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Diskurse über die demographische Alterung in Deutschland – aus der Perspektive des früheren Lehrstuhlinhabers für Bevölkerungswissenschaft der Universität Bielefeld

Freitag 11. Mai 2018 von Prof. Dr. Herwig Birg


Prof. Dr. Herwig Birg
  1. Vorbemerkung

So gut wie niemand bestreitet heute, dass Deutschlands Bevölkerung altert. Trotzdem gab es in Deutschland in den letzten dreißig Jahren, einschließlich der aktuellen Koalitionsrunden zwischen den großen Parteien, keine ernsthafte Diskussion zu diesem Thema. Dies gilt erstaunlicherweise auch für die universitäre Wissenschaft, erst recht für Politik und Medien. Seit Jahrzehnten sind zwar alle Informationskanäle mit demographischen Themen überfüllt, aber Diskurse im Sinne eines Austauschs von Argumenten über die Ursachen und die Folgen der demographischen Alterung, also ernsthafte Auseinandersetzungen in der Sache, waren insbesondere in der universitären Wissenschaft eher selten.

Der Anlass für die folgende Betrachtung ist das Ergebnis der Koalitionsgespräche zwischen CDU, CSU und SPD vom 8. Februar 2018. Die geplante große Koalition leitet ihre Existenzberechtigung nicht zuletzt daraus ab, dass große Probleme zu lösen sind. Unter diesen Problemen ist die demographische Alterung wahrscheinlich das größte. Der jetzt verabschiedete Koalitionsentwurf, über den die Mitglieder der SPD noch abstimmen werden, enthält zu diesem großen Thema nichts. Wie konnte es dazu kommen?

Die Ausgangslage

Deutschland hatte in den 70iger Jahren des vorigen Jahrhunderts die niedrigste Geburtenrate der Welt. Um Ursachen und Folgen der demographischen Entwicklung wissenschaftlich untersuchen zu lassen, beschloss die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der CDU die Gründung des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) und eines neuen Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bielefeld.[1] Auf diese Weise entstand in Deutschland nach dem Missbrauch der Demographie durch die verbrecherische Politik des Nazi-Regimes nach jahrzehntelanger Unterbrechung das erste universitäre Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Demographie und der erste Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, auf den ich 1980 berufen wurde.

Die Grundlagenforschung des neuen Instituts wurde durch die Bundesregierung und durch verschiedene Landesregierungen, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und andere öffentliche Einrichtungen der Forschungsförderung, darunter große Stiftungen, unterstützt. Hierzu zählten beispielsweise die unter meiner Leitung durchgeführten Forschungsprojekte im Auftrag folgender Einrichtungen: Planungsabteilung der Niedersächsischen Staatskanzlei[2], Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Schutz der Erdatmosphäre[3], Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Demographischer Wandel[4] sowie die Erweiterung des Forschungsprojekts im Auftrag der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Schutz der Erdatmosphäre[5] und das Forschungsprojekt im Auftrag des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft zur Gesetzlichen Rentenversicherung[6]

Der Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft konzentrierte seine Grundlagenforschung auf die Entwicklung einer Theorie zur Erklärung des langfristigen, weltweiten Abnahmetrends der Geburtenrate in entwickelten Gesellschaften. Ein weiterer Schwerpunkt konzentrierte sich auf die Erforschung der niedrigen Fertilität als der wichtigsten Ursache der demographischen Alterung, sowie auf die Bevölkerungsschrumpfung und die Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung Deutschlands durch Migrationsprozesse, einschließlich der Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft.

