wenige Pfarrer und Kirchenleiter beschränkt. Nachdem dann jeweils alles vorüber war, hat man vielfach Schulderklärungen abgegeben. Ich bin tief überzeugt, dass die nächste Generation die jetzt lebende einmal fragen wird, warum sie nichts Wirksames gegen das größte Verbrechen seit der Wiedervereinigung unternommen hat: die Tötung von Gottes Geschöpfen im Mutterleib. Jedes Jahr werden Schulderklärungen abgegeben für das Versagen gegenüber der Ermordung von Juden vor über 70 Jahren. Gleichzeitig ist die Tatsache, dass seit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland über 10 Millionen Kinder abgetrieben worden sind, geradezu ein Tabu. Während der Papst die Teilnehmer des „Marsches für das Leben“ in Berlin grüßt und ermutigt, haben nur ganz wenige evangelische Kirchenleiter sich hinter das Anliegen gestellt. Berlins evangelischer Bischof Dröge hat sich sogar gegen den „Marsch“ geäußert. Was für ein Armutszeugnis meiner evangelischen Kirche!

Zum Thema Ehe und Sexualität: VELKD und EKD haben sich ja schon lange von der Ehe als verbindlichem Leitbild für Kirche und Gesellschaft verabschiedet (Empfehlung der VELKD-Bischofskonferenz 2004, Pfarrdienstgesetz 2010, Stellungnahme des EKD-Rats zur „Ehe für alle“ 2017). Meine Frage ist: Wird nicht durch die kirchliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ein neuer Gottesbegriff, ein neues Bekenntnis und eine neue Kirche etabliert? Der Gott des apostolischen Glaubensbekenntnisses ist jedenfalls ein Gott, der die Stiftung der Ehe ausschließlich für Mann und Frau vorbehalten hat, wie die Bibel eindeutig zeigt.

Die Realität ist ja noch viel schlimmer. Der Rat der EKD hat 2017 beispielsweise bereits vor der Abstimmung im Bundestag an die Abgeordneten appelliert, der „Ehe für alle“ zuzustimmen. Dadurch wurde tatsächlich geradezu ein neuer Gottesbegriff und ein neues Bekenntnis geschaffen.

Hat sich in den letzten Jahren in der Wahrnehmung der verfolgten Christen durch die EKD etwas zum Positiven verändert? Auch an dieser Stelle möchte ich idea herzlich danken für die unermüdliche Aufklärungs- und Kongressarbeit.

Hier hat sich tatsächlich etwas verbessert. Dass es verfolgte Christen gibt, hat man noch in den 80er Jahren seitens der EKD vielfach nicht wahrnehmen wollen. Heute bestreitet man die Diskriminierung von Christen nicht mehr, relativiert aber gelegentlich das Ausmaß und verharmlost besonders den Hauptverursacher, den Islam.

Seit dem WELT-Interview M. Dieners vom Dezember 2015 und der Gründung des Netzwerks Bibel und Bekenntnis durch U. Parzany im Januar 2016 ist eine weitere Spaltung der evangelikalen Bewegung in Deutschland eingetreten. Gibt es Chancen, aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen?

Diese Spaltung ist die größte Tragik der evangelikalen Bewegung in den letzten Jahrzehnten. Zuvor galten wir als eine in den wesentlichen theologischen Fragen einheitliche Bewegung. Unsere Positionen haben zumindest die Gutwilligen in den Kirchenleitungen ernst genommen. Jetzt weiß im Grunde genommen niemand mehr, für was die evangelikale Theologie noch steht.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage. Das Kapitel „Wenn die Ehefrau plötzlich stirbt“ im Buch „Gott kann auch anders“ ist bewegend. Darf ich um einen Rat für diejenigen bitten, die nach dem Verlust eines lieben Angehörigen nach vorn zu blicken versuchen? Was gibt Trost in einer solchen Lage?

Trost gibt allein, dass man als Christ weiß: Ich sehe meine Lieben in der Ewigkeit wieder. Dazu kommt die Erfahrung, dass Gott souverän ist. Er allein entscheidet über das Ende unseres irdischen Lebens – nicht Medikamente oder Ärzte.

Die Fragen stellte Pastor Dr. Joachim Cochlovius.

Quelle: Aufbruch – Informationen des Gemeindehilfsbundes (November 2019) [1]

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Leseempfehlung:

Helmut Matthies
Gott kann auch anders
Fontis, Basel 2019, 208 Seiten, 18,00 €
ISBN: 978-3-0384-8172-0