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Evang. Aufbruch: Gespräch mit Pfr. Dr. Martti Vaahtoranta

Freitag 23. November 2007 von Evangelischer Aufbruch in Deutschland


Evangelischer Aufbruch in Deutschland

Im Gespräch mit Pfr. Dr. Martti Vaahtoranta, Finnland

 Schon des öfteren haben wir über die Lage und Entwicklungen in den evangelischen Kirchen Nord- und Nordosteuropas berichtet, so zuletzt im Gespräch mit Pfr. Gints Kronbergs aus Lettland (AUFBRUCH III/2006). Einen Einblick in die sich in jüngster Zeit zuspitzende Situation in Finnland gibt in dieser Nummer Pfarrer Dr. Martti Vaahtoranta, der als Missionar für die Finnische Lutherische Mission lange Jahre auch in Deutschland tätig war. Dr. Vaahtoranta ist seit 1986 ordinierter lutherischer Pfarrer und wurde im Jahre 1998 an der Universität Helsinki mit einer Arbeit „Restauratio imaginis divinae. Die Vereinigung von Gott und Mensch, ihre Voraussetzungen und Implikationen bei Johann Gerhard“ promoviert. Er ist überdies Mitbegründer und Forscher am Evangelisch-Lutherischen Religionsinstitut Mannheim (ELRIM, www.elrim.org), verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder.

AUFBRUCH: Herr Pfr. Vaahtoranta, seit geraumer Zeit erfährt man bei uns in Deutschland immer wieder beunruhigende Dinge aus den Kirchen Nordeuropas. Vorreiter im Unguten schien oftmals Schweden zu sein, aber seit neuestem gibt es auch in Finnland Anlaß zu ernster Besorgnis. Können Sie unseren Lesern die kirchliche Lage in Ihrem Land zunächst allgemein schildern?

Dr. Vaahtoranta: Die finnische evangelisch-lutherische Kirche, der die Mehrheit der finnischen Bevölkerung nach wie angehört, ist seit Anfang des 19. Jahrhunderts etwas selbständiger als die anderen nordischen Kirchen, die lange Zeit „Staatskirchen“ im engeren Sinne waren oder es noch sind. Nach der Eroberung Finnlands durch Rußland, mit der das Land die Verbindung zu seinem alten Mutterland Schweden verlor, wurde der Bischof von Turku (wenn auch als primus inter pares unter den anderen Bischöfen) zum Erzbischof erklärt; denn der russische Zar, selbst Oberhaupt der orthodoxen Kirche seines Landes, konnte diese Funktion natürlich nicht übernehmen. Damit war für die finnische lutherische Kirche das direkte Staatskirchentum beendet.

Martti VaahtorantaTrotzdem war und ist diese Kirche – deren geistliches Leben, wie auch sonst im Norden, stark vom älteren und neueren Pietismus geprägt ist – doch mehr als nur eine „Volkskirche“, wie man offiziell gerne behauptet. Dafür ist die Verbindung zwischen Staat oder besser Gesellschaft und Kirche ist viel zu eng. Problematisch ist dies besonders deshalb, weil man in Finnland in den letzten Jahrzehnten in einem sehr schnellen Tempo eine tatsächlich christlich geprägte Kultur hinter sich gelassen hat. Dies bedeutet, daß das Wort Gottes, anders als noch in meiner Kindheit, in der Öffentlichkeit heute kaum noch eine Bedeutung und Autorität hat.

