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Werbung für Abtreibung?

Gesundheitsminister Jens Spahn äußerte gegenüber „Bild am Sonntag“, ihn würden die Maßstäbe wundern: Wenn es um das Leben von Tieren geht, da seien die für Abtreibungen werbenden kompromisslos; wenn dagegen Journalisten und Politiker Lebensschützern vorwerfen, sie kümmerten sich lieber um ungeborenes als um geborenes Leben, bleibe die Aufregung aus. Er kennt als Bundesminister unsere Verfassung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Dem Embryo steht bereits mit der Kernverschmelzung und Nidation das Recht auf Leben gemäß Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und die Garantie der Menschenwürde gemäß Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz zu.

Regierungsmitglieder müssen unter Eid versprechen, dass sie das Grundgesetz wahren und verteidigen werden (Art. 64, 56 GG). Ob die Bundesregierung sich in den letzten Jahrzehnten gemäß ihrem Schwur verhalten hat, ist zumindest fraglich, wenn man sich die Zahl der Abtreibungen vor Augen hält. Laut Bundesamt für Statistik erfolgten 101.200 Abtreibungen im Jahr 2017. Nach Schätzung von „Ärzten für das Leben“ sei von ca. 200.000 auszugehen. Soll trotzdem durch die Aufhebung des Werbeverbots in unserem Strafgesetzbuch der Schwangerschaftsabbruch noch weiter gefördert werden?

1. Nach der Gesetzeslage müssen sich Schwangere vor dem Abbruch fachlich beraten lassen. Dies soll unter Berücksichtigung unserer Rechtsordnung vornehmlich dem Lebensschutz dienen. Es ist zu beachten, dass nach § 218 StGB der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich Unrecht ist, also rechtswidrig; nur ausnahmsweise entfällt die Strafrechtswidrigkeit (Bundesverfassungsgericht, Entscheidungssammlung 88 S. 279 f). Die Ausnahmefälle sind allgemein bekannt: Lebens- oder Gesundheitsgefährdung der Mutter sowie nach Vergewaltigung. Rechtswidrigkeit darf eben nicht vom Staat gefördert werden. Nur 3,86 % der Abbrüche erfolgten aufgrund einer „medizinischen Indikation“, also einer Gefahr für die Gesundheit der Mutter. Vergewaltigung war zu 0,02 % ursächlich.

Nach unserem Strafgesetzbuch ist konsequenterweise Werbung für Abtreibung verboten (§ 219 a). Das gefällt unserer Evangelischen Kirche offensichtlich nicht, so dass sie sich in die Diskussion um die Zulässigkeit der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche eingemischt hat. Es geht um die Zeitschrift „chrismon“, eine der „wenigen Publikationen, die von weniger Menschen gelesen werden, als es gedruckte Exemplare gibt“ (Süddeutsche Zeitung)

2. Grund für die Diskussion ist die Ankündigung der rot-rot-grünen Berliner Koalition, den § 219 a Strafgesetzbuch zu streichen, der die Werbung für Abtreibung verbietet. SPD, FDP, Grüne und Linke wollen ebenfalls das geltende Recht ändern. Kausal dafür war die Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel zu einer Geldstrafe von 6000 €, weil sie auf der Internetseite ihrer Praxis über Abtreibung informiert und geworben hatte. Nach § 219 a StGB macht sich strafbar, wer eines Vermögensvorteils wegen Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs anbietet, ankündigt oder anpreist. Das Amtsgericht Gießen hat im November 2017 gesetzesgemäß gehandelt. Sie konnte sich damit nicht abfinden und überreichte dem Bundestag eine Petition von mehr als 150.000 Menschen gegen die Strafvorschrift.

