Idea-Interview mit Prof. Klaus Berger
Donnerstag 23. Dezember 2004 von idea e.V.
“Es begab sich aber zu der Zeit …“ beginnt die Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas. Bei vielen Universitätstheologen haben Lukas und seine Kollegen allerdings keinen guten Ruf weil ihre Berichte an zahlreichen Stellen für Legenden gehalten werden. Eine Ausnahmeerscheinung unter den Theologieprofessoren ist der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger. Er vertritt in seinem neuen Jesus-Buch die Ansicht, daß es gute Gründe gibt, den biblischen Autoren zu vertrauen gerade auch in ihrer Ãœberlieferung der Weihnachtsereignisse. idea-Reporter Marcus Mockler sprach mit Berger über den Wahrheitsanspruch biblischer Autoren und über Irrtümer in modernen Jesus-Bildern.
idea: Herr Prof. Berger, in Ihrem neuen Jesus-Buch werben Sie dafür, die “Fremdheit“ biblischer Texte wieder ernst zu nehmen und nicht alles als erfunden zu betrachten, was nicht in unser Verständnis paßt. Weihnachten bietet genügend “Fremdes“, zum Beispiel die Geburt eines Kindes durch eine Jungfrau. Glauben Sie an die Jungfrauengeburt?
Berger: Ja, ohne Wenn und Aber. Das unterscheidet mich total von meinen Fachkollegen. Die Kollegen sagen fast ausnahmslos: Von der Verkündigung Mariens, daß sie ein Kind empfangen soll, über den Engelschor in der Heiligen Nacht bis zum Kindermord in Bethlehem sei alles Legende; es sei nichts wahr. Ich sage: Auf dem Hintergrund der judenchristlichen Überlieferung ist ein Bericht über Engel kein Indiz dafür, daß ein Bericht nicht wahr ist.
idea: Von 100 Hochschultheologen in Deutschland halten wie viele die Weihnachtsgeschichte für wahr?
Berger: Vielleicht zwei.
idea: Aber welcher Pfarrer möchte seiner Gemeinde an Heiligabend erzählen, daß fast nichts an dem Bibeltext wahr ist, den er gerade vorgelesen hat?
Berger: In etwa so läuft es, wenn ein Theologiestudent nach dem ersten halben Semester zum Fest nach Hause kommt und seiner Familie erklärt: “Ich habe was Neues gelernt. Die Sache mit Bethlehem und mit der Jungfrauengeburt stimmt gar nicht.“ Die Familie wird sagen: “Du kannst Deine Weisheiten für Dich behalten, wir wollen Weihnachten feiern.“ Die historisch-kritische Methode wird als destruktiv empfunden und seelsorgerlich bringt sie gar nichts. Und sie geht von einseitigen Voraussetzungen aus. Wenn man im Studium lernt “Engel gibt es nicht“, dann ist das eine unzulässige Einschränkung der Wirklichkeit.
idea: Warum halten Sie die neutestamentliche Überlieferung für verläßlich?
Berger: Weil die Autoren der Bücher nicht für ihre eigenen Fiktionen in den Märtyrertod gegangen wären. Das würde doch niemand machen: ein Martyrium auf sich nehmen für etwas, was man sich bloß ausgedacht hat. Meiner Meinung nach erheben die Evangelien alle den Anspruch, vor Gericht belegbar zu sein. Insbesondere das Johannes-Evangelium, dem man ja in der Wissenschaft am wenigsten zutraut. Die moderne Theologie geht von einem Grundverdacht des Betruges aus, als stehe hinter den Evangelien fast überall der Schreibtischtäter, der sich irgendwas ausdenkt. Die Situation der ersten Gemeinden war ganz anders: Sie mußten damit rechnen, wegen der Botschaft vor Gericht zu stehen.
idea: Warum überzeugt Sie die Mehrheitsmeinung nicht, bei der Jungfrauengeburt handele es sich um eine Legende?
Berger: Exegeten behaupten, die Jungfrauengeburt sei die Nachbildung eines Mythos aus der griechischen Welt, wo Götter mit menschlichen Frauen Ehebruch begehen und dabei berühmte Männer zeugen, etwa Alexander den Großen. Im Neuen Testament weht ein völlig anderer Geist, da ist von solchen Betrugsmanövern nicht die Rede. Vielmehr steht die Entstehung Jesu durch den Heiligen Geist im Zusammenhang mit der alttestamentlichen Tradition. Schon bei den Propheten heißt es, daß sie von Mutterleib berufen sind; bei Johannes dem Täufer heißt es dann, daß er von Mutterleib mit dem Heiligen Geist erfüllt ist (das ist schon mehr); und bei Jesus, daß er durch den Heiligen Geist entstanden ist. Warum sollte die Gemeinde auf die Idee kommen, Jesus mit irgendwelchen Halbgöttern zu vergleichen?
idea: Wie sieht es mit dem Kindermord von Bethlehem aus? Kritiker sagen, es habe ihn nie gegeben, weil keine außerbiblische Quelle darüber berichte.
