Gemeindenetzwerk

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„Einer trage des andern Last“ (Gal. 6,2) – Predigt im Gottesdienst nach dem „Marsch für das Leben 2018“

Freitag 29. November 2019 von Pastor Dr. Hans-Jürgen Abromeit, Bischof a.D.


Pastor Dr. Hans-Jürgen Abromeit, Bischof a.D.

„Brüder und Schwestern, nun kann es vorkommen, dass sich jemand zu einer Verfehlung hinreißen lässt. Dann sollt ihr, die ihr ja vom Geist geleitet werdet, ihn zurechtweisen. Tut dies mit der Freundlichkeit, die der Geist schenkt. Dabei muss jeder für sich selbst darauf achten, dass er nicht auch auf die Probe gestellt wird. Helft einander, die Lasten zu tragen. So erfüllt ihr das Gesetz, das Christus gegeben hat. Wenn allerdings jemand meint, er sei etwas Besonderes, dann macht er sich etwas vor. Denn das ist er keineswegs. Vielmehr sollte jeder das eigene Tun überprüfen. Dann hat er etwas, worauf er stolz sein kann, und muss sich nicht mit anderen vergleichen.“ (Galater 6,1-4 [Basisbibel])

Liebe Gemeinde „Für das Leben“!

Im Volksmund sagen wir manchmal: „Jeder hat sein Päckchen zu tragen.“ Und das ist wahr. Es gibt kein menschliches Leben ohne Nöte und Belastungen. Aber der Apostel Paulus lädt uns ein, damit anders umzugehen, nicht die eigene Last einsam zu tragen, sondern sich gegenseitig zu helfen, die Lasten zu tragen. In der von Jesus Christus bestimmten Gemeinde soll ein anderes Grundgesetz gelten: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal. 6, 2 Luther). In der christlichen Gemeinde soll es nicht lauter Einzelkämpfer geben, sondern Menschen, die sich als mit dem Leben der anderen verflochten, auf die anderen bezogen und ohne sie unvollkommen verstehen. Erst wenn wir uns auf diese ungewöhnliche Lebensweise einlassen, leben wir den Willen Gottes, wie er durch Jesus Christus ein- für allemal deutlich geworden ist. Im freiwilligen Übernehmen der Last der Anderen begegnet uns ein anderer Geist. Jesus selbst hat aus diesem Geist gelebt und möchte ihn an uns weitergeben.

Schon in der Frühzeit des Christentums, noch am Ende des ersten Jahrhunderts ist aus noch älteren Vorstufen eine Schrift entstanden, die mit dem Selbstbewusstsein auftrat, die Lehre der zwölf Apostel zusammenzufassen. Diese Schrift unterscheidet grundsätzlich zwischen einem Weg des Todes und einem Weg des Lebens. Wir würden heute wohl eher von einer „Kultur des Todes“ und einer „Kultur des Lebens“ sprechen. In dieser Schrift, wir nennen sie Didache (Lehre), heißt es unmissverständlich in Kap. 2 Vers 2: „Du sollst nicht das Kind durch abtreiben umbringen und das Neugeborene nicht töten.“ Das war in der Antike eine üblicheForm der Geburtenregelung. Kinder, die man nicht wollte, wurden nach der Geburt getötet oder ausgesetzt. Oder: Sie wurden im Mutterleib abgetrieben. Da sagt die 12-Apostel-Lehre: „Das geht nicht! Dieses Kind hat Gott geschaffen. Sein Leben ist heilig.“ Das Töten des Lebens, ausdrücklich auch des ungeborenen Lebens, gehört zur Kultur des Todes. Als Summe der Verkündigung Jesu und der frühen Kirche stellt die Didache dagegen, eine Kultur des Lebens aufzubauen.

Eine solche Kultur des Todes kann nur mit einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl überwunden werden: „Wir lassen dich nicht allein!“ „Einer trage des andern Last.“ An die Stelle dieser Kultur des Todes kann eine Kultur des Lebens gestellt werden.

