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Sprachen wandeln sich immer – aber nie in Richtung Unfug

Hat der Mensch das Schultergelenk erfunden? Natürlich nicht. Und genauso wenig wie sein Knochengestell hat er sich die Grammatik seiner Sprachen ausgedacht. Verfechter der gendergerechten Sprache, die heute ins System eingreifen, begehen aus linguistischer Sicht ein paar fundamentale Denkfehler. Das Wort «Esel» ist grammatisch, aber nicht inhaltlich maskulin: Als Gattungsbezeichnung umfasst es sowohl männliche als auch weibliche Vertreter dieser Tierart. Lange war die Linguistik ein in der Öffentlichkeit wenig beachtetes Fach. Ihre Themen und Inhalte waren den meisten Menschen reichlich egal. Das ändert sich seit einiger Zeit, allerdings nicht immer zum Wohle des Fachs. Ein Höhepunkt ist jedes Jahr die Verkündigung des «Wortes des Jahres» und des «Unwortes des Jahres», bei der immer auch mitgeteilt wird, welche Sprachwissenschafter die Auswahl vorgenommen haben.

Inzwischen kommt es aber noch schlimmer. Sprachwissenschafter und vor allem Sprachwissenschafterinnen werden für die Eingriffe in die Sprache verantwortlich gemacht, die sich allenthalben im Rahmen der Forderung nach sprachlicher Gleichstellung von Männern und Frauen zeigen. Es geht um die sogenannte Gendersprache, die eigentlich gendergerechte Sprache heißen sollte.

Die Vorschläge für eine solche neue Sprache kommen ebenso wenig aus der wissenschaftlich ernstzunehmenden Linguistik wie die Auswahl der (Un-)Wörter des Jahres. Ganz im Gegenteil, die Linguistik könnte, wenn man ihr auch nur ein bisschen Gehör schenkte, den Irrweg der vermeintlich gendergerechten Sprache leichter ans Licht bringen als jede andere Disziplin.

Sieht man sich an, woher die Vorschläge für diese Sprachreform kommen, stößt man zwar in erster Linie auf die Universitäten. Aber an den Universitäten sind es in der Regel keine Linguisten, die das Gendersprach-Projekt befördern. An meiner eigenen Universität, der Universität Konstanz, kommen entsprechende Vorschläge aus dem «Referat für Gleichstellung».

Im Vorspann zu einem geschlechtergerechten Glossar heißt es, die Universität habe sich auf die Verwendung einer gendergerechten Sprache und einer gendersensiblen Gestaltung ihrer grundlegenden Dokumente, der Öffentlichkeitsarbeit und des Marketings sowie der internen Kommunikation verpflichtet.

Worum geht es konkret? Es gibt in diesem Glossar ziemlich autoritär vorgetragene Anweisungen zu Personenbezeichnungen im universitären Kontext. Aus Besuchern werden dort Besuchende oder Gäste, aus Preisträgern werden Preistragende. Und aus Sprechern werden gar Sprechende. Dass hierbei völlig andere und teilweise krass inadäquate Lesarten entstehen, scheint keine Rolle zu spielen. Mit «Sprecher» meint man bekanntlich jemanden in einer administrativen Funktion und keine Person, die gerade redet; bei «Sprechender» ist es gerade umgekehrt.

Eine entscheidende Verwechslung

Fälle wie diese sind oft besprochen worden. Ihre Absurdität bleibt bestehen, auch wenn sich viele schon unter das Joch begeben haben. Es kommt aber noch dicker. Auf der Website der Uni Konstanz findet sich unter anderem der folgende Vorschlag: Anstatt das maskuline Partizip Präsens im Singular zu gebrauchen wie in «Jeder Studierende, der sich bis 1. 1. anmeldet, bekommt Rabatt», sollte man bitte ausweichen auf «Wer sich bis 1. 1. anmeldet, bekommt Rabatt». Dieser Schuss geht in die falsche Richtung.

Das Fragepronomen «wer» ist nämlich irreversibel maskulin Singular. Erschwerend kommt hinzu, dass man mit diesem Pronomen trotz seiner Form immer auch Frauen und Gruppen von Menschen mit erfasst. Das ist eine linguistische Tatsache, an der nichts und niemand vorbeikommt. «Wer hat im Bad seinen Lippenstift vergessen?» fragt mit hoher Wahrscheinlichkeit nach jemandem aus einer Gruppe von Frauen. «Wer hat im Bad ihren Lippenstift vergessen?» bedeutet etwas völlig anderes, nämlich dass der Lippenstift einer explizit anderen Person gehört als derjenigen, nach der gefragt wird.