Berger: Die traditionelle Auslegung (Exegese) setzt voraus, daß alles in der Bibel erlogen ist, zu dem es keine außerbiblische Parallele gibt. Diese Grundvoraussetzung ist überaus anfechtbar. Es gehörte damals zur Politik, sich auf diese Weise seiner Rivalen zu entledigen. Das ist gerade fürs erste Jahrhundert belegt. Warum sollte Herodes, von dem auch sonst nichts Gutes berichtet wird, das nicht gemacht haben? Die Berichte der Evangelien sind bis zum Beweis des Gegenteils für wahr anzusehen.
idea: Woher kommt dann dieses abgrundtiefe Mißtrauen sehr vieler Theologen, die den Wahrheitsgehalt der Bibel noch niedriger ansetzen als den anderer historischer Texte?
Berger: Das ist die Grundannahme des “Priesterbetruges“, die bei uns seit dem Hamburger Philosophen Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) herrscht und behauptet: Jesus sei einfach ein guter Mensch gewesen, alles andere hätten Kirchenleute hinzugedichtet. Seitdem kämpft die aufgeklärte Exegese gegen die Kirche. Ziel ist zu zeigen: Die Priester (bzw. Kirchenvertreter) sind Lügner und Betrüger. Das gipfelt nun in neuesten amerikanischen Forschungsthesen, die besagen: Vielleicht gibt es überhaupt kein echtes Jesus-Wort. Solche Aussagen gelten als flott, sind aber völlig willkürlich.
idea: Was fasziniert Sie als Neutestamentler an Weihnachten?
Berger: Das, was schon Lukas fasziniert hat, der die Geburt Jesu beschreibt. Mit der Adressierung der Botschaft an Hirten und andere einfache Menschen wird deutlich, daß Gottes Herrschaft ganz anders kommt als sonst Herrschaft auf der Welt, nämlich auf eine friedvolle Weise, die bei Lukas schon Züge einer Idylle hat. Es ist eine Art Vorwegnahme des Heiles, Appetithappen auf das, was Gott mit uns vorhat.
idea: Populäre Jesus-Bilder gab es in den vergangen Jahrzehnten viele: Jesus, der wahre Pazifist; Jesus, der neue Mann; Jesus, der Frauenversteher. Warum lehnen Sie diese Jesus-Bilder ab?
Berger: Weil man bei ihnen mit Händen greifen kann, daß es sich um bestimmte Modetrends handelt, die Jesus angeblich in Vollkommenheit verkörpert hat. Solche Theologie ist mir grundsätzlich verdächtig, weil sie meistens nur vom Menschen redet und nicht von Gott. Hier geht es um menschliche Wunschvorstellungen, die den Evangelien nicht standhalten. Jesus war nicht nur Pazifist. Die Händler vertreibt er mit Gewalt aus dem Tempel. Er ist auch nicht nur “lieb“, denn er redet vom Gericht, verflucht den Feigenbaum, setzt Zeichen zur Bekämpfung des Bösen.
idea: Besonders unbequem ist ein Abschnitt in Ihrem Jesus-Buch, wo Sie schreiben, Jesus würde sich heute vehement gegen Abtreibung aussprechen. Was macht Sie da so sicher?
Berger: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Schöpfer, will bedingungslos das Leben, und er begegnet den Menschen immer wieder als Arzt. Auch Jesus tut das. Es ist nicht Aufgabe eines Arztes, Leben zu vernichten. Daß in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren, die nachweislich die reichste und verfressenste aller Jahrtausende ist, Argumente wie “sozialer Härtefall“ zu hören sind, ist angesichts der Bibel und der Armut der Menschen zu biblischen Zeiten ohnehin nicht zu rechtfertigen. Bei uns muß niemand verhungern. “Wem Gott das Häschen gibt, dem gibt er auch das Gräschen“, sagt man in Ostfriesland. Das ist eigentlich eine christliche Weisheit.
idea: Welche falschen Jesus-Bilder entdecken Sie in der evangelikalen Bewegung?
Berger: “Die Evangelikalen“ gibt es ja nicht. Neulich habe ich eine ganze Woche mit landeskirchlichen Laienpredigern verbracht. Deren Offenheit für die Begegnung mit der Bibel hat mich so beeindruckt, daß ich denen gesagt habe: “Wenn das, was Sie vertreten, Pietismus ist, dann bin ich auch Pietist.“ Manche theologisch Konservative scheitern daran, daß sie Bibelstellen aus dem Zusammenhang greifen. Wer nur auf die Gerichtsaussagen des Neuen Testaments schaut, der hat Probleme, an die Barmherzigkeit zu glauben. Bibelstellen ohne Sinn und Verstand zu isolieren und sie ihrem Zusammenhang zu entreißen, erzeugt viele Probleme. Manchmal werden daraus auch Patentlösungen entwickelt, die zu einfach sind.
idea: Sie ziehen in Ihrer Arbeit immer wieder apokryphe Schriften hinzu. Antike Texte, die auch über Jesus schreiben, von der Kirche aber nicht als Gottes Wort anerkannt wurden, etwa das Thomas-Evangelium. Was fasziniert Sie an diesen Quellen?