Auch die Zahlen beim Gottesdienstbesuch sind rapide gesunken. Zwar waren sie in Finnland nie sehr hoch, weil es in den Kirchengemeinden oft große Einzugsgebiete mit riesigen Entfernungen zur Kirche gibt. Aber nur schon während der Jahre, die wir nach 1996 in Deutschland verbracht haben, war der Einbruch zu beobachten, und besonders in den größeren Städten ist es in den letzten Jahren auch zu einer Welle von Kirchenaustritten gekommen. Und auch die Mehrheit der Noch-Mitglieder besucht die Gottesdienste nicht mehr: regelmäßige Kirchgänger dürften auch zusammen mit denjenigen, die statt der Kirche pietistische Gemeinschaften besuchen oder auch ihren Glauben ganz alleine praktizieren, heute nur noch 5 bis 7 Prozent aller Kirchenmitglieder sein, in den großen Städten auch weniger. Zwar gehören so die meisten Menschen in Finnland noch immer zur Kirche, aber „gläubig“ will man unter keinen Umständen sein, und sozial gilt ein Kirchenbesuch nur noch in Ausnahmefällen als „erlaubt“. Man zahlt seine Kirchensteuern, und im Gegenzug kümmert sich die Kirche um die Taufe der Kinder, dann um den Konfirmandenunterricht (der sehr populär ist und meistens in etwa zweiwöchigen „Camps“ stattfindet), dann um eine oder auch mehrere aufeinander folgende Trauungen sowie zuletzt um die Bestattung der Kirchensteuerzahler. Anderweitige Kontakte zur Kirchgemeinde, zu der man gehört, gibt es für die meisten nicht. Diese Situation wird von vielen auch noch als Normalfall gesehen, und es wird oft behauptet, daß ein „Praktizieren“ des Glaubens, zumindest in Form des Gottesdienstbesuchs, für das Christsein gar nicht nötig sei. Es soll angeblich eine besondere „finnische“ – innige, geborgene, private – Art und Weise des Glaubens geben, und deshalb sei es gar nicht schlimm, wenn die Kirchen zu den Gottesdienstzeiten leer bleiben. Mit Gründen dieser Art wird die „zahlende Mehrheit“, der die Offenbarung Gottes in der Regel so wenig bedeutet wie die konkrete Gottesdienstgemeinde, von den Meinungsführern der Gesellschaft, aber auch von manchen Machthabern in der Kirche, ohne weiteres zu Christen und mündigen Gemeindegliedern erhoben. Dies aber hat, wie ich denke, entscheidend dazu geführt, daß inzwischen die Kirche ihre Autorität nicht mehr im Wort Gottes „von außen“ her findet, sondern sie – trotz der offiziellen Bekenntnisbindung der Kirche (das lutherische Bekenntnis inklusive der Konkordienformel) – in der Gesellschaft und deren Normen begründet sieht, wobei diese Normen dann in der weltlichen Gesetzgebung und den Überzeugungen des normalen Bürgers gesucht werden. Es gibt mithin eigentlich keine Offenbarung mehr, die einen Ursprung außerhalb der Gesellschaft und den Menschen mit ihren religiösen Empfindungen hätte. Deshalb, so die Mehrheitsmeinung, „darf“ die Kirche, zumindest im moralischen Bereich, auch nichts lehren, was nicht jeder Mensch von sich aus glauben und verstehen könnte.

Natürlich gibt es daneben auch noch dem Wort Gottes treue Gemeinden und Pfarrer, außerdem aktive pietistische Organisationen mit teilweise eigenständigen Gottesdienstgemeinden, mit Bibel- und Gebetskreisen, eigener Jugendarbeit und Konfirmandenunterricht. Es gibt sogar ganze Gegenden, in denen die alte Einheitskultur noch lebt. Doch der Trend geht heute in eine andere Richtung, und die Bibel- und Bekenntnistreuen werden allenfalls noch geduldet, manchmal freilich auch das nicht mehr!

AUFBRUCH: Um bei den „Grenzen der Duldung“ anzusetzen: in jüngster Zeit scheint es vor allem Maßnahmen gegen Gegner der Frauenordination zu geben. Können Sie das bestätigen?

Dr. Vaahtoranta: Auf jeden Fall, und zwar gilt dies besonders seit etwa einem Jahr. In der finnischen Kirche wurde die Frauenordination erst nach einem langen Kampf Ende der 80er Jahre eingeführt, und zwar mit der ausdrücklichen Klausel, daß auch die Gegner der Frauenordination nach wie vor die Freiheit haben sollten, in der Kirche zu leben und zu arbeiten. Für sie war und ist diese Frage – das Geschlecht des Pfarrers – nämlich etwas, was kein „Adiaphoron“, also etwas Gleichgültiges ist, es hat vielmehr direkt mit dem Glauben zu tun und gehört darum in den „Bereich des Evangeliums“ hinein. Die Befürworter dieser Neuerung hielten sie dagegen für etwas, was um der Liebe willen nun an der Zeit sei und mit dem Glaubensinhalten nichts zu tun hätte.