Würden die Bewohner eines anderen Planeten den demographischen Diskurs in Politik, Medien und Wissenschaft beobachten, kämen sie wahrscheinlich zu dem Schluss, dass die demographische Alterung das wichtigste Phänomen der demographischen Entwicklung in Deutschland sei und die niedrige Geburtenrate nur eine relativ unwichtige Nebenerscheinung. Tatsächlich ist es umgekehrt, die niedrige Geburtenrate trägt am meisten zur demographischen Alterung bei, während die zunehmende Lebenserwartung diese Wirkung nur verstärkt. Dies ist das Ergebnis von zahlreichen, am Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft durchgeführten Simulationsrechnungen, deren Ergebnisse in der Wissenschaft unumstritten sind: Selbst wenn die Lebenserwartung nicht weiter zunähme und auf dem Niveau vom Ende des 20. Jahrhunderts unverändert bliebe, würde sich der Altenquotient (= über 60jährige in Prozent der 20 bis 60jährigen) trotzdem bis zum Jahr 2050 verdoppeln! Bei einer starken Zunahme der Lebenserwartung könnte sich der Altenquotient – auch bei hohen Einwanderungen Jüngerer – sogar verdreifachen.[7] Die Ergebnisse dieses 1998 veröffentlichten Bandes wurden auch in anderen Publikationen veröffentlicht[8].

Das Max Planck Institut für demografische Forschung (MPIDR) veröffentlichte 2011, ohne die 1998 erschienen Forschungsergebnisse des IBS zu erwähnen, folgende Gegenthese: „Die Alterung der Gesellschaft als Ganzes wird wesentlich weniger von den derzeit niedrigen Geburtenraten getrieben als von der rasant steigenden Lebenserwartung – also von einem wünschenswerten Prozess“[9]. Aber wenn sich der Altenquotient auf Grund der niedrigen Geburtenrate sogar bei konstanter Lebenserwartung verdoppeln wird –wie soll dann sein Anstieg in erster Linie von der „rasant steigenden Lebenserwartung getrieben sein“?

Die These MPIDR und das Schweigen über die konkurrierenden Thesen des IBS hatte Folgen. Mit der Zeit senkte sich eine Art eiserner Vorhang der Nicht-Kommunikation zwischen die am öffentlichen Diskurs beteiligten Wissenschaftler, Politiker und Medienvertreter. Heute scheint sich die Öffentlichkeit an den Zustand der Nicht-Diskussion gewöhnt zu haben, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das ändern wird.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird mit dem Begriff demographische Alterung meist nur die Zunahme der Lebensdauer des einzelnen Menschen assoziiert, und zwar positiv. In der Demographie bezeichnet der Begriff Alterung jedoch auch die Eigenschaft einer Gruppe von Menschen oder der Gesellschaft als Ganzes, gemessen beispielsweise durch das Medianalter oder den Altenquotienten. Der Altenquotient ist eine der aussagekräftigsten Messziffern der demographischen Alterung, und zwar besonders dann, wenn die Auswirkungen einer älter werdenden Gesellschaft auf die sozialen Sicherungssysteme, die Entwicklung der Volkswirtschaft und die internationale Migration im Zentrum des Interesses stehen, wobei  dann auch die negativen Auswirkungen der steigenden Lebenserwartung deutlich werden.

Die Gleichzeitigkeit der positiven und negativen Konnotation und die damit verbundene Mehrdeutigkeit[10] des Begriffs demographische Alterung leistete der Instrumentalisierung dieses Begriffs durch Politik und Medien Vorschub. Von Politikern wird die Alterung meist als ein positives Phänomen im Sinne des Gewinns an Lebenszeit für den Einzelnen adressiert und als eine Chance dargestellt. Aus den Simulationsrechnungen des IBS, des Statistischen Bundesamtes[11] und der anderen auf dem Gebiet der Demographie tätigen Forschungseinrichtungen ergibt sich jedoch als unabwendbare Konsequenz der individuellen Lebenserwartungszunahme ein starkes Wachstum des Altenquotienten mit negativen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme und die Gesellschaft als Ganzes. Zum Einfluss der Zuwanderung äußerte sich das Statistische Bundesamt in einer Pressemitteilung so: „Alterung der Bevölkerung durch aktuell hohe Zuwanderung nicht umkehrbar.[12]