Die Bestrafung von Hänel passte vor allem den Sozialdemokraten nicht, welche ursprünglich einen Gesetzesentwurf einbringen wollten, um das Werbeverbot zu kippen. Nach scharfem Protest von CDU/CSU (Spiegel 11/2018) stellte die SPD das Vorhaben – insbesondere durch Intervention der Parteivorsitzenden Andrea Nahles – zurück. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag Eva Högl verlor die Nerven: „Wie wär‘s damit, mal die widerlichen Lebensschützerinnen in der Union in den Blick zu nehmen und zu kritisieren.“ Das dürfte ihr bei den so genannten Sozialen Medien gelingen. Gesinnungsgenossinnen hat die SPD-Politikerin bereits mit Katja Kipping von den Linken und Renate Künast von den Grünen gewonnen. Intendiert ist ein Abtreibungswegweiser mit abtreibungsbereiten Ärzten und Kliniken. Auch die „Evangelischen Frauen in Deutschland“ haben sich mit Frau Hänel solidarisiert; nach ihrer Ansicht sei § 219 a StGB nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, da er das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf freie Arztwahl einschränke.

3. Die Medien haben überwiegend die Position der werbenden Ärztin übernommen, was auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gilt. „Arte“ bedauerte, dass Abtreibung nicht legal sei und Ärzte diffamiert würden, die abtreibungswilligen Müttern helfen wollten. Die Folge waren Farbanschläge auf zwei Gemeindehäuser und das Wahlkreisbüro des evangelischen Landtagsabgeordneten Roland Pohle in Sachsen. „Der Spiegel“ setzte sich für Verständnis und Unterstützung der betreffenden Frauen ein und verwies auf „pro familia“: „Ein Schwangerschaftsabbruch ist nichts, was jemand gern macht.“ Frauen hätten das Recht auf alle wichtigen Informationen über einen ordentlichen Schwangerschaftsabbruch (12/2018). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk erörtert auch nicht die Probleme mit dem Grundgesetz; in den einschlägigen Berichten zu § 219 a werden ganz überwiegend Stimmen unterstützt, welche in die Richtung gehen, Tötung von Ungeborenen stelle nur eine Vernichtung eines Zellhaufens dar.

Hingegen wird nicht geworben für Veranstaltungen, welche für das Austragen der Kinder werben. Man denke etwa an den jährlichen „Marsch für das Leben“, an welchem in diesem Jahr 5500 Personen sich beteiligt hatten. 2018 ging es um „Selektion und Abtreibung beenden!“. Man fragt sich, ob das falsch ist. Auch die Kirchen waren zurückhaltend. Trotzdem bildete den Abschluss ein ökumenischer Gottesdienst mit dem pommerschen evangelischen Bischof Jürgen Abromeit. Beteiligt war der Regensburger katholische Bischof Rudolf Voderholzer. Aufgerufen wurde dazu, Frauen zu helfen, denen das Ja zum Kind schwer fällt. Protestiert hatten dagegen das linksradikale Bündnis „What the fuck!“ sowie die Grünen und die Linkspartei, das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“.

4. Es ist nachvollziehbar, dass Institutionen wie „pro familia“ nicht mitmarschieren. Es handelt sich um eine höchst problematische Einrichtung. Bereits der Name kann nur als Fake angesehen werden, denn die Hauptleistungen resultieren in Unterstützung von Ehescheidungen und Abtreibungen, so dass die öffentliche Förderung mit unserem Grundgesetz nicht im Einklang steht. Es sieht so aus, dass diese Organisation auf etwas zurückzuführen ist, was aus deutscher Perspektive zum Schlimmsten überhaupt gehört, nämlich Eugenik und Rassenlehre. Die Amerikanerin Margret Anker fühlte sich gedrungen, durch Abort und Sterilisation unerwünschte Teile der Weltbevölkerung zu eliminieren. Es begann mit der „Birth Control League“, woraus 1942 die „International Planned Parenthood Federation“ entstand. Eine Filiale ist „pro familie“, wobei bereits der Name der erforderlichen Redlichkeit entbehrt. Papst Franziskus verglich die gängige Praxis der Tötung behinderter Kinder im Mutterleib mit der Eugenik der Nationalsozialisten: Im vergangenen Jahrhundert habe sich die ganze Welt darüber empört, was die Nazis für die Rassenreinheit gemacht hätten, heute würden wir dasselbe machen, nur mit weißen Handschuhen.