Zwar war es auch mit dieser Klausel schon lange sehr schwer für diejenigen unter den Frauenordinationsgegnern, die sich weigerten, zusammen mit einer Pfarrerin im Gottesdienst zu amtieren, eine Stelle in der Kirche zu bekommen. Doch inzwischen hat der Streit dadurch enorm an Intensität gewonnen, daß vor einem Jahr eine kirchliche Kommission ausdrücklich empfohlen hat, in dieser Frage der weltlichen Gleichstellungsgesetzgebung zu folgen. Es seien jetzt keinerlei Kompromisse mehr möglich; auch im Einvernehmen aller Mitarbeiter in einer Gemeinde dürfe man zum Beispiel Arbeitspläne nicht so gestalten, daß Gegner der Frauenordination nicht zusammen mit Pfarrerinnen amtieren müßten, denn darin läge eine „indirekte Diskriminierung“. Ja auch dann, wenn die Pfarrerinnen damit einverstanden wären, daß die Betroffenen nicht mit ihnen zusammen amtieren, dürfe keinerlei Rücksicht auf die Gewissen der Gegner genommen werden. Damit aber hat eine weltliche Ideologie über das Wort Gottes und auch über die Gebote der Liebe Oberhand gewonnen. Ganz gleich, wie viel Opfer dies fordert: „Gleichheit“ muß hier mit aller Macht durchgesetzt werden.

Dies hat man in der Tat auch in einigen Gemeinden sofort zu tun versucht. Das Gewissen, so heißt es, sei nach wie vor frei, doch dürfe sich seine Überzeugung in keiner Weise in der Amtsausübung äußern. In diesem Zusammenhang wurden dann auch gegen einige Pastoren Disziplinarmaßnahmen durch die Domkapitel (das vom Bischof geleitete Führungsgremium einer Diözese) eingeleitet, ja als letzte Zuspitzung – und zugleich als Beweis dafür, daß wir nach wie vor praktisch eine Staatskirche haben – wurde gegen zwei Pfarrer und eine Laienaktivistin auch vor einem weltlichen Gericht Klage wegen Verstoßes gegen das Antidiskriminierungsgesetz erhoben. Einer der Angeklagten hatte sich geweigert, zusammen mit einer Pfarrerin in einem Gottesdienst zu amtieren, hatte aber angeboten, selber auszuweichen und den Platz der Pfarrerin zu überlassen. Der andere Pfarrer hat als Vorgesetzter diese „Diskriminierung“ nicht verhindert, und die dritte Person, die Laienaktivistin, dürfte nur deswegen angeklagt worden sein, weil sie – wie ich vermute; ich habe die Akte nicht selbst gesehen – bei der Organisation des betreffenden Gottesdiensts überhaupt danach gefragt hatte, ob auch eine Pfarrerin am genannten Sonntag Dienst tun würde.

AUFBRUCH: Und wie sieht es in der leidigen Frage der „Segnungen“ für gleichgeschlechtliche Paare aus? Gibt es hier Beschlüsse von kirchenleitenden Gremien? Und was bedeuten sie in der Praxis?

Dr.Vaahtoranta: Bis jetzt sind diese „Segnungen“ in der finnischen Kirche nicht möglich. Dennoch hat zumindest eine Pfarrerin sie bereits durchgeführt, sie wurde indes vom zuständigen Bischof nicht gerügt, weil sie angeblich „inoffiziell“, nicht im Rahmen ihres Amtes gehandelt habe. Ich gehe jedoch davon aus, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis man die „Segnungen“ nicht mehr „inoffiziell“ vornehmen muß. Alles deutet darauf hin, daß es bald ganz offiziell zu diesen „Segnungen“ kommen wird. Zugleich damit dürfte auch das Weigerungsrecht der Pfarrer fallen, denn das Gewissen steht, wie es heißt, nicht über der Dienstordnung, und „wenn“ – so heißt es schon jetzt im Falle der Frauenordination – „die Kirche etwas beschlossen hat, muß man gehorchen“ – ganz gleich, was das Wort Gottes und die lutherischen Bekenntnisschriften dazu sagen.

AUFBRUCH: Haben Sie den Eindruck, daß bei der „Disziplinierung“ der an der Bibel und dem Bekenntnis orientierten Theologen Kirche und Staat sich gegenseitig zuarbeiten – etwa mit Hilfe von Antidiskrimierungsgesetzen, die ja auch von der EU gewollt sind?