Das Ignorieren der niedrigen Geburtenrate als zentrale Ursache der demographischen Alterung führte auch dazu, dass der entscheidende Grund für das niedrige Niveau der Geburtenrate bzw. für das hohe Niveau der Alterung bis heute in der Öffentlichkeit kein Thema ist. Vom Beginn seiner Gründung im Jahr 1980 an hatte das IBS seine Forschungstätigkeit auf die Entwicklung einer Fertilitätstheorie für entwickelte Gesellschaften konzentriert.[13] Seitdem wissen wir, dass die niedrige Geburtenrate und die damit verbundene demographische Alterung auf der Spaltung der Gesellschaft in zwei Teilgesellschaften beruht. Der größere Teil der Gesellschaft – etwa Zwei Drittel der Frauen – hat seit Jahrzehnten unverändert die ideale Geburtenrate von durchschnittlich zwei Kindern je Frau, während ein Drittel der Frauen zeitlebens kinderlos bleibt, so dass der Gesamtdurchschnitt bei 1,4 bis 1,5 Lebendgeborenen je Frau liegt.[14]

Weil diese Fakten immer noch wenig bekannt sind, wird die Bedeutung der Geburtenrate für die Funktionsfähigkeit der Renten,- Kranken- und Pflegeversicherung verkannt: Eine ausreichend hohe Geburtenrate ist für die Funktionsfähigkeit der Sozialen Sicherungssysteme von wesentlich größerem Gewicht als der Einfluss der steigenden Lebenserwartung. Die Gesetzliche Rentenversicherung Deutschlands wäre nicht nur das stabilste und sicherste, sondern zugleich auch das gerechteste Rentensystem der Welt, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden. Erste Bedingung: Die Geburtenrate müsste rund zwei Kinder pro Frau betragen. Liegt sie wie in Deutschland seit Jahrzehnten nur bei 1,4 bis 1,5, wird das umlagefinanzierte soziale System funktionsunfähig, weil die Zahl der Beitragszahler schrumpft und gleichzeitig die der Rentner wächst, was am Anstieg des Altenquotienten abgelesen werden kann. Die zweite Bedingung ist: Wenn die Geburtenrate zwar im Durchschnitt (!) das ideale Niveau von zwei Kindern je Frau hätte, wobei beispielsweise in der einen Hälfte der Frauen vier Kinder je Frau entfielen, während die andere Hälfte zeitlebens kinderlos bliebe, dann wäre die erste Bedingung zwar erfüllt und die Schere zwischen der Zahl der Älteren und der Jüngeren würde sich nicht öffnen, aber dann müsste die eine Hälfte der Menschen im Alter von den Nachkommen der anderen Hälfte mitversorgt werden, und zwar unbeschadet der Belastung der Kinderlosen durch höhere Steuersätze u.ä., und unabhängig von der Tatsache, dass manche Menschen freiwillig, andere gegen ihren Willen infolge von Schicksalsschlägen kinderlos bleiben. Entsprechendes gilt für die Kranken- und Pflegeversicherung.[15] Eine solche Gesellschaft hätte ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem und wäre deshalb nicht überlebensfähig, obwohl die Geburtenrate ausreichen würde, um die sozialen Sicherungssysteme funktionstüchtig zu erhalten.

  1. Politische Strategien der Desinformation

Die folgenden kritischen Äußerungen über die Politiker und die Medienschaffenden sind pauschal, sie bedürfen selbstverständlich einer Differenzierung. Die Ausnahmen sind jedoch rar. Was das Verständnis für die Bedeutung der Demographie betrifft, ist Kurt Biedenkopf eine der seltenen Ausnahmen. Bei den Journalisten, von denen die meisten abhängig beschäftigt sind, nenne ich vorsichtshalber keine Namen.

Seit Jahrzehnten ignoriert Deutschland die am genauesten prognostizierte Krise seiner Geschichte. Früher sah die Politik in der demographische Entwicklung noch ein Problem, wie die Gründung des IBS 1980 zeigt, aber heute behaupten fast alle hochrangigen Politiker, die Bevölkerungsentwicklung sei überhaupt kein Problem, sondern eine „Chance“. Um mögliche Kritik an dieser Position seitens der Wissenschaft zu erschweren, wurde das IBS mit seinem Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft im Jahr 2004 (zeitgleich mit meiner Emeritierung) als zentrale, fakultätsunabhängige wissenschaftliche Einrichtung auf der Ebene des Senats (gegen den dringenden Rat aller Experten) aufgelöst und in ein kleines Fakultätsinstitut als Teil der Fakultät für Gesundheitswissenschaft der Universität Bielefeld umgewandelt. Ähnlich war das Vorgehen bei der Auflösung des Lehrstuhls für Bevölkerungssoziologie an der Universität Bamberg zeitgleich mit der Emeritierung meines Kollegen Prof. Dr. Josef Schmid. Der Wegfall des dritten Lehrstuhls für Demographie an der Humboldt Universität Berlin wurde offiziell mit Sparzwängen begründet. Gleichzeitig wurden in Deutschland Dutzende neue Professuren für Genderforschung geschaffen.