Das Beispiel des Fragepronomens «wer» verweist schlaglichtartig auf ein gravierendes Missverständnis, das die gesamte Idee einer gendergerechten Sprache für das Deutsche durchzieht. Es ist die Verwechslung von Form und Inhalt, und das, obwohl dieser Unterschied eigentlich schon jedem Schulkind klar ist. Jeder sollte sich dessen bewusst sein, dass Substantive wie «Garten», «Regen», «Nebel», «Steinbruch», «Siegeszug» usw. zwar formal maskulin sind, aber inhaltlich nichts Männliches bezeichnen.

Dass beim grammatischen Geschlecht die maskuline Form dominiert, ist eine Eigengesetzlichkeit der Sprache, die mit Männern, Frauen, Herrschaft und Dominanz nichts zu tun hat. Akzeptiert man das nicht und regt sich darüber auf, sollte man sich ebenso darüber aufregen, dass der Singular gegenüber dem Plural bevorzugt ist. «Wer nehmen an der Kreuzfahrt teil?» ist völlig ungrammatisch, obwohl man fast sicher sein kann, dass das Kreuzfahrtschiff kaum für eine Einzelperson auslaufen wird. Von Empörung wegen einer Diskriminierung des Plurals hat man bisher wenig vernommen, aber dagegen viel von der Empörung wegen der grammatischen Festlegung auf die maskuline Form.

Von Jakobson lernen

Der weit über seine Zeit hinaus bedeutende Linguist Roman Jakobson (1896–1982) hat sich explizit zu dem Thema geäußert. Jakobson gebraucht, wie schon Peter Eisenberg in einem luziden Artikel in der «Süddeutschen Zeitung» dargelegt hat, in seiner Theorie wesentlich den Begriff der «Markiertheit».

Ein Beispiel: Das russische Wort «osel» bedeutet Esel. Es kann einem anderen Wort, nämlich «oslica», gegenübergestellt werden, welches die weibliche Spezies von Esel bezeichnet. Das Wort «osel» ist jedoch, wie Jakobson ausführt, deshalb nicht explizit auf männliche Esel festgelegt. Das Substantiv ist vielmehr eine allgemeine Gattungsbezeichnung; «osel» ist nach Jakobson die «unmarkierte» Form. Mit dieser grammatisch, aber nicht inhaltlich maskulinen Form wird also die weibliche Spezies automatisch mit erfasst. «Osel» und «oslica» jedes Mal zusammen zu nennen, wenn man sich auf Esel welcher Art auch immer beziehen will, wäre völlig unökonomisch und kontraproduktiv. Es würde die Sprache belasten, ohne auch nur den geringsten inhaltlichen Beitrag zu leisten.

Jakobsons Argument überträgt sich ohne Einschränkungen auf das Deutsche. «Student» und «Studenten» bedeuten keine Festlegung auf das natürliche Geschlecht und somit auf männliche Wesen. Diese Substantive sind «unmarkierte» Formen, die den Bezug auf weibliche Wesen, die studieren, automatisch mit einschließen. Erst wenn man betonen will, dass man sich ausschließlich auf die weibliche Spezies beziehen möchte, kommen «Studentin» und «Studentinnen» zum Einsatz. Es gibt demnach, folgt man der unbestrittenen linguistischen Argumentation von Roman Jakobson, keinen Grund, das gute alte Studentenwerk in ein Studierendenwerk umzutaufen.

Im Übrigen wird in der Genderdebatte übersehen, dass es sich bei Nominalkomposita wie «Studentenwerk» oder «Brillengestell» meistens gar nicht um Festlegungen von Genus und Numerus handeln kann. Das Studentenwerk ist bekanntlich für alle Personen da, die an einer Universität eingeschrieben sind.

Wieso aber, so mag man sich dann fragen, Student-en-werk? Die korrekte Antwort ist, dass das -en ein sogenanntes «Fugenmorphem» ist. Ein solches Wortteil (Morphem) wird eingeschoben, weil «Studentwerk» nicht möglich ist und schlicht und ergreifend ungut und kakofonisch klingt. Ein Brille-n-gestell ist in erster Linie kein Gestell, in dem mehrere Brillen aufbewahrt werden, sondern der Rahmen, der die Gläser einer Brille hält und eine Fixierung an den Ohren erlaubt.

Kein natürlicher Wandel

Die Belege sind erdrückend. Und da kommen jetzt auf einmal missionarisch getriebene Sprachklempnerinnen daher und wollen uns erzählen, dass bei «Studentenwerk» ein frauendiskriminierendes Morphem auftaucht, das ungerechterweise nur Männer im Plural bezeichnet und Frauen ausschließt. Man kann sich über so viel Ignoranz nur an den Kopf fassen. Dass diese Ignoranz ausgerechnet in den Universitäten zu Hause ist, wo man alle Chancen der Welt hätte, es besser zu wissen, ist eine beachtliche bildungspolitische und kulturelle Schande.

