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Zivilreligion oder Nachfolge Jesu Christi?

Jedem wachen Zeitgenossen wird es erstaunlich sein, in wie kurzer Zeit sich die ethischen Werte und Anschauungen in Kirche, Staat und Gesellschaft geändert haben. So wird etwa der Schutz des menschlichen Lebens immer mehr abgebaut; auch die Ehe und Familie, wie sie die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, nicht erfunden, sondern als naturrechtlich vorgegeben anerkannt und geschützt haben, neu definiert. Wer sich für diese Werte einsetzt, der merkt, dass ihm ein Geist der Intoleranz ins Gesicht bläst. Die Meinungsäußerung ist nicht mehr so frei wie vor einigen Jahren für den, der nicht die Mainstream-Meinung vertritt. Auch totalitäres Denken, das nicht mehr so viel weiß von der Würde der Person und ihren Rechten, greift um sich. In staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen ist es in der Praxis nicht mehr so selbstverständlich, dass keine ideologische Indoktrination geschieht. Leider ist die Evangelische Kirche in Deutschland kein Bollwerk dagegen, sondern teilweise sogar Schrittmacher, wie zum Beispiel auch ihre Äußerungen zum veränderten Begriff von Ehe und Familie zeigen.

Auffallend sind auch die schon geschehenen oder geplanten strukturellen Veränderungen in den Kirchen und Gemeinden innerhalb der EKD, etwa die Reduzierung der Pfarrstellen und die Zusammenlegung von Gemeinden. Und dann ist da die Einführung der Segnung von homosexuellen Paaren in vielen Landeskirchen, obwohl das nach der Bibel nicht möglich ist.

Ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis dieser Vorgänge ist das Stichwort „Zivilreligion“. Eigentlich ist eine solche vom Grundgesetz unseres Staates für diesen nicht zugelassen, und doch wird vor ihrer Existenz ausgegangen – und wenn man die Lage genauer betrachtet, ist sie sehr wirksam. Ein kleines, aber erhellendes Beispiel:

Als am 3. Februar 2009 Bundeskanzlerin Angela Merkel sehr drastisch Papst Benedikt XVI. verbal angegriffen hat und auch weltliche Presseorgane diese Einmischung in innerkatholische Belange kritisierten, schrieb Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung vom 05.02.2009 einen Kommentar unter der Überschrift „Wir wollen nicht mehr Papst sein“, in dem es unter anderem heißt: „Die Kanzlerin hat mit ihrer Ermahnung richtig gehandelt, und sie hatte, anders als dies nun mancher Bischof insinuiert, alles Recht dazu. Dies ist keine Einmischung in die Angelegenheiten der katholischen Kirche, sondern die Antwort darauf, dass der Papst gegen die Religion verstoßen hat, nämlich gegen die Zivilreligion, die in diesem Land gilt. Jean-Jacques Rousseau hat in seinem ‚Gesellschaftsvertrag‘ 1762 den Begriff von der Zivilreligion geprägt. Die Zivilreligion soll als konsensuales Glaubensbekenntnis der Bürger zu ihrem Staat nicht nur religiöse Konflikte verhindern, sondern den Gesellschaftsvertrag, die Toleranz und die Herrschaft der Gesetze sichern.“

Hier wird also für Deutschland eine Zivilreligion vorausgesetzt, eine zivile Ober-Religion, der sich andere, selbst die katholische Weltkirche, unterzuordnen haben. Und damit man auch weiß, was gemeint wird, wird auf Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag Bezug genommen.

Rousseau hatte sich, wie andere in der Zeit der Aufklärung, was den Staat betrifft von den bisherigen Lehren der gottgegebenen Ordnung verabschiedet. Aber das war jenen Denkern klar: Die bisherige Staatsideologie, die ja religiös war, lässt sich nicht einfach ersatzlos streichen; um einen Staat zu leiten, braucht es leitende Werte, ja noch mehr, religiöse Vorstellungen. Das Christentum war dazu aber nach Rousseaus Meinung schon deshalb nicht geeignet, weil in diesem die oberste Loyalität Jesus gehört und nicht dem weltlichen Staatsoberhaupt und es dann zu Autoritätskonflikten kommen kann, wenn nämlich der Staat oder sein Regent etwas will, was dem Willen Jesu widerspricht.