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler startete 2005 in Berlin eine Reihe von Demographie-Konferenzen, auf deren programmatischer Auftaktveranstaltung er die Botschaft verkündete, die demographischen Probleme Deutschlands seien in Wahrheit keine Probleme, sondern „Lösungen“ für andere Probleme. So stellte er in seinem Vortrag den Bevölkerungsrückgang in Deutschland als etwas Positives heraus, weil er ausgleichend auf das Wachstum der Weltbevölkerung wirke. Offensichtlich war dem Bundespräsidenten nicht bekannt, dass die Weltbevölkerung jedes Jahr um die Einwohnerzahl Deutschlands zunimmt, so dass sogar das Verschwinden der gesamten Bevölkerung Deutschlands das Wachstum der Weltbevölkerung nur um ein Jahr aufhalten könnte, danach ginge das Wachstum der Weltbevölkerung weiter, so als ob nichts geschehen wäre.[16] Die erstaunliche Behauptung des Bundespräsidenten stand in seiner als schriftliche Pressemitteilung schon vor der Konferenz verteilten Rede. Aber in der späteren amtlichen Dokumentation der Rede wurde die entsprechende Passage eliminiert. Ist dieser Umstand vielleicht auf meine nach der Rede im Plenum geäußerte Kritik zurückzuführen? Dann wäre dies die einzige Reaktion auf meine Kritik. Die Bertelsmann-Stiftung, die den Bundespräsidenten bei der Konzeption seiner Demographiekonferenz wissenschaftlich beraten hatte, reagierte auf meine Kritik völlig verständnislos.

Wie ist es zu erklären, dass die Bürger dieses Landes es hingenommen haben, von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten schlecht informiert oder bewusst in die Irre geführt zu werden? Die FAZ veröffentlichte am 28.8.2006 ein zwei Seiten füllendes Streitgespräch zwischen mir und Albrecht Müller, dem früheren Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Gleich im ersten Satz seiner ersten Äußerung stellte Müller die These auf: „Wir haben kein demographisches Problem“.[17] Müller bekannte sich dazu, schon während seiner Amtszeit die auf dem Gebiet der Demographie tätigen Wissenschaftler in ehrabschneiderischer Weise in die Nähe der Nazis gerückt zu haben, um die Diskussion über die demographischen Probleme Deutschlands zu verhindern. Damit hatte er Erfolg.

In den folgenden Jahren verstieg sich die hohe Politik zu einer ungehemmten, ideologischen Beschönigung der demographischen Fakten, die an die Propaganda der früheren DDR erinnerte. So stellte die frühere Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, das von ihr ausgerufene „Wissenschaftsjahr 2013“ unter das Motto „Die demographische Chance“. Folgt man der Logik dieser Politikerin, dann war das Flächenbombardement deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg keine Katastrophe, sondern eine „Chance“ für den Wiederaufbau.

Politiker wissen, dass die verantwortungsvolle, sachgerechte Darstellung der demographischen Probleme und Risiken zum Verlust von Wählerstimmen führen würde, denn die Wähler könnten fragen, warum nicht schon wesentlich früher auf die bereits in den 80iger Jahren bekannten Probleme reagiert wurde. Bei den Medien ist die Interessenlage ähnlich. Eine ungeschminkte Berichterstattung hätte wahrscheinlich eine Verringerung von Printauflagen und Einschaltquoten zur Folge. Das gleichgerichtete Verhalten von Politik und Medien ist also nicht verwunderlich. Aber wie steht es in dieser Hinsicht mit dem zu sachlicher Information verpflichteten Statistischen Bundesamt?

