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Von der Fröhlichkeit des widerständigen Geistes in Christo

Der andere Erfurter Mönch, nicht Martin Luther sondern Meister Eckhart, predigte: „Die Leute sagen oft zu mir: „Bittet für mich!“ Dann denke ich: „Warum geht ihr aus? Warum bleibt ihr nicht in euch selbst und greift in euer eigenes Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in euch.“ Kann man Gott und den Menschen besser denken als in diesem Satz, dass der Mensch die Wahrheit, die Gott ist, als Wesen schon deshalb in sich trägt, weil er Gottes Kind ist? Dass er in der Wahrheit leben muss, heißt das keineswegs, aber er besitzt die Chance dazu. Er kann den Teil seines Wesens verkümmern oder erblühen lassen. Niemand vermag ihn zu zwingen, aber so, wie es niemand erzwingen kann, kann es auch keiner verhindern, so wie es am Menschen selbst liegt, das Geschenk des Glaubens anzunehmen. Nur im Glauben besteht vollkommene Freiheit.

Vollkommene Freiheit aber ist Gottes Freiheit, ist die Freiheit eines Christenmenschen. Wir erliegen nur allzu oft der Versuchung, die Freiheit für einen Luxus, den wir uns an guten Tagen leisten, zu halten – und verstehen nicht, dass wir nur durch die Freiheit Kinder Gottes sind. Doch die Freiheit ist anspruchsvoll. In der Erzählung „Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe“ schreibt die Schriftstellerin Anna Seghers über freigelassene Sklaven, die ihren Herrn steinigen, weil er sich weigert, sie wieder in die Obhut der Sklaverei zurückzunehmen, denn im kalten Sommer der Freiheit sehnen sie sich nach der Stallwärme der Sklaverei. Zwei der freigelassenen Sklaven „gestanden sich ein, sobald sie allein waren, in der Sklavenzeit sei ihr Leben schöner gewesen.“

Verstehen wir den Gegensatz Freiheit und Sklaverei auch geistig und geistlich, so befinden wir uns unmittelbar in unserer Gegenwart.

Wie oft ziehen Menschen die unfreie Behaglichkeit betreuten Denkens der Anstrengung, sich ein eigenes Urteil zu bilden, vor? Dabei ist es ihnen nicht nur verfassungsrechtlich garantiert, sondern sie sind von Gott wesenhaft zur Freiheit bestimmt. Der Tag des Christen endet nicht mit der Freiheit, er beginnt mit ihr. Beim Evangelisten Johannes steht das große Wort: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Gehen wir von Meister Eckhart und von dem Christus-Wort, das wir bei Johannes finden, aus, kommen wir unmittelbar bei Martin Luther an, der die Freiheit mit der Verantwortung und dem Gewissen ausbalanciert. Freiheit ohne Verantwortung ist Verwahrlosung. Die Freiheit ist die Form, in welcher der Christ auf Gottes Gnade antwortet, es ist die Freiheit, die sich in der Verantwortung für Gottes Schöpfung weiß. Was aber haben Freiheit und Gewissen miteinander gemein?

Am Anfang der Reformation stand der Thesenanschlag vor 500 und 1 Jahr in Wittenberg. Den Durchbruch erlebte die Reformation 1521 in Worms. Kaiser und Kirche hatten Martin Luther befohlen zu widerrufen. Der Kanzler des Trierer Erzbischofs hatte ihm sogar zugerufen: „Lass dein Gewissen fahren, Martinus.“ Das war nun die Stunde, da Luther der Politik um des Glaubens Willen widerstehen musste, der Augenblick des Heiligen Geistes, der stets widerständig ist, denn er widersteht den Verlockungen der Welt: „Wenn ich nicht überwunden werde durch die Zeugnisse der Schrift oder durch die evidenten Vernunftgründe – denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil feststeht, dass sie sich oft geirrt und selbst widersprochen haben –, bin ich durch die von mir herangezogenen Schriftstellen besiegt, und das Gewissen ist im Wort Gottes gefangen, und ich kann und will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln.“ Von hier aus schließt sich der Kreis, das Gewissen ist im Wort Gottes gefangen und besitzt demzufolge eine höhere Autorität als alles Irdische. Freiheit ist also ans Gewissen gebunden, das wiederum beheimatet ist in Gottes Wort, in der Wahrheit. Eine höhere Vollmacht als die Gottes, eine größere Freiheit als die, die vom Gewissen begründet wird, kann niemand denken. Sie steht immer in der Verantwortung zur Schöpfung, ob es der Zustand der Weltmeere ist, ob es die zerstörerischen Umweltideologien sind, ob es der Schutz des ungeborenen Lebens ist oder die Frage beinhaltet, wann angesichts des medizinischen Fortschritts Leben beginnt und wann es endet und vor allem in wieweit der Mensch a la Goethes Zauberlehrling in der Brunnenstube der Schöpfung herumexperimentieren darf. Was können wir mit unserem Gewissen, das ich Gottes Seismograph nennen möchte, vereinbaren? Und wo müssen wir widerstehen?