Schon Rousseau zeigt also: Wer Nachfolger Jesu sein will, kann sich nicht einer zivilen Oberreligion unterordnen, genauso wenig, wie es die Christen im Römischen Reich taten. Denn Kirche ist nicht – wie Wolfgang Huber sagte[1] [1] -, „die Fortsetzung des Staates mit religiösen Mitteln“ (das wäre das zivilreligiöse Verständnis), sondern ihr Haupt und Herr ist Jesus Christus, dessen Reich „nicht von dieser Welt“ ist (Joh 18,36).

In seiner genannten Schrift „Du Contract Social“ (Vom Gesellschaftsvertrag) von 1762 entwarf Rousseau seine Vorstellungen von einer politischen Ordnung. Sein Staat beschränkt sich nicht auf äußere Sicherung von Recht und Frieden, sondern er will Religion, weil er Zugriff will auf die Herzen: Die Menschen sollen ihre Pflichten aus Liebe tun, wenn nötig bis zur Hingabe des Lebens. Dazu genügt nicht nur Toleranz, sondern er will Akzeptanz, also Religion. Die Glaubenssätze soll nach ihm das Staatsoberhaupt bestimmen. Wenn jemand die Glaubenssätze nicht annimmt, „verdient er die Todesstrafe“. Alle Kulte sind zwar zu dulden, aber keiner – außer der der Zivilreligion – darf sagen „außer der Kirche gibt es kein Heil“.

Hier finden wir im Grunde alle wesentlichen Punkte für die Zivilreligion: Zunächst:

1.) Der „doppelte Glaube“, von dem auch heute Vertreter einer Zivilreligion reden[2] [2], nämlich zum einen ein allgemeiner Gottesglaube (dieser Gott ist von Vertretern verschiedener konkreter Religionen zu akzeptieren) und zum anderen ein Moralglaube, also eine Ethik, die – wie jener allgemeine Gottesglaube – vom Staat vorgegeben wird (wie z.B. heute Gender-Mainstreaming, das ja in Deutschland als Staatsziel eingeführt wurde – nicht vom Parlament, sondern per Kabinettsbeschluss im Jahr 1999), und die unduldsam durchgesetzt werden: Damals (bei Rousseau) mit Ausweisung oder Todesstrafe, heute sind es Verleumdung mit Totschlagworten, nicht genügender Schutz vor Gewalt und Bedrohung durch anarchistische Gruppen, die ja teilweise durch Parteien und sogar den Staat Förderung erfahren. Auch werden solche „politisch“ oder „klerikal unkorrekten“ Personen und Positionen nicht selten auf andere Weise benachteiligt.

Prof. Alfred Mohler[3] [3] spricht von einem ‚moralischen Rollentausch‘, der in unserer Zeit stattfand, insbesondere spricht er hier vom Thema Homosexualität. Er spricht von einer „Revolution des Denkens, eine die die gesamte Struktur von Sinn und Lebenspraxis verändert“. Sie ist fundamental anders als frühere Umwälzungen auf ethischem Gebiet, und zwar aus zwei Gründen, die den (wie ich es einordne) zivilreligiösen Charakter dieser moralischen Revolution zeigt.

Als ersten Grund nennt Mohler, „Dass die neue Moralität eine Entweder-Oder-Qualität hat.“ „Diese Revolution …verlangt die totale Akzeptanz ihrer revolutionären Forderungen und die Bestätigung ihrer Absichten.“ Der andere Grund für die Andersartigkeit dieser Revolution ist, „dass diese Revolution anders als alle anderen das Blatt für die Christenheit in der westlichen Zivilisation gewendet hat… Zum ersten Mal in der Geschichte der westlichen Zivilisation scheint die Christenheit auf der negativen Seite der Moralität zu stehen… Es geht nicht einfach um einen Fall einer Lebensweise, die den Anschein von Unmoral verloren hat… Vielmehr hat die Gleichberechtigung von Homosexualität die Form eines moralischen Kreuzzugs angenommen. Diejenigen, die die alten Werte hochhalten wollen, werden nicht einfach als Moralisten angesehen… Sie werden vielmehr eines moralischen Defizit beschuldigt… Solch eine radikale Wende hat m.E. keine Parallele in der Geschichte der Moral.“ Die „moralischen Rollen“ werden vertauscht. „So wird etwas, was vorher als unmoralisch verstanden wurde, nun als moralischer Wert gefeiert.“ Es wird für die neue Moral nicht nur Toleranz, sondern Akzeptanz erwartet, ein totalitärer Zugriff auf das Innerste der Person.