Zur Beantwortung dieser Frage dient folgendes Beispiel. Das Statistische Bundesamt hat die Abiturientenquote (= Anteil der Abiturienten an einem Geburtsjahrgang) zwischen Migranten und Nicht-Migranten verglichen und darüber eine Pressekonferenz abgehalten. Die Abiturientenquote hat sich bei der deutschen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten etwa verzehnfacht, sie beträgt bei den jüngeren Altersgruppen rund 40 Prozent, bei den Älteren lag sie bei 4 Prozent. Der über alle Altersgruppen berechnete Durchschnitt der Abiturientenquote der Migranten wird durch deren wesentlich höheren Anteil an jungen Jahrgängen rechnerisch erhöht, so wie der Durchschnitt bei den Deutschen durch deren wesentlich ältere Altersstruktur rechnerisch gesenkt wird. Will man die Abiturientenquote zwischen Migranten und Nicht-Migranten vergleichen, muss man also den verzerrenden Einfluss der unterschiedlichen Altersstruktur eliminieren, indem man die Abiturientenquote für jede Altersgruppe gesondert zwischen Migranten und Nicht-Migranten vergleicht. Bei einem solchen Vergleich ergibt sich das umgekehrte Bild: Die Abiturientenquote ist bei der Migrationsbevölkerung in  jedem  einzelnen Altersjahr niedriger als bei den Deutschen. Das ist eigentlich trivial, jedenfalls ist das Statische Bundesamt mit diesem Sachverhalt bestens  vertraut. Umso erstaunlicher war es, dass der Präsident des Statistischen Bundesamtes auf der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Statistischen Jahrbuchs 2008 die Öffentlichkeit mit der Feststellung überraschte: 21 % der Menschen mit Migrationshintergrund haben den höchsten Schulabschluss, bei den Nicht-Migranten sind es nur 18%.

Die Berliner Morgenpost berichtete über die Pressekonferenz unter der Ãœberschrift „Immer mehr hoch gebildete Migranten“: „Kinder von Einwanderern erreichen häufiger den höchsten Schulabschluss als deutschstämmige Gymnasiasten. 2006 hatten 21 Prozent der betroffenen Zuwanderer das Abitur, aber nur 18 Prozent der Nicht-Migranten, teilte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler, gestern bei der Vorstellung des Statistischen Jahrbuchs 2008 mit. Damit kehrt sich in diesem Bereich der Trend um, dass Kinder nichtdeutscher Herkunft in der Bildung benachteiligt sind. Egeler erklärte dies mit dem Anteil von gebildeten Zuwanderern aus Mittel- und Osteuropa, die Wert auf die Bildung ihrer Kinder legen.“[18] Ich habe diesen Informationsskandal in meinem Buch „Die alternde Republik…“(S. 196 f.) dargestellt – ohne irgendeine Reaktion aus Wissenschaft, Politik, Medien oder dem Statistischen Bundesamt selbst.

Ein weiteres Beispiel für die Desinformation und Manipulation der Öffentlichkeit liefert die von der Bertelsmann-Stiftung finanzierte Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zum Thema: „Der Beitrag von Ausländern und künftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt“.[19] Darin kommt der Autor (Holger Bonin) durch umfangreiche empirische Berechnungen zu dem Ergebnis, dass die Zuwanderungen für Deutschland in jeder Hinsicht ein finanzielles Verlustgeschäft sind. Aber der Autor und die Bertelsmann-Stiftung als Auftraggeber der Untersuchung fassten das Ergebnis der Studie für die Öffentlichkeit und die Medien so zusammen: „Deutschland profitiert von Zuwanderung“. Der Autor fordert  die Leser seiner Studie sogar ausdrücklich dazu auf, sich von seinen eigenen Ergebnissen zu distanzieren! Der falsche Satz – „Deutschland profitiert von Zuwanderung“ – wurde in der Folgezeit von Politik und Medien kritiklos wiederholt, und zwar ohne jede Gegenstimme seitens der Wissenschaft, wenn man von zaghaften Versuchen der Richtigstellung durch das Ifo-Institut und von meiner eigenen Kritik absieht.[20]

  1. Das Verhalten der Medienschaffenden

 Einer der entscheidenden Gründe für die ausgebliebene, sachgerechte Diskussion des Themas ‚demographische Alterung‘ und für den Erfolg der Desinformationspolitik der Regierung ist das Verhalten der besonders einflussreichen Journalisten, darunter vor allem Frank Schirrmacher.