5. Es ist natürlich in sich konsequent, dass die den Schwangerschaftsabbruch beschönigenden Politiker und Medien den Begriff „Abtreibung“ meiden und am liebsten statt vom Schwangerschaftsabbruch von der „Schwangerschaftsunterbrechung“ reden – wodurch der Eindruck einer vorübergehenden Zäsur erweckt wird. Umso freudiger wird vom „Selbstbestimmungsrecht der Frau“ gesprochen und insoweit auf Artikel 2 des Grundgesetzes verwiesen. Zweifellos gewährt die Verfassungsbestimmung die freie Entfaltung der Persönlichkeit, kennt aber den Vorbehalt, dass nicht in die Rechte anderer eingegriffen und gegen das Sittengesetz verstoßen werden dürfe. Dem ungeborenen Kind steht in jedem Stadium der Schwangerschaft ein eigenes Recht auf Leben auch gegenüber der Mutter zu (so Bundesverfassungsgericht in Entscheidungssammlung 88 S. 203). So ist höchst problematisch, dass Landesregierungen die vorgeburtliche Tötung unterstützen durch die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen und die Subventionierung von Abtreibungsvereinen wie pro familia. Die dafür erforderlichen Kosten dürfen nur dann übernommen werden, wenn der Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig ist, wie bei einer kriminologischen und medizinischen Indikation. Aktuell erstatten Krankenkassen aber die Kosten für 90 % der Tötungseingriffe (Initiative Familien-Schutz).

6. Unter Berücksichtigung des Zeitgeistes besteht derzeit ein erheblicher gesellschaftlicher Druck auf Eltern, ein behindertes Kind abzutreiben. Im Rahmen der „Woche für das Leben“ der beiden großen Kirchen sprach der Medizinethiker Axel Bauer in Trier zum Thema „Kinder – nur noch qualitätsgeprüft?“. Auf der einen Seite werde viel Wert auf Inklusion von behinderten Menschen gelegt, auf der anderen Seite finde bei Ungeborenen eine „Rasterfahndung nach Behinderungen“ statt. Ein behindertes Kind werde als Zumutung für Eltern und Gesellschaft empfunden; eine Kultur der scheinbaren Leidensvermeidung durch die Beseitigung des Leid Verursachenden mache Abtreibung zur Todesursache Nummer eins – der Referent war immerhin Mitglied im Deutschen Ethikrat (idea Spektrum 17/18). Grundsätzlich sprachen sich die christlichen Kirchen gemeinsam dafür aus, das Werbeverbot nach dem Strafgesetz bestehen zu lassen; damit solidarisierten sie sich mit den Lebensschützern. Gekämpft haben sie dafür nicht; es erfolgte nicht einmal unter seelsorgerlichen Gesichtspunkten eine Warnung.

Umso wichtiger sind die an die Stelle der Kirchen tretenden Laienorganisationen. In Deutschland existieren mehr als ein Dutzend, um Ungeborene zu schützen, etwa „pro femina“, „Initiative Familienschutz“, „Kaleb“, „Weißes Kreuz“, „Rahel“, „Christdemokraten für das Leben“, „Juristenvereinigung Lebensrecht“, „Ärzte für das Leben“, Stiftung „Ja zum Leben“ oder „1000plus“. Es geht um christlich-orientierte Beratung, ja auch finanzielle Unterstützung, um Frauen Mut zu machen, ihr Kind auszutragen. Die Institutionen wirken kompetent; sowohl wird Verständnis gezeigt für den Druck des Partners, das Schamgefühl oder die Angst alleinerziehend zu sein. Mut gemacht wird, auch das Risiko von Behinderungen auf sich zu nehmen. Diese würden in ganz anderer Weise staatliche Unterstützung verdienen als etwa „pro Familia“ oder „indymedia“ – Plattform für linksradikale Aktions-Bekenntnisse.

7. Erschütternd ist, was Prominente zu der Problematik geboten haben. Man denke an den Bericht „Starke Familie. Bericht der Kommission Familie und demografischer Wandel“. Derselbe enthält kein Wort über Abtreibung, auch keines über Schwangerschaftskonflikte. So wird nicht etwa die Frage gestellt, weshalb mehr 100.000 Schwangere pro Jahr ihr Kind, das wohlgemerkt bereits unterwegs ist, abtreiben lassen. Wird darüber bewusst hinweggesehen? Es sieht fast so aus. Glücklicherweise gibt es verantwortungsbewusste Christen. Der inzwischen verstorbene ehemalige Bundesgeschäftsführer der „Christdemokraten für das Leben“ Manfred Libner meinte, Lebensschutz sei für ihn mehr als keine Abtreibung. Seine Devise war schlicht: „Kinder schützen, Familien stärken“. Er scheute sich aufgrund seiner christlichen Auffassung nicht, die Ehe zwischen Mann und Frau als gottgewollten Kern der Familie zu bezeichnen.

