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Wie geht es den Christen und religiösen Minderheiten im Irak?

Montag 10. September 2018 von Ojcos-Stiftung


Ojcos-Stiftung

„Wenn du es im Irak Ernst meinst, dann musst du mindestens zweimal im Jahr herkommen.“ Nach meiner ersten Reise in den Irak im März 2018 war schnell klar, dass eine regelmäßige Anwesenheit vor Ort wichtig ist. Die persönlichen Begegnungen sind unverzichtbar und haben für die Menschen dort einen hohen Stellenwert. In der orientalischen Kultur hat das gemeinsame Verbringen von Zeit eine große Bedeutung und führt oft dazu, dass neue Kontakte vermittelt werden oder einfach spontan entstehen. Deshalb bin ich vom 9. bis 15. Juli 2018 erneut in den Nordirak gereist. Es hat mich sehr gefreut, dass ich Uwe Heimowski, Politikbeauftragten der Deutschen Evangelischen Allianz, als Mitreisenden und Multiplikator für das Thema „Religionsfreiheit im Irak“ gewinnen konnte. Die Christen und religiösen Minderheiten brauchen noch viel mehr konkrete, strategische Unterstützung.

Mit der großartigen Unterstützung der lokalen christlichen Hilfswerke CAPNI in Dohuk und „Al Raja & Al Salam for Civil Rights“ in Erbil konnten wir tiefe Einblicke in die aktuelle Situation vor Ort erhalten. Wir waren in der Region Dohuk, Erbil und in der Ninive-Ebene unterwegs und hatten die Möglichkeit in diesen wenigen Tagen über 25 Einzelpersonen zu treffen und ihre Einschätzung und Erlebnisse zu hören: Amtsträger der Kirche und jesidischer Führungskreise, Politiker (Parlamentsabgeordnete, Ministeriumsmitarbeiter und Bürgermeister), Leiter verschiedener Hilfswerke sowie lokale Pastoren jüngerer christlicher Gemeinden.

Was hat sich verändert?

Als erstes viel mir auf, dass an den vielen Checkpoints deutlich weniger gepanzerte Fahrzeuge und Militär präsent waren als im März. Die Unsicherheiten und Spannungen nach dem kurdischen Unabhänigkeitsreferendum scheinen nachgelassen zu haben. Deshalb war uns dieses Mal auch eine Einreise über den Flughafen in Erbil möglich, der beim letzten Mal noch für internationale Flüge gesperrt war. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter der Oberfläche eine große Instabilität herrscht, die schnell wieder zu militärischen Handlungen führen kann.

Beim erneuten Besuch von Orten wie Telskuf (Tesqopa) und Bahzani war ich sehr überrascht, wie schnell die Wiederaufbauarbeiten voranschreiten. Natürlich ist die Not und Zerstörung noch groß, aber der Wille, das Stadtbild zu normalisieren, ist deutlich sichtbar. Beim Besuch des syrisch-katholischen Erzbischofs von Karakosch (al-Hamdaniya), Boutros Moshe, wurde uns auch der Wunsch nach weiterer Unterstützung mitgegeben. Bashar Warda, der chaldäisch-katholische Erzbischof von Erbil, berichtete uns von seinen politischen Bemühungen, Geld für die Infrastruktur der christlichen Dörfer in der Ninive-Ebene aufzutreiben. Es war auch wieder sehr beeindruckend zu sehen, in welcher Hingabe, Qualität und Breitenwirkung sich der assyrische Erzdiakon Emanuel Youkhana und sein Hilfswerk CAPNI für die Wiederherstellung des normalen Lebens einsetzen. Ihr Motto: „To keep the hope alive“.

Wie sieht der Alltag aus?

Der Alltag der Christen im Land ist nach wie vor von großer Perspektivlosigkeit geprägt. Während einerseits viele Vertriebene zurück in ihre jahrtausendalte Heimat wollen, erleben die Zurückgekehrten eine dramatisch schlechte Situation. Die Internationale Organisation für Migration berichtet in ihrem Report vom 26. Juni 2018, dass es im Irak „nur noch“ zwei Millionen Binnenvertriebene gäbe. Doch verlangsame sich die Rückkehr, da man vor Ort folgenden signifikanten Herausforderungen gegenüberstehe: Mangelnder Zugang zu Beschäftigung und Möglichkeiten, den eignen Lebensunterhalt zu sichern, gefolgt von der fehlenden Möglichkeit, die erlittenen Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten sowie der Mangel an Sicherheit und Bewegungsfreiheit.

Wir haben einen ganzen Tag im christlichen Dorf Telskuf (Tesqopa) in der Ninive-Ebene verbracht. Ob es der Kfz-Mechaniker, der Inhaber eines kleinen Bügelladens oder der Friseur war, ihre Geschichten ähneln sich sehr. Nach teilweise mehrfacher, überstürzter Flucht aus dem nach wie vor unbewohnbaren Nachbardorf Batnaya bis an die Landesgrenzen, konnten sie nun bis hier zurückkehren. Sie sind dankbar für die erhaltenen Kleinkredite christlicher Hilfswerke, die ihnen eine minimale Versorgung für ihre Familien ermöglicht. Viele Familienmitglieder haben aber schwere Krankheiten oder benötigen Operationen, die viel Geld kosten würden. So ist jeder Tag ein Kampf ums Überleben. Welche Auswirkungen die erlebten Traumata haben und wie viel Aufarbeitung hier notwendig sein wird, dürfte den meisten noch völlig unklar sein.