Dass dieser Wandel und auch die Schnelligkeit, mit der er vor sich ging und geht, sogar international, irgendwie gesteuert sein muss, drängt sich auf. Tatsächlich gibt es dafür deutliche Anzeichen. Zum Beispiel hat ein „Welt-Gipfel“ (unter Mitwirkung hochkarätiger Leute, wie z.B. Michael Gorbatschow) ‚neue Zehn Gebote‘ verkündet, wie die katholischen kath.net-Nachrichten am 16.09.2002 meldeten – Überschrift: „Das ‚Update‘ kommt nicht vom Sinai, sondern dem ‚Earth Summit,‘ und fordert Abtreibung und freie Homosexualität.“

Es handelt sich hier um eine Wende hin zur von der Bibel vorhergesagten Gesetzlosigkeit (Mt 24,12; 2.Thes 2,3-12), die sich in Staat und Gesellschaft ausbreitet, ja sogar teilweise in der Kirche, also im „Tempel Gottes“ (2.Thes 2,4).

2.) Der zweite bis heute wesentliche Punkt für eine Zivilreligion, der sich schon bei Rousseau findet, ist die schon erwähnte mangelnde Unterscheidung von Persontoleranz und Sachtoleranz. So schreibt Ziegert über Jürgen Habermas, dem wohl wichtigsten geistigen Aktivisten der Zivilreligion in Deutschland, „dass Habermas im Klage-Habitus eines vorgeblichen Humanitätsverlangens Toleranz fordert vor der ‚Religion‘ des anderen, anstatt Toleranz zu fordern vor der Person. Der gesellschaftliche Diskurs wird damit unrettbar ideologisch fixiert.“[4] [4]

Und er fährt fort: „Gerade die als das große Bühnenbild aufgebaute ‚Religionsfreiheit‘ hat bei Licht besehen auch bei Habermas ihre harten Grenzen, denn die gesellschaftliche Durchsetzung von Normen hat mit den Prinzipien der Religionsfreiheit rein gar nichts zu tun. Sie unterliegt einem anderen System, nämlich übergeordneten politischen Gesetzen, deren Anwendung gerade nicht nach dem Toleranzbedürfnis, sondern nach dem Zugehörigkeitsprinzip entschieden wird. Es ist klar: wenn die gesellschaftlich wichtigen Unterschiede ‚religiöse‘ Unterschiede sein sollen, lassen sich ihre Konfliktlagen nur noch mehr oder weniger gewaltsam in einer Art ‚höheren Religion‘ aufheben, die nicht ins Beliebige gestellt werden kann und deren Autoritätsgrundlage in nichts mehr verhandelbar ist.“[5] [5]

3.) Auflösung des Personbegriffs

Wichtig zu beobachten: Hier wird bei Rousseau und bei Habermas nicht die Person geschützt, was zur Folge echte Religionsfreiheit hätte, sowie Toleranz auch gegenüber abweichenden Glaubenspositionen, sondern der Personbegriff wird aufgelöst, es folgt ein totalitärer Zugriff auf das Innerste des Menschen, so wird Akzeptanz gefordert.

4.) Zivilreligion als Oberreligion

Ihr haben sich alle anderen Bekenntnisse und Denominationen unterzuordnen.

Das heißt: Es gibt Religionsfreiheit nur im Rahmen dieser Oberreligion.

Bei Jürgen Habermas ist dies gegenüber Rousseau noch verschärft dadurch, dass er auch in der säkularen Vernunft „eine Religion“ sieht[6] [6]. Sie muss sich also – wie die anderen Religionen – in die Zivilreligion einordnen und diese als oberste anerkennen.

Dies hilft uns zu verstehen, dass weder bei der EKD noch beim Staat z.B. Verstandesargumente, etwa aus den Wissenschaften der Biologie oder Medizin, etwas ausrichten gegen die mit viel staatlichem und kirchlichem Geld betriebene Genderideologie. Also nicht nur gegen Bekenntnisargumente, sondern auch gegen Verstandesargumente ist eine Zivilreligion immun.

Als die Kirche Staatskirche wurde, wurde die Verbindung von römischem Staat und Religion beibehalten. Das Glaubensbekenntnis ist also Reichsverfassungsrecht. Auch die gottlosen Ideologien des 20. Jahrhunderts waren in den von ihnen geprägten Staaten sozusagen „Zivilreligionen“; auch von Christen wurde erwartet, dass sie diese Ideologien als oberste anerkannten.