Der Leiter der Initiative „1000plus“ und Vorsitzende des Vereins „pro femina“ Kristjan Aofiero spottet darüber, dass uns weiß gemacht werde, Abtreibung hätte etwas mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun. „Niemand will hören, dass sich in Wahrheit keine Frau eine Abtreibung wünscht. Dass sich Frauen im Schwangerschaftskonflikt weder frei noch selbstbestimmt fühlen. Ganz im Gegenteil: Sie sind einem massiven Druck ausgesetzt. Jede Schwangere würde die Lösung der Probleme, die sie selbst als Grund für ihren Konflikt benennt, der Abtreibung vorziehen“ (Junge Freiheit Nr. 39/2018). Regelmäßig würden Frauen sich keine Patchwork-Familie, keine Lebensabschnittspartner oder den Status als Alleinerziehende wünschen; sie begehren Männer, die sie heiraten, eine Familie mit ihnen gründen und ihnen treu sein würden. Der Experte mit kroatischen Wurzeln wird sehr deutlich: „Wir erleben ihre Not und ihre Verzweiflung hautnah mit. Wenn man das jeden Tag dutzendfach miterlebt, kann man es einfach nicht fassen: Wieso interessiert sich kaum jemand dafür, dass über 100.000 Frauen im Jahr mitten unter uns so verzweifelt sind, zu glauben, dass Abtreibung die einzige Alternative ist? … Nichts wäre mir lieber, als wenn sich mal jemand gründlich und wissenschaftlich mit diesem Thema befassen würde. Noch ignorieren Politik und Sozialwissenschaft dieses Feld nach Kräften. Und sie ignorieren vor allem das Leid ungezählter Frauen, die unsagbar unter den Folgen einer Abtreibung leiden“. Der Spezialist weiß, was wohl nur wenige Menschen in Deutschland für möglich erachten, dass rein materielle Gründe, also finanzielle Not, nur von etwa 6 % der Betroffenen als Grund für die Abtreibung genannt wird!

8. Das gilt auch für die EKD und die von ihr mit 4 Millionen Euro jährlich subventionierte Zeitschrift „chrismon“. Der Ratsvorsitzende Professor Heinrich Bedford-Strohm ließ es zu, dass dieses von ihm herausgegebene Aushängeschild für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen wirbt. Die Chefredakteurin Ursula Ott hatte zu Beginn des Jahres 2018 die Forderung „Weg mit dem § 219 a“ aufgestellt. Der „Bundesbischof“ hatte sie offiziell protegiert. Am 27.07.2018 veröffentlichte das evangelische Magazin unter der Überschrift „Die Retterin“ ein Porträt der Abtreibungsärztin Kristina Hänel. Verfasst wurde der Text wiederum von Ursula Ott. Bedford-Strohm meinte: „Es muss möglich sein, eine profilierte Meinung in so einer Sache zu vertreten, auch wenn ich an dieser Stelle anderer Meinung bin.“ Er sehe die Debatte über den § 219 a „als Teil der pluralistischen Kultur unserer evangelischen Kirche“. Außerdem versicherte er: „Ich schätze Frau Ott über die Maßen.“

Das brachte die Journaille in Höchstform: Sie unterstellten den Lebensschützern, die Abtreibungsärztin und ihre ähnlich gesonnenen Kollegen wahlweise „zerstückeln“ und „in ein Fass werfen“ zu wollen, zumindest „die Todesstrafe für diese zu fordern“. Begeistert zeigte sich die Chefredakteurin von der Feststellung der Ärztin „Jesus mochte auch keine Pharisäer“ und fügte hinzu: „Von denen gibt es viele unter den Abtreibungsgegnern“; dass auch die „selbsternannten Lebensschützer sich auf den lieben Gott berufen“, könne sie nicht ernst nehmen. „Wer mich mit Gott teeren und federn will, ist nicht wahrhaftig… Wer hasst und sich dabei auf Gott beruft, ist in meinen Augen gottlos…“