Schirrmacher identifiziert in seinem Buch „Das Methusalem-Komplott“ die Steigerung der Lebenserwartung als Hauptgrund für die Alterung der Gesellschaft. Wie ich gezeigt habe, entspricht dies nicht den Tatsachen. Denn der Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölkerung, des Medianalters und des Altenquotienten wird zum weitaus überwiegenden Teil durch die niedrige Geburtenrate verursacht, durch die sich die Zahl der nachwachsenden Jüngeren verringert, während die Zahl der Älteren gleichzeitig zunimmt. Dabei kommt dem Anstieg der Lebenserwartung nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass sich der Altenquotient in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts auch dann verdoppeln würde, wenn die Lebenserwartung konstant bliebe.

Schirrmachers sachlich unrichtige Schwerpunktsetzung auf die Lebenserwartungszunahme statt auf die niedrige Geburtenrate als Hauptursache der demographischen Probleme Deutschlands hatte und hat große Auswirkungen auf die öffentliche Meinungsbildung und die Politik. Sie war auch ein wichtiger Grund dafür, dass Schirrmachers Versuch, eine ernsthafte Debatte über das Thema Demographie anzustoßen, ins Leere lief. Auch mein eigener Aufklärungsversuch, der „Grundkurs Demographie“ in Form von 10 Artikeln in der FAZ, konnte das Blatt nicht grundlegend wenden.[21]

  1. Resümee

Die demographische Alterung hat wie eine Münze zwei Seiten – die positive, persönliche Seite der Lebenszeiterhöhung für den Einzelnen und als negative Kehrseite die Erhöhung des Durchschnittsalters der Gesellschaft als Ganzes. In der politisch geprägten öffentlichen Diskussion dominiert die positive Sichtweise, bis hin zu der absurden These von Mitarbeitern der ZEIT, dass auf Deutschland eher eine „ungebremste Verjüngung“(!) statt eine Alterung zukommt.[22] Fakt ist: Die Alterung wird bis zur Mitte des Jahrhunderts stetig bis auf ein Maximum zunehmen, und von der Mitte bis zum Ende des Jahrhunderts wird sie nicht, wie man meinen könnte, wieder allmählich abnehmen, sondern bis zum Ende des 21. Jahrhunderts auf dem dann erreichten hohen Niveau verharren. Darauf hat auch das Statistische Bundesamt immer wieder hingewiesen. Journalisten wie Herrn Schwentker blieb dies jedoch anscheinend verborgen, obwohl ich in einem Beitrag in der FAZ eine Widerlegung der populärsten demographischen Legenden veröffentlicht habe.[23]

Jeder Zeitungsleser müsste auch ohne demographische Vorkenntnisse folgendes einsehen: Wenn die Geburtenrate höher wäre und als Folge davon die Zahl der Jüngeren etwa gleich schnell zunähme wie die der Älteren, dann würde die sogenannte Alterspyramide nicht auf dem Kopf stehen, und der Altenquotient, das Medianalter und das Durchschnittsalter der Bevölkerung würden nicht rasant zunehmen. Dann käme niemand auf die Idee, die Alterung für das wichtigste demographische Problem zu halten.

Die Nicht-Kommunikation, Nicht-Diskussion und Desinformation über ein existentiell wichtiges Zukunftsproblem Deutschlands führte zu einer gewaltigen Konfusion in der öffentlichen Meinung. Dies hätte verhindert werden können, wenn eine ausreichende Zahl von Personen in Wissenschaft, Politik und Medien ihre Aufklärungspflicht wahrgenommen hätten. In einem schon 1996 erschienen Aufsatz in der FAZ habe ich die Entwicklung so zusammengefasst: „Die Leistung der Politik besteht im Verdrängen“.[24] Zu dieser These gab es  bis heute keinen einzigen Widerspruch.