Dazu kommt, dass in allen Familien ein großer Teil der Verwandtschaft bereits im Ausland lebt. Neben den oben genannten „Push-Faktoren“, ist dies einer der großen „Pull-Faktoren“ für Migration.

Trotz aller Not empfand ich im christlichen Teil der Bevölkerung eine grundsätzlich positive Grundhaltung. Das demonstrative Aufrichten von Kreuzen, die Wiederherstellung von Kirchen und Gottesdiensten, die optische Ausbesserung von Kriegsschäden sowie der Versuch, den Alltag zu normalisieren, zeugen davon.

Bei den Jesiden habe ich dagegen sehr große Resignation und Aussichtslosigkeit empfunden. Ob es im Gespräch mit Bahzad Suleiman, einem geistlichen Führer und Mitglied des obersten religiösen Rates der Jesiden, in Bahzani war oder der junge Familienvater, der seit vier Jahren im Camp lebt und weiß, dass seine Heimat Sindschar, im Westen von Mossul, nach wie vor von Terroristen kontrolliert wird.
Zum vierten Mal jährt sich nun der Völkermord an den Jesiden im Irak. Für viele Moslems gelten sie als „Teufelsanbeter“ und in den Augen des IS haben sie, im Gegensatz zu Christen denen „wenigstens“ eine Konversion möglich ist, keinerlei Existenzrecht. Noch heute werden 3.000 Frauen als Geiseln gehalten und Abertausende Vertriebene warten in Camps auf die Möglichkeit der Rückkehr.

Welche Forderungen nehme ich mit?

Die Menschen im Irak sind dankbar für die humanitäre Hilfe, die sie erhalten. Deutschland genießt große Sympathie für seine Aktivitäten im Irak. Die aktive Unterstützung des Wiederaufbaus von Infrastruktur ist an vielen Orten deutlich sichtbar. Die Bewaffnung der kurdischen Peschmerga zur Verteidigung der Dörfer mit religiösen Minderheiten hat Unzähligen das Leben gerettet. Immer wieder haben sich Menschen bei mir für dieses deutsche Engagement bedankt.

Der Wiederaufbau von Infrastruktur ohne Sicherheit für das (Über-)Leben ist jedoch keine echte Perspektive. Die Christen und religiösen Minderheiten befürchten, erneut Opfer von innermuslimischen Auseinandersetzungen zu werden. Der schiitische Iran übt einen großen Einfluss aus, Saudi-Arabien unterstützt die Sunniten und die Türkei bekämpft im Norden immer wieder die Kurden. Auch wenn der IS formell besiegt ist, so ist doch dessen Denken in vielen Regionen noch weit verbreitet. Die Unruhen im Süden Iraks, die am Ende unserer Reise ausgebrochen sind, zeigen, wie schnell die Situation eskalieren kann. Es herrscht die große Angst vor einem erneuten Erstarken von muslimischen Extremisten, die ganz schnell wieder zum Kampf aufrufen könnten. Dann würde sich alles wiederholen.

Nahezu alle Christen und Jesiden, denen wir begegnet sind, baten nachdrücklich darum, Deutschland und die Europäische Union mögen weiterhin wachsam die irakische sowie die irakisch-kurdische Regierung begleiten und noch deutlicher Religionsfreiheit einfordern. Die nachfolgende Aussage eines Einheimischen bringt die Notwendigkeit auf den Punkt: „Wenn ihr nichts tun werdet, dann kommen wir demnächst als Flüchtlinge zu euch. Das kostet euch dann noch mehr.“

Die religiösen Minderheiten brauchen sichtbare Zeichen der Unterstützung. Bereits die reine Präsenz von deutschen bzw. europäischen Organisationen, Unternehmen oder politischen Vertretungen stärkt die Sicherheit in der Region. Wann ruft die erste Stadt eine Städtefreundschaft zu einem christlichen Dorf in der Ninive-Ebene ins Leben? Diese macht einerseits deutlich: „Ihr seid nicht allein“, zeigt aber auch: „Wir haben ein Auge auf die Aktivitäten in der Region.“

Außerdem braucht es endlich eine innerirakische Diskussion über Ursachen und zukünftige Vermeidung des IS-Terrorismus. Die verschiedenen Strömungen des Islam müssen sich der Auseinandersetzung stellen. Eine öffentliche Debatte ist dringend notwendig.

Dabei spielen auch die aktuellen Lehrpläne eine wichtige Rolle: Die Zeit der Hochkulturen Mesopotamiens, in der auch die christlichen Kirchen ihre Wurzeln haben, wird heute komplett ignoriert. Die Geschichte Iraks beginnt in den Schulbüchern erst mit dem Auftreten des Islams viele Jahrhunderte später.

Aus der Erfahrung der Kolonialisierung und mancher falscher entwicklungspolitischer Aktivitäten sind wir hier, zurecht, sehr vorsichtig. Die Botschaft, die mir die verfolgten Christen und religiösen Minderheiten im Irak mitgegeben haben, lautet aber unmissverständlich:

„Vergesst uns nicht und helft uns, uns selbst zu helfen!“

David Müller, Politischer Fürsprecher für Religionsfreiheit im Irak, Ojcos-Stiftung (30.8.2018)

www.ojcos-stiftung.de

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 10. September 2018 um 9:34 und abgelegt unter Christentum weltweit.