Martin Luther hat in Worms widerstanden, weil er wusste, dass das Gewissen im Wort Gottes gefangen ist. Ihm galt nicht Ansehen, nicht Macht, nicht Herrscherlob, nicht falsches Bischofslächeln, nicht Kumpanei, nicht Geld, nicht Stellung, sondern nur das Bekenntnis zu Christus. In diesem Augenblick höchster Gefahr hat Martin Luther das Kreuz Christi, das andere so gern und so leichtfertig ablegen, angenommen, weil sein Gewissen im Wort Gottes gefangen war und sich nicht nach politischer Opportunität richtete.

Eine Episode, die nicht weniger wichtig ist, wird oft übersehen: Zu Beginn der Verhandlung auf dem Reichstag zu Worms wandte sich Luther direkt an den jungen Kaiser Karl V., an die Personifikation europäischer Macht, und stellte klar: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Martin Luther sagte das nicht zu Muslimen, nicht zu Juden, sondern zur Verkörperung der christlichen Obrigkeit. Er ermahnte einerseits den Kaiser, bei der Reform der Kirche, bei der Rückkehr zum Glauben an Gottes Wort tatkräftig mitzuwirken, doch erteilte er andererseits einem falschen Frieden eine Absage. Hier nun steht der einfache Mensch gegen die politische, militärische, juristische, finanzielle und wirtschaftliche, gegen die administrative, mediale, geistliche und öffentliche Macht, mit nicht mehr und nicht weniger ausgestattet allein mit der Kraft des Wortes, und bittet diese Macht vergeblich, den Glauben zu schützen und die Kirche aus der babylonischen Gefangenschaft zu erretten.

Auf die Macht ist kein Verlass und auch nicht auf die Mächtigen, auf diejenigen, die nur allzu gern das Bündnis zwischen Kanzel und Kanzleramt pflegen, sondern allein auf den widerständigen Geist. Die von Luther zitierte Bibelstelle Matthäus 10,34 steht im Zusammenhang mit der Aussendung der Jünger zur Mission und mit der Einschätzung, dass der Missionar einen beschwerlichen Weg geht: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben“(Matth. 10,16). Die Wölfe waren in Luthers Augen die Mächtigen in Staat und Kirche, die das Christentum im Munde, aber nicht im Herzen führten und nicht als Christen, sondern als Elite handelten.

Aber es geht doch darum, dass die frohe Botschaft in die Welt kommt, denn „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.“ (Matth. 10, 40). Der lässt Gott zu sich ein. Gibt es etwas, das größere Freude im Herzen verbreitet, als sich mit Gott eins zu wissen, auch wenn es verlangt, der Welt zu widerstehen? Findet sich eine größere Freude als im widerständigen Geist? Denn dort ist man ganz bei sich, bei der Wahrheit, die wesenhaft ist. Widerstehen wir der Verwechslung von Glauben mit Gesinnung, denn Christen haben, Christus zu folgen, jeden Tag sich zu bemühen, dass unsere Welt christlich bleibt, und all jenen zu widerstehen, die aus dem Gottesdienst Parteidienst machen. So verkündete bereits die Barmer Theologische Erklärung: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“ Seien wir also widerständig wie Martin Luther, dann ist auch der Heilige Geist mit uns: „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Zuallererst und zuallerletzt hat der Mensch, sein Verhältnis zu Gott zu klären. Da ist nichts dazwischen. Es steht keinem Bischof zu, Aussagen über den Glauben von Christen zu treffen, schon gar nicht, wenn der Maßstab die eigene politische Haltung ist. In der Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche warnt Luther: „Weder der Papst noch ein Bischof noch sonst irgendwer hat das Recht, über einen Christenmenschen auch nur eine einzige Silbe zu erlassen, außer mit dessen Zustimmung.“