Dr. Vaahtoranta: Nach dem schon Gesagten in jedem Fall! Die finnische evangelisch-lutherische Kirche hat vor dem Staat bzw. vor dem staatlichen Antidiskriminierungsgesetz kapituliert, obwohl dies gar nicht nötig gewesen wäre. Denn laut Gesetztext sind die kirchlichen Gemeinschaften von der Anwendung dieses Gesetzes ausgenommen, wie in der Praxis auch die Beispiele der finnischen orthodoxen und der (bei uns zwar winzig kleinen) römisch-katholischen Kirche beweisen!

AUFBRUCH: Wie stark schätzen Sie in der akuten Situation das kirchlich-konservative Lager in Finnland tatsächlich ein? Wie ist es organisiert? Gibt es die Chance, daß sich auch in Ihrem Land eine bekennende Kirche formiert?

Dr. Vaahtoranta: Wir haben schon eine „bekennende Kirche“, die aber sehr vielfältig und „bunt“ und darüber hinaus bis jetzt kaum organisiert ist. Alles deutet aber darauf hin, daß die Schwierigkeiten oder sogar Verfolgungen auch etwas Positives mit sich bringen: Man kommt sich näher. Die verschiedensten Gegner der neuesten Entwicklungen in der Kirche – alte und neue Pietisten mit ihren jeweils eigenen Betonungen, Evangelikale, „Bekenntnislutheraner“ wie auch die „Hochkirche“ – rücken immer näher zueinander. Besonders für die Jugend bedeuten diese alten Grenzen oft wenig, und dem Wort Gottes treu will man zusammen in die gleiche Richtung gehen. So sehe zumindest ich die Lage, vielleicht etwas optimistisch, doch vielleicht auch nicht unbedingt falsch. Zumindest tut sich etwas …

AUFBRUCH: Woraus schöpfen Sie persönlich am meisten Hoffnung für die Zukunft Ihrer Kirche?

Dr. Vaahtoranta: Ich lebe von den Verheißungen Gottes, von Christi Wort, dem zufolge wir zwar immer eine kleine, verfolgte Schar bleiben werden, doch ist gerade uns armen Sündern auch ohne äußere Macht und Ehre das Reich Gottes versprochen. Ich verlasse mich auf das Wort und die Sakramente wie auch auf den Heiligen Geist, der immer und überall durch die Gnadenmittel Gott eine Gemeinde und Christus Seine Braut sammeln wird, bis wir zusammen mit allen Gläubigen aller Zeiten die Hochzeit des Lammes im Himmel ewig feiern dürfen.

AUFBRUCH: Sie sind vor kurzem nach einem Dienst in Deutschland, der sie auch unter Muslime geführt hat, in Ihre finnische Heimat zurückgekehrt. Haben Sie einen besonderen Ratschlag, ein besonderes Anliegen an die Christen in Deutschland?

Dr. Vaahtoranta: Ich lebe seit Anfang Juli wieder in Finnland, arbeite aber nach wie vor auch in Deutschland als Forscher beim Evangelisch-Lutherischen Religionsinstitut Mannheim (ELRIM) mit. Allen Christen in Deutschland möchte ich sagen: Bleibt dem Wort Gottes treu! Und tretet näher zu dem Kreuz Christi – dieses Kreuz aber sehe ich am deutlichsten in der lutherischen Kirche und in der lutherischen Messe leuchten. Liebt herzlich alle Menschen, vor allem aber die Brüder und Schwestern im Glauben! Und vergeßt die Muslime unter euch nicht! Nehmt die theologisch-missionarische Herausforderung des Islams auf! Habt dabei keine Angst vor den Muslimen, sondern werbt um sie mit dem Evangelium Christi!

AUFBRUCH: Herr Pfr. Vaahtoranta, wir danken Ihnen für dieses Gespräch und wünschen Ihnen und Ihrer Familie für Ihre verschiedenen Dienste Gottes reichen Segen!

Zuerst erschienen in: AUFBRUCH – Mitglieder- und Freundesbrief des EAD, Oktober 2007

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 23. November 2007 um 19:26 und abgelegt unter Christentum weltweit, Interview.