Eine 15-jährige regelmäßige Besucherin eines Jugendgottesdienstes, sie war selbst noch Schülerin und stand noch drei Jahre vor dem Abitur, wird schwanger. Der 17-jährige Vater des Kindes will mit Mutter und dem gemeinsamen Kind nichts zu tun haben und setzt sich ab. Da steht die junge Mutter allein da. „Ist ihr Leben jetzt versaut?“ fragt sie sich. Viele raten zur Abtreibung. Aber die eigene Mutter der schwangeren 15-jährigen bietet ihrer Tochter Hilfe an. Sie ist auch alleinerziehend und berufstätig, aber sie hilft ihrer Tochter in allem, obwohl es sie viel Zeit und Kraft kostet. Die Tochter setzt ein Jahr in der Schule aus und kümmert sich, unterstützt von ihrer Mutter, rührend um ihr Kind. Im Umfeld der Kirchengemeinde finden sie auch eine Frau, die bereit ist, als Tagesmutter sich tagein tagaus um das Kleinkind zu kümmern, damit die Mutter ihre Schule abschließen und das Abitur machen kann. Das bedeutet für diese Familie, bei der der Kleine von morgens 7 Uhr bis nachmittags 16 Uhr ist, manche Einschränkung. Die finanziellen Hilfen, die das Jugendamt vermittelt, helfen, diese Last etwas besser zu tragen. Aber alle tragen ihren Teil gern dazu bei, damit das Baby leben kann.

Müssen wir also unser Päckchen alleine tragen? Gerade die ungewollte Schwangerschaft ist eine Nagelprobe auf die Solidarität einer Gesellschaft. Uns allen wächst eine Kraft zu, wenn wir auf das „Gesetz Christi“ schauen, von dem der Apostel Paulus redet. Was ist „das Gesetz, das Christus gegeben hat“ (Basisbibel)? Es ist nichts anderes als das Liebesgebot, das Jesus immer wieder als das grundlegende Gebot bezeichnet hat und von dem auch der Apostel Paulus redet: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“[1]

Jesus lebte ganz aus dieser Liebe, wenn er sich den Ausgegrenzten aus der Gesellschaft seiner Zeit zuwandte: Den mit den Römern kollaborierenden Zöllnern, die als andersgläubig verschrienen Samariter oder manchen halbseidenen Frauen. Mit dieser Liebe begegnete Jesus auch der Frau, die im Ehebruch ergriffen worden war und nach den Gesetzen der Zeit durch Steinigung hingerichtet werden sollte. Er schickte ihre Ankläger fort, verurteilte die Frau nicht, gab ihr aber ein „Sündige hinfort nicht mehr“ mit auf den Weg[2]. In dieser Liebe begegnete Jesus auch den Kindern, die die Mütter zu ihm brachten, damit er sie segnete. Die Jünger wollten die Mütter samt Kindern wegschicken, weil der Meister doch Wichtigeres zu tun hätte, als sich um Frauen und Kinder zu kümmern. Jesus zeigte Müttern und Kindern Wertschätzung, denn Kinder gehören genauso zum Reich Gottes wie Erwachsene. Aus dieser Liebe war er auch bereit, das Kreuz und das Leid auf sich zu nehmen, um Versöhnung für die Sünden einer ganzen Menschheit zu ermöglichen. Täglich können wir seine Liebe erfahren, wenn wir, wie wir es in der christlichen Gemeinde sagen, „an ihn glauben“. Das ist nichts anderes, als in einer geistlichen Gemeinschaft mit Jesus zu leben. Mit dem Jesus, der uns Gottes Angesicht so menschlich gezeigt hat.

Liebe Für-das-Leben-Gemeinde, ich bin gefragt worden, warum ich heute hier predige. Ich tue das, weil ich gern die „Für-das-Leben-Bewegung“ unterstütze. Und das ist notwendig. Im letzten Jahr gab es in Deutschland etwas mehr als hunderttausend Schwangerschaftsabbrüche. Zum ersten Mal seit 2012 ist damit die Zahl der Abtreibungen von einem Jahr aufs andere wieder gestiegen und zwar um 2,5 %. Hunderttausend Schwangerschaftsabbrüche kommen in Deutschland auf knapp achthunderttausend Geburten. Auch wenn es sein kann, dass dieses Jahr die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wieder etwas zurückgeht, ist dauernd die Zahl der Abtreibungen bei uns sehr hoch. [3]

„Für das Leben“, das bedeutet auch: Keiner will einer jungen Frau ihr Leben kaputt machen. Es geht überhaupt nicht um irgendeine Art von Zwang. Das deutsche Recht setzt ganz darauf, dass Frauen und natürlich auch Männer (denn ohne einen Mann gäbe es das Kind nicht) ihre Verantwortung für das heranwachsende Leben freiwillig wahrnehmen. Es ist auch richtig, auf die Freiwilligkeit, auf die Bejahung des von Gott geschenkten Lebens zu setzen. Ohne die Frauen geht es nicht. Nur wenn die schwangeren Frauen ermutigt und gestärkt werden, nur wenn ihnen geholfen wird, werden die Kinder in ihnen und durch sie leben. Deswegen: „Einer trage des andern Last.“

Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Männer anfingen, die Lasten der Frauen mitzutragen. Wenn die Eltern der Eltern die Last ihrer Kinder oder auch ihrer Enkel zu ihrer eigenen Last machen würden, fände manche junge Frau den Mut, ihr Kind zu behalten. Vielleicht können auch die Nachbarn der überforderten Kleinfamilie zur Seite treten. Und auch die Gesellschaft und der Staat sollten die jungen Mütter und Väter nicht allein lassen. Wir brauchen noch ganz andere Unterstützungssysteme. In vielen Kirchengemeinden zum Beispiel finden sich schon jetzt ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Wenn die hohe Zahl von Abtreibungen kleiner werden soll, dann müssen wir alle unsere Verantwortung an den Müttern, den Kindern und den jungen Familien viel intensiver wahrnehmen. Ja, wir brauchen familienfreundliche Arbeitsplätze. Chefs und Arbeitgeber müssen Verständnis für die besondere Last Alleinerziehender aufbringen. Was vor allen Dingen nicht passieren darf, was aber immer wieder passiert, ist, dass am Ende die Frauen alleine dastehen mit ihrem Kind.

Ich verstehe, dass sich viele Frauen allein gelassen fühlen in einer Situation, in die sie nicht allein gekommen sind. Ich verstehe auch noch, dass manche Frauen Wut auf die Kirche haben, wenn sie bisher die Kirche in Fragen der Sexualethik als heuchlerisch empfunden haben. Was ich aber nicht verstehe ist, dass junge Frauen jubeln und grölen, wie nach dem Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft, wenn der gesetzliche Schutz des ungeborenen Lebens wegfällt, wie wir es im Mai in Irland erlebt haben.

Ja, es ist viel falsch gelaufen, vor allen Dingen dann, wenn das Reden der Kirche heuchlerisch erschien. Wir haben uns als Christen und als Kirchen in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten oft mit dem Mund für das Leben eingesetzt, aber nicht mit der Tat. Wir müssen selbstkritisch sagen, wir waren vielleicht häufiger die Vertreter einer bürgerlichen Moral als die Träger der Last von schwangeren Frauen, ledigen Müttern und jungen Familien.

Aber deswegen bleibt doch das Leben von ungeborenen Kindern ein Leben, das Gott geschenkt hat. Jedes Leben, das Gott geschaffen hat, ist heilig. Dieses Leben hat in unserer Gesellschaft, hat in Europa keine Stimme. Die ungeborenen Kinder können nicht für ihr Leben eintreten. Darum ist es so wichtig, dass wir diese Last schultern.

„Einer trage des andern Last.“ Meine Last wird von anderen mitgetragen. Machen wir uns nichts vor, auch die Schwangeren tragen meine Last mit. Ganz naheliegend gilt das etwa im Blick auf die Frage, wer in unsere Rentenkassen einzahlt, und auf den Generationenvertrag. Doch noch mehr: Jedes geborene Kind ist ein Zeichen der Hoffnung in manchmal hoffnungslosen Zeiten. Deswegen wollen wir die Last, die es auch manchmal bedeuten kann, angesichts vieler Anfeindungen für das Leben einzutreten, gerne tragen, denn nur so erfüllen wir das Liebesgebot Jesu. Wir möchten die Liebe, die wir durch Jesus Christus erfahren haben allen weitergeben, die diese Liebe brauchen. Die ungeborenen und die geborenen Kinder und ihre Mütter brauchen sie an erster Stelle.

Amen.

Pastor Dr. Hans-Jürgen Abromeit (Greifswald), Bischof a.D., Berlin am 22. September 2018

 

[1] Vgl. 3. Mose 19, 18; Mk 12, 28–34par.; Römer 13, 8–10; Gal 5, 14.

[2] Vgl. Joh 8, 1-11.

[3] Die genaue Zahl der Geburten im Jahr 2017 lag bei 785000. Auf acht geborene Kinder kommt also ein abgetriebenes.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 29. November 2019 um 12:31 und abgelegt unter Ehe u. Familie, Gesellschaft / Politik, Lebensrecht.