9. Der Generalsekretär der Evangelischen Allianz Hartmut Steeb erachtet es als im höchsten Maße verheerend, dass „nicht wenigstens ein einziges Mal das Recht des Kindes auf Leben zur Sprache kommt, wie es sowohl die biblische Botschaft als auch Urteile des Bundesverfassungsgerichts nahe legten.“ Über die Titulierung des Artikels mit „Retterin“ könne man nur noch spotten, darüber hinaus auch über das hasserfüllte Vokabular und die Arroganz in Bezug auf die vermeintliche Selbsternennung. Man muss Evangelikale ja nicht mögen, aber die artikulierte Häme geht entschieden zu weit. Ursula Ott denkt auch nicht daran, dass sie sich in die Sphäre der Beleidigungsdelikte nach den §§ 185 ff. sowie der Volksverhetzung nach § 130 StGB begibt. Statt Lob von Kirchenführern ließe sich eher darüber diskutieren, wieweit ein Disziplinarverfahren einzuleiten sei oder gar die Kündigung ausgesprochen werden sollte.

Die Kirchenverantwortlichen haben ihre Kirche in ein schlechtes Licht gerückt, wie es kaum seit dem Zweiten Weltkrieg erfolgt ist – man denke nur an die traurige Reaktion der ca. 350.000 Ausgetretenen im Jahr 2017. Seit dem 2. Weltkrieg hat sich die Zahl der Protestanten in Deutschland halbiert von ca. 40 auf ca. 20 Millionen. Hält man sich vor Augen, dass gerade nach dem Luther-Jubiläum wir wieder gelernt haben, dass die Disputation einer Spaltung vorzuziehen ist, so ist es unerklärlich, in welcher Weise der EKD-Chef und die Verantwortlichen für die Zeitschrift sich so unqualifiziert, reformationsfeindlich und geradezu unterirdisch geben konnten. Man möge sich einmal vorstellen, die umstrittene Recherchekooperation WDR, NDR, SZ würde sich auf eine Entdeckungsreise begeben, um herauszufinden: Wann hat sich jemals seit 1968 die Evangelische Kirche für das Leben ähnlich konsequent wie die Lebensschutzorganisationen eingesetzt? Wie wäre es, wenn etwa der neue Kirchentagspräsident Leyendecker, Journalist der Süddeutschen Zeitung, endlich das nachholte, was die Kirche über Jahrzehnte versäumt hat?

10. Nicht einmal hatten die Zuständigen dafür gesorgt, eine für den Diskurs unverzichtbare Gegenstimme zu inkludieren, allein schon um die Hasspredigerin in Schach zu halten. Es ist doch so einfach, Essenzielles anhand der geistigen Grundlage des christlichen Glaubens zu verbalisieren. Man denke nur an die biblischen Weisheiten, etwa Hiob 31 Vers 15 (von Gott im Mutterleib bereitet) oder Jeremia 1 Vers 5 (dieser Prophet bekennt, Gott habe ihn auserwählt, bevor er von seiner Mutter geboren war). Es gibt keine Hinweise dafür, dass die EKD gegen diese Wutausbrüche protestiert hätte. Verfügt unsere protestantische Kirche denn über keine befähigten Theologen, um hier zumindest die Voraussetzungen für ein kontroverses Gespräch zu schaffen? Die Bibel ist voll von positiven Artikulationen zugunsten des Lebens. Erinnert sei etwa an den 1. Timotheus-Brief Kapitel 2 Vers 2: Es wird zur Fürbitte aufgefordert, „auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.“