Wieder befindet sich die Kirche in einer babylonischen Gefangenschaft, in der babylonischen Gefangenschaft der Hypermoral und der Politik. Nicht der Glaube zählt mehr, sondern die Gesinnung, nicht Gott, sondern der Mensch. Um den Muslimen entgegenzukommen, legt ein Ratsvorsitzender der EKD auf dem Tempelberg zu Jerusalem das Kreuz Christi ab. Im Nahen Osten und in Afrika werden Christen ermordet, weil sie das Kreuz Christi trotz aller Gefahr tragen. Doch die Kirchenleitung tauscht den Heiligen Geist gegen den Zeitgeist ein, schämt sich des Glaubens, schämt sich Luthers, verweltlicht die Kirche aus Angst, keine Rolle mehr in der Welt zu spielen. Man könnte auch sagen, sie kommt der Welt zu weit entgegen. Sie gleicht dem Mann, der aus Angst vor dem Tod Selbstmord begeht.

Christen verlassen die Kirche oder resignieren, da sie sich in ihr nicht mehr zu Hause fühlen, weil viel von Politik die Rede geht, weniger scheint es vom Glauben. Die Kirchensteuern werden für glaubensferne Großprojekte wie den Kirchentagen, für dubiose Sonderpfarrerstellen, für eine rot-grüne Akademie, die früher einmal evangelisch war, verwendet, anstatt die Ortsgemeinden zu stärken. Christus aber lebt in den Gemeinden. Martin Luther erinnert in der Vorlesung über den Psalm 51: „Denn der eigentliche Gegenstand der Theologie ist der der Sünde schuldige Mensch und der rechtfertigende Gott und Heiland dieses Sünders. Was außer diesem Gegenstand in der Theologie gesucht und verhandelt wird, ist Irrtum und Gift.“

Um den Glauben an Christi Heilzusage hat sich, die Kirche zu bemühen. Ihr Grund ist Jesus Christus. Es gibt sie, weil Jesus Christus auf die Welt gekommen ist, um den Menschen den Weg zu Gott zu eröffnen. Wenn sie diesen Grund verlässt, wird sie im wahrsten Sinn des Wortes grundlos. Sie hat den Glauben an diejenige Person, „in der Gott und Mensch ein für alle Mal zusammengekommen sind, damit Gott unseren Tod und wir sein Leben teilen können“ in die Welt zu tragen, wie Eberhard Jüngel feststellte. „Das ist das Geheimnis des Glaubens und als solches das Innerste der Kirche.“ Jüngel fuhr in seiner großen Rede zur Mission fort: „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen.“ Er brachte das schöne Bild vom Ein- und Ausatmen: „Einatmend geht die Kirche in sich, ausatmend geht sie aus sich heraus.“ Das Einatmen sieht er im liturgischen Gottesdienst. „Da ist sie um Gottes Wort und um den Tisch des Herrn versammelt, da ist sie gesammelt und konzentriert bei sich selbst.“ Das Ausatmen wird für Eberhard Jüngel zu einer nicht weniger existenziellen Handlung der Kirche. „Die Kirche muss, wenn sie am Leben bleiben will, auch ausatmen können. Sie muss über sich selbst hinausgehen, wenn sie die Kirche Jesu Christi bleiben will.“ Über sich selbst hinauszugehen, verlangt von jedem einzelnen Christen, mit dem Glauben in die Welt zu gehen. Wie sagte doch Martin Luther: „Ein Christ muss ein fröhlicher Mensch sein. Wenn er es nicht ist, dann ist er vom Teufel versucht.“ Der widerständige Geist in Christo ist ein fröhlicher und ein verlässlicher Gefährte. Umso mehr wir von ihm erfüllt sind, um so stärker wird die Kirche sich im Glauben finden. Eine neue Reformation ist notwendig. Amen

Dr. Klaus-Rüdiger Mai (Zossen bei Berlin), Reformationstag 31.Oktober 2018, Musikkirche Malchow in 17291 Göritz  OT Malchow 1a