Berger: Als Exeget sollte man die Apokryphen einfach kennen. Man darf das Neue Testament nicht isolieren, sondern man muß fragen, was darüber hinaus in den ersten beiden Jahrhunderten entstanden ist. Das kann sehr nützlich sein. Ich bin aber nicht dafür, den Kanon (Umfang) biblischer Bücher zu erweitern.
idea: Umgekehrt wären Sie wohl auch nicht dafür, diesen Kanon einzuschränken und Bücher aus der Bibel zu entfernen?
Berger: Nein, aber das geschieht fortwährend in der Theologie. Ich kenne keinen Exegeten, der den Kanon des Neuen Testamentes wirklich ernst nimmt. Die Offenbarung des Johannes, der Hebräerbrief und der Judasbrief stünden wohl ganz oben auf einer “Streichliste“ moderner Neutestamentler. Auch das Johannes-Evangelium hält man für historisch völlig unglaubwürdig. Meiner Meinung nach müssen wir um jeden Preis den ganzen Kanon zusammenhalten. Und aus diesem Grund bin ich in Heidelberg der einzige, der in den vergangenen 30 Jahren über alle neutestamentliche Schriften Vorlesungen gehalten hat.
idea: Für einen Theologieprofessor etwas ungewöhnlich werben Sie für eine Wiederentdeckung der Mystik. Warum?
Berger: Zunächst: Mystik ist nicht Augenverdrehen, nicht abseitige Spekulation und nicht magische Manipulation; sondern von der Seite des Menschen her ist es Beten, von der Seite des Himmels her, daß wir gesegnet werden und das Eingreifen Gottes erleben. Die Wirklichkeit Gottes darf nicht zu bloßer Humanität verdünnt werden.
idea: Wie sieht Mystik bei Ihnen praktisch aus?
Berger: Ich bete morgens, mittags und abends das Stundengebet der Zisterzienser, das ja ähnlich – nach Augustinerregel – auch Martin Luther sein Leben lang vollzogen hat. Es ist eine Frage der eigenen Glaubwürdigkeit, ob man nur über Gott redet oder auch mit ihm spricht. Ohne diesen Lebenszusammenhang kommt das langweilige Theologengezänk heraus, das wir in der Wissenschaft erleben.
idea: Ist die neutestamentliche Theologie an den Universitäten wirklich so langweilig?
Berger: Wenn meine Frau abends nicht einschlafen kann, frage ich sie nur: “Soll ich Dir mal aus meiner Dissertation vorlesen?“ Schon der bloße Gedanke daran läßt sie einschlummern. Meine in den 60er Jahren entstandene Dissertation ist in der Weise klassischer Exegese geschrieben. Bei den meisten Professoren geht es über Quellenfragen, Textunterscheidung, Behandlung der Einwände wissenschaftlicher Gegner und Fußnoten nicht hinaus. Mich hat das unbefriedigt gelassen, denn die Studenten haben mich immer wieder nach meinem eigenen Standpunkt befragt. Und meine Erfahrung ist, daß das einzige, was die Studenten behalten, die persönliche Grundeinstellung ihres Professors zur Bibel ist.
idea: Über Ihre Konfession ist immer wieder Verwirrendes zu hören. Es heißt, Sie seien der einzige Katholik, der an einer evangelischen Fakultät lehren dürfe. Wo bezahlen Sie denn nun Ihre Kirchensteuer?
Berger: Bei der evangelischen Kirche. Aber ich bin nicht freiwillig zur evangelischen Kirche gekommen, sondern durch das Verhalten der katholischen Fakultät in München bei meiner Promotion. Man hat mir damals falsche Lehren vorgeworfen, dabei sind genau diese Lehren seit 1991 Teil des katholischen Weltkatechismus. Ich betrachte mich als Exil-Katholiken. Ich komme mir dabei aber viel lutherischer vor als die meisten meiner Fakultätskollegen.
idea: Wobei Sie mit Ihren Ansichten sicher auch in der katholischen Theologie in Deutschland keineswegs salonfähig wären.
Berger: Ich hätte keine Chance, an eine katholische Fakultät berufen zu werden, weil ich für die zu konservativ bin. Mein Jesus-Buch hat jetzt schon bei katholischen Professoren stürmischen Protest hervorgerufen. Die meinen, sie müßten progressiver sein und die Protestanten links überholen. Und sie behaupten, Berger habe vieles “noch nicht“ kapiert. Dabei habe ich das längst hinter mir. So wie der breite Strom der Exegeten habe ich früher auch einmal gedacht, aber das ist 40 Jahre her.
idea: Wenn heute Jesus Christus sichtbar vor Ihnen stünde, was würde der Neutestamentler Klaus Berger ihn fragen?
Berger: Ich bin Jesus gegenüber nicht von Neugierde geplagt, dazu sind mir die Einzelheiten zu unwichtig. Wenn ich Jesus begegne, werde ich nicht wissenschaftliche Fragen klären, sondern sagen: “Gott sei Dank, da bist Du!“
idea: Wir danken für das Gespräch.
idea-Spektrum Nr. 52/53 vom 22.Dezember 2004
Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 23. Dezember 2004 um 19:05 und abgelegt unter Interview.