Es ist ein Armutszeugnis der evangelischen Kirchenleitung in Deutschland, sich einer derartigen Einseitigkeit, Unausgewogenheit und Parteilichkeit auszuliefern. Dabei hätten die Kirchenführer allen Anlass, sich insoweit in den seelsorgerlichen Gedanken zu vertiefen: Es gibt Erfahrungsberichte, dass Mütter noch nach Jahrzehnten von ihren abgetriebenen Kindern träumen. Ihre Seele hat sich mit dem Schwangerschaftsabbruch trotz aller rationaler Beweggründe eben nicht abgefunden. Nach der Studie von D. M. Fergusson zu diesem Fragenkomplex gibt es eine Vielzahl von negativen Folgen im Leben der betroffenen Frauen, angefangen von Verletzungen der Gebärmutter und Unfruchtbarkeit, über starke Schuldgefühle, Depression, Verlust des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens bis zu Beziehungsstörungen und gar Selbstmordgedanken. Zu diesen Folgeerscheinungen haben Christen und Kirchen unter Berücksichtigung ihrer auf die Bibel zurückzuführenden Erkenntnisse eigentlich in erheblicher Weise Probates zu bieten. Von den Verantwortlichen hört man aber insoweit kaum etwas.

11. Die kirchlichen Sympathiebekundungen zugunsten des Aborts sind auch undemokratisch, denn wir haben ein Gesetz in unserer Republik, das Vernünftiges und Nachvollziehbares bietet. Der § 219 a StGB ist Teil eines Kompromisses, den Legislative und Judikative gefunden haben, um den ehemaligen DDR-Bürgern in Fragen der Abtreibung einen Weg zu ebnen. Nach einer Regierung, welche die totale Freigabe gestattete galt es, eine allseits befriedigende Regelung zu finden. Nach § 218 a StGB wird nicht wegen Abtreibung bestraft, wer sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, darüber hinaus der Abbruch vom Arzt vorgenommen wurde sowie seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind. Dabei wurde auch sichtbar die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einbezogen. Menschliches Leben beginnt mit der Vereinigung der mütterlichen und väterlichen Keimzellen (Konjugation). Das höchste Gericht hat die Nidation (Einnistung der konjugierten Eizelle, also 14 Tage später) als Zeitpunkt angesehen, in dem Leben im Sinne eines menschlichen Individuums besteht sowie die Grundrechte nach Artikel 1 und 2 Grundgesetz gelten (Entscheidungssammlung 39 S. 37). Eine EKD, die sich sogar entgegen der Verfassung in die Politik einmischt, verliert an Autorität und kann kaum länger ernst genommen werden.

12. Als Jurist kann ich nur konstatieren, dass die derzeitige Rechtslage argumentativ untermauert ist und sich auf einem hohen intellektuellen Level bewegt. Die Vorschrift des § 219 a Strafgesetzbuch will verhindern, dass der Schwangerschaftsabbruch als normal angesehen und kommerzialisiert wird (so die Begründung des Paragrafen durch die Legislative). Es handelt sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt (BGH-Richter Thomas Fischer in seinem Kommentar zum Strafgesetzbuch). Erfüllt wird der Tatbestand nicht nur durch das Anbieten, eine Abtreibung durchzuführen. Außerdem stellt der Paragraf unter Strafe jedes Angebot auch fremder Handlungen, die einen Abbruch erleichtern können (z.B. Vermittlungsbüros). Nicht erfasst wird die sachliche Information über straffreie Schwangerschaftsabbrüche durch Behörden, Beratungsstellen usw., bei denen es nicht um Geld geht. Diese Arbeit macht deutlich, dass es eine Fülle von Möglichkeiten gibt, das Problem der Abtreibungen mit Weisheit anzugehen. Man stelle sich nur vor, die im letzten Jahrzehnt mehr als 8 Millionen abgetriebenen Menschen würden leben! Ein demografisches Problem würde es nicht geben und auch nicht die unbefriedigenden Lösungsversuche.

Das bedeutet für das Ergebnis: Vernünftige Begründungen, diese Strafvorschrift abzuschaffen, wurden weder von den sympathisierenden Parteien SPD, Grüne, FDP und Linke geboten, noch hat die Evangelische Kirche im Kontext mit dem „chrismon“-Artikel in irgendeiner Weise das getan, was die klugen Verantwortlichen der Reformation uns durch Geist und Tat vorgemacht haben.

Christian Hausen, Rechtsanwalt, Neumünster,  08.10.2018