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„Wieder“ – Gedanken zur Wende

Mit einem Fall der Mauer noch zu meinen Lebzeiten habe ich nie gerechnet. Dass sie auf alle Fälle irgendwann einmal fallen würde, wusste ich allerdings schon immer – aus den Geschichtsbüchern, besonders aus dem Buch der Bücher, der Bibel. Und das habe ich unermüdlich gepredigt und auch in Liedern formuliert. 1971 schrieb ich zu der triumphierenden Melodie „Glory, glory hallelujah! das Lied „Freunde, kommt singt Halleluja“, dessen vierte Strophe lautet:

Diese Welt mit ihren Herren muss vergehn.
Hier kann auch der Größte nicht in Ewigkeit bestehn.
Diese Welt mit ihren Herren muss vergehn,
aber unser Herr, der kommt.

Das war ja bei aller Deutlichkeit noch allgemein formuliert. Im Jahr 1989 wurde ich konkreter. Da lautete der Refrain meines Liedes „Freiheit wird dann sein“ so:

Freiheit wird dann sein,
herrlich wird es sein,
Freiheit wird dann sein,
wenn Jesus wiederkommt.
Kein Leid und keine Mauer,
kein Schmerz und keine Trauer,
Freiheit wird dann sein,
wenn Jesus kommt.

Noch heute kriege ich eine Gänsehaut, wenn ich mich erinnere, wie in meinem Karl-Marx-Städter Jugendgottesdienst 3.000 junge Leute Monat für Monat dieses Lied sangen, brüllten, den Mauerfall in der Hoffnung des Glaubens vorwegnehmend.

Als es dann plötzlich und tatsächlich so weit war, saß ich wie Millionen anderer DDR-Bürger heulend vorm Fernseher. Das war emotional einfach nicht zu verkraften – ein jahrzehntelanger Traum erfüllte sich vor unseren Augen! Da flossen die angestaute Anspannung und Angst in einem Strom hilfloser Freudentränen davon. Was ich damals gedacht habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich nichts weiter gedacht als: „Frei! Frei! Frei!!!“

Vielleicht fiel mir auch ein, dass ich jahrelang mit der Angst schlafen gegangen war, irgendwann in der Nacht könnte die Stasi bei mir am Bett stehen und mich verhaften. Diese Angst war plötzlich vorbei. Vorbei! Ich brauchte keine Angst mehr zu haben!

Umso entsetzter bin ich, dass heute, nach 30 Jahren, die Angst wieder da ist und sich über das Land ausbreitet wie eine drückende Decke. Nicht bei mir, sondern allgemein in der Bevölkerung. Nicht vor der Stasi, aber vor vielem, was sich in unserem Staat abspielt. Nach dem Urteil des Historikers Arnulf Baring ist Deutschland, gesteuert durch eine „drohnenhafte Herrschaftskaste“, auf dem Weg in eine westliche „DDR Light“. Aber für so was bin ich vor dem Mauerfall nicht auf die Straße gegangen. Montag für Montag habe ich in Karl-Marx-Stadt vor dem Karl-Marx-Monument, oft bei Eiseskälte, mit Tausenden gestanden, um meine bürgerlichen Freiheiten einzufordern.

Und jetzt – inzwischen als über 80 Jahre alter Mann und Urgroßvater – stehe ich seit Jahren wieder an der gleichen Stelle protestierend vor dem „Nischel“, wie die Leute respektlos  diesen monströsen Karl-Marx-Kopf nennen, und fordere die gleichen Freiheiten, besonders die Meinungsfreiheit, ein. Da stehe ich, begleitet vom hasserfüllten Gelärme und Gepfeife linker Schreihälse, vor deren Gewaltbereitschaft nur ein riesiges Polizeiaufgebot schützen kann, bei dem ich mich regelmäßig für diesen Dienst bedanke. Fassungslos erlebe ich staatlicherseits die Einschränkung der Meinungsfreiheit und kirchlicherseits die sträfliche Unwissenheit, Naivität, Feigheit und Blindheit, z. B. bei der Beurteilung des Islams.

Wohl wissend, dass Mauerfall, Wiedervereinigung und Freiheit göttliche Wunder und Geschenke sind, bin ich überzeugt, dass dieses Geschenk auch geschützt und verteidigt werden muss.

Die endgültige Freiheit wird aber erst sein, „wenn Jesus wiederkommt“. Dass der, dem wir in erster Linie Mauerfall und Freiheit zu verdanken haben, in unserem Land immer weniger zu sagen hat, ist der fatalste und folgenschwerste Fehler Deutschlands seit dem Mauerfall.

Pfr. Dr. Theo Lehmann, Chemnitz

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Aus:
Ralf Kaemper (Hg.)
Mauer.Frei – 30 Jahre danach
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg und idea, 2019
96 Seiten, 3,90 €
ISBN: 978-3-8635-3646-6