Ich möchte mich hier nicht in die Reihe der Empörten stellen, die einen Sprachverfall beklagen. Ich gehöre zu denjenigen, die eine unaufhaltsame historische Änderung der Sprache als quasi naturgegeben anerkennen. Das Problem ist, dass die Gendersprache keine aus der Sprache selbst hervorgehende Evolution darstellt, sondern ein von außen aufgesetztes Reförmchen.

Mir sind immer wieder Kommentare unter die Augen gekommen, die die Innovation der Gendersprache mit den historischen Prozessen verwechseln, die uns aus der Entwicklung vom Alt- zum Mittel- und von dort zum Neuhochdeutschen bekannt sind. Nichts könnte falscher sein. Mit natürlichem Sprachwandel hat Gendersprache nicht das Geringste zu tun, denn Sprachen wandeln sich niemals in Richtung Unfug.

Wenn sich Sprachen wandeln – kann der Mensch diesen Wandel denn nicht auch beeinflussen? Sicher: Die Menschen können neue Begriffe für neue Dinge einführen und neue Namen für alte Dinge ersinnen, aber sie konnten nie die Grammatik oder ihr phonologisches System erfinden. Das wäre etwa so absurd, wie zu sagen, dass der Mensch das Schultergelenk oder den Haarwuchs erfunden habe.

Wieso sollte sich jemand einfallen lassen, dass Subjekt und Verb hinsichtlich Person und Numerus übereinstimmen sollten? Und wieso sollten andere Völker diese Erfindung nicht gemacht haben? Und wieso haben viele Sprachen eine Grammatik, in der Genus/Gender überhaupt keine Rolle spielt? In Bengali – das ist immerhin die derzeit siebtgrößte Sprache der Welt – gibt es keinen Genus/Gender-Unterschied. Waren die Bengalen zu dumm, um daran zu denken? Oder war ihnen der Unterschied nicht so wichtig, weil Männer und Frauen in Indien und Bangladesh sowieso schon seit Jahrhunderten gleichberechtigt leben?

Umbenennung ohne Wirkung

Hier kracht es ordentlich im Gebälk der Gender-Baracke. Die Gendersprache folgt einem kruden Funktionalismus, der in allem, was die Sprache bietet, einen für den Menschen wesentlichen «Sinn» sucht. Das ist extrem naiv. Ein Gendersystem ist nicht dazu da, etwas über Männer und Frauen in einer Gesellschaft zu sagen, sondern allenfalls, um eine Beziehung zwischen Wörtern zu stiften, die man «Kongruenz» nennt. Hat sich das ein Komitee ausgedacht? Natürlich nicht. Die einzige wissenschaftlich haltbare Theorie ist diejenige von Noam Chomsky, die lautet, dass Sprache ein Teil der biologischen Welt ist und sich somit im Rahmen der Evolution herausgebildet hat.

Dass im Deutschen das Verb im Nebensatz am Satzende, aber im Hauptsatz an der zweiten Stelle steht, ist von niemandem «erfunden» worden. Das Pronominalsystem einer Sprache, in dem man drei Geschlechter unterscheidet, obwohl man nachweislich auch ohne Geschlechterunterscheidung gut auskommt, kann ebenfalls von niemandem erfunden worden sein. Wir können also sicher sein, dass unsere Sprache nicht menschengemacht, sondern ein Teil der Evolution ist und damit für Eingriffe von unserer Seite gar nicht zur Verfügung steht.

Nun könnte man einwenden, dass das doch alles irrelevant sei angesichts der politischen Schlagkraft, die eine gendergerechte Sprache in der Gesellschaft entfaltet. Auch wenn alles auf einer Fehlanalyse aufgebaut ist, so hat es doch eine irgendwie progressive politische Wirkung, durch die die Frauen über das bisher Erreichte hinaus ihren Weg zur Gleichstellung unumkehrbar machen könnten. Ich fürchte allerdings sehr, dass auch dieses Programm scheitert.

Man weiß, dass Umbenennungen noch nie etwas an den wirklichen Sachverhalten bewirkt haben. Ein Altenheim, das in Seniorenstift umbenannt worden ist, bleibt für die Insassen weiterhin ein reichlich tristes Ambiente. Und da die gendergerechte Sprache nichts anderes ist als eine fehlmotivierte Umbenennung von bestimmten Bezeichnungen, wird sie außer einer Menge stilistischer und ästhetischer Entgleisungen nichts Positives und schon gar nichts Fortschrittliches hervorbringen.

Josef Bayer ist emeritierter Professor für allgemeine und germanistische Linguistik an der Universität Konstanz