Zivilreligion und die Ordnung des Grundgesetzes

Die staatskirchenrechtlichen Stichworte für die Ordnung des Grundgesetzes sind: Neutralität, Nichtidentifikation, Parität, positive Trennung. Das staatskirchenrechtliche System des Grundgesetzes unseres deutschen Staates ist dem einer Zivilreligion völlig entgegengesetzt und das freiheitlichste von allen anderen Modellen des Verhältnisses von Staat und Kirche. Aber es funktioniert nur, wenn die Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften zu ihrem Bekenntnis in Glauben, Wort und Tat stehen, also nicht, wie die EKD es will, sich zivilreligiös verstehen.

Außerdem ist die Ordnung des Grundgesetzes samt Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip und Gewaltenteilung äußerst bedroht durch das Einsickern von Vorstellungen des angelsächsischen Rechtskreises, der ein Richterrecht kennt, das die Rechtsbildung selbst vornimmt, auch teilweise ohne dass ein Parlament eine Gesetzes- oder Verfassungsänderung beschließt. Dazu kommt die teilweise damit einhergehende Auflösung des Personbegriffs in einer zivilreligiösen Ordnung. Das Recht des Einzelnen steht in Gefahr, überrollt zu werden von einer zivilreligiösen Sicht, die das Bundesverfassungsgericht als ‚gesellschaftlichen Normgeber‘ und ‚politische Moralinstanz‘ (Ziegert) versteht, das die Rechte des Individuums zugunsten der Gesellschaftsmoral oder Staatsräson ändern oder den Sinn der Normen umdeuten kann.

Konkrete Auswirkungen der zivilreligiösen Vorstellungen und Einflüsse in der Kirche

Zum Beispiel Rückzug aus der Fläche, Reduktion der Gemeindepfarrstellen, Schwächung der Gemeinde (auch finanziell), dafür Ausbau der Verwaltung und Stärkung übergemeindlicher Aktivitäten, „Erweiterung der kirchlich-politisch engagierten Infrastruktur zur progressiven politischen Funktionalisierung des kirchlichen Systems“[7] [7], Politisierung des Gottesdienstes. Mehr und mehr wird bewusst die Verbindlichkeit von Schrift und Bekenntnis infrage gestellt oder verlassen. Weiter geschieht ein Verlassen der biblischen Deutung von Begriffen (z.B. „Freiheit“) und ein Verlassen der Grundordnungen Gottes von Ehe und Familie und Schutz des menschlichen Lebens. Ziegert über die EKD: „sie fordert, geschützt vom externen Konsens der politischen Klasse, nun auch, dem traditionalen Verständnis der Familie die völlige Offenheit der ‚sexuellen Orientierung‘ überzuordnen“; sie „bezahlt“ „mit ihren radikalen Gender-Statements nur den Preis, den die politische Klasse als eine Gegenleistung für die Rolle als politischer Mitspieler einfordert“. „Willentlich stellt sich die EKD in die säkulare Dynamik der Politisierung aller Lebensbereiche mit ein, die eine kulturelle Revolution betreibt“[8] [8].

Solch ein Weg kann mit der Nachfolge Jesu Christi nicht verbunden werden (wie schon Rousseau feststellte). Christen sind zwar „der Obrigkeit untertan“ (Röm 13,1) und halten die kirchlichen Ordnungen, aber nur bis zur Grenze „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29).

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Schriftleitung von „diakrisis-Geistliche Orientierung für bekennende Christen“.

Von Pfr. Karl Baral erscheint demnächst ein ausführliches Buch zum Thema Zivilreligion im Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR) Nürnberg.

[1] [9] Karl Richard Ziegert: Die Verkäufer des perfect life, Berlin 2015, S. 5

[2] [10] Siehe dazu Karl Richard Ziegert: Zivilreligion. München 2013, S. 118ff.

[3] [11] A. Mohler: „DIE (HOMO)SEXUELLE REVOLUTION UND DAS ZEUGNIS DER KIRCHE, in: Biblisch Glauben Denken Leben (des Bibelbundes) Nr. 118, April 2018, S. 4f.; Hervorhebungen durch Fettdruck: K.B.

[4] [12] Ziegert, Zivilreligion, S. 321 (Hervorhebung durch Fettdruck: K.B.)

[5] [13] Ziegert, Zivilreligion, S. 321 (Hervorhebung durch Fettdruck: K.B.)

[6] [14] Ziegert, Zivilreligion, S. 317

[7] [15] Ziegert, Zivilreligion, S. 277

[8] [16] Ziegert, Dt. Pfarrerblatt 10/2014, S. 560, Spalte 2