Copyright: Prof. Dr. Herwig Birg (Berlin)

Herwig.birg@uni-bielefeld.de

www.herwig-birg.de

Berlin, den 9.2.2018


[1] Landtag Nordrhein-Westfalen (1979) Drucksache 8/5110 vom 29.10.1979. Antwort der Landesregierung auf die große Anfrage 22 der Fraktion der CDU, Drucksache 8/3922.

[2] H. Birg, Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in Niedersachsen unter besonderer Berücksichtigung von Wanderungen. IBS-Materialien, Band 34, 1993.

[3] H. Birg u. E.-J. Flöthmann, Bevölkerungsprojektionen für das vereinigte Deutschland bis zum Jahr 2100 unter besonderer Berücksichtigung von Wanderungen. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Studienprogramm der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“, Band 3, Teilband II, Bonn 1995

[4][4] H. Birg u. E.-J. Flöthmann, Entwicklung der Familienstrukturen und ihre Auswirkungen auf die Belastungs- und Transferquotienten zwischen den Generationen. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Studienprogramm der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“, Herausforderungen unserer älter werdender Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik, Band 1, Bonn 1996. Außerdem erschienen als Band 38 der IBS-Materialien 1996.

[5] H. Birg, E.-J. Flöthmann, Th. Frein u. K Ströker, Simulationsrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in den alten und neuen Bundesländern im 21. Jahrhundert. IBS-Materialien, Band 45, 1998.

[6]H. Birg u. E.-J. Flöthmann, Demographische Projektionsrechnungen für die Rentenreform 2000 – Methodischer

  Ansatz und Hauptergebnisse. Bände 47A u. 47B der IBS-Materialien.

[7] H. Birg, E.-J. Flöthmann, Th. Frein u. K. Ströker, „Simulationsrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in den alten und neuen Bundesländern im 21. Jahrhundert“, Universität Bielefeld, IBS-Materialien, Band 45, 1998.

[8] Beispielsweise in: H. Birg, Die demographische Zeitenwende, 4. Aufl., München 2005, 178-180, Schaubilder 36 u. 37. Sowie: H. Birg, Die alternde Republik und das Versagen der Politik. Berlin, Münster 2015, S. 81 ff.

[9] B. Schwentker u. J. W. Vaupel, „Eine neue Kultur des Wandels.“ In: Demographischer Wandel, Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung, 10-11/2011. S. 3.

[10] Einen Überblick über die verschiedenen Aspekte der demographischen Alterung bietet:  H. Birg u. E.-J. Flöthmann, Langfristige Trends der demographischen Alterung in Deutschland. In: A. M. Raem u.a. (Hrsg.), Handbuch Geriatrie – Lehrbuch für Praxis und Klinik. 1. Aufl., Münster 2005, S. 63-72.

[11] Statistisches Bundesamt, „Bevölkerung Deutschlands bis 2060 – 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung“, Wiesbaden 2015.

[12] „Alterung der Bevölkerung durch aktuell hohe Zuwanderung nicht umkehrbar.“ Pressemitteilung vom 20.1.2016. kann durch

[13] H. Birg, W. Felber, E.-J- Flöthmann, Arbeitsmarktdynamik, Familienentwicklung und generatives Verhalten – Eine biographietheoretische Untersuchung demographisch relevanter Verhaltensweisen. IBS-Materialien,  Band16, 1984. Sowie: H. .Birg, E.-J. Flöthmann u. I. Reiter I,  Biographische Theorie der demographischen Reproduktion. Frankfurt a.M., 1991.

[14] H. Birg, Die alternde Republik und das Versagen der Politik – eine demographische Prognose. Münster 2015, S. 42 ff.

[15] H. Birg, Die Gretchenfrage der deutschen Demographiepolitik: Erneuerung der Gesellschaft durch Geburten im Inland oder durch Zuwanderungen aus dem Ausland? In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften (ZSE), 3/2016, S. 351-377

[16] Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der Konferenz „Demographischer Wandel“ am 6. Dezember 2005 in Berlin. In: Bundespräsidialamt, Pressemitteilung vom 6.12.2005, S. 5.

[17] „Demographie: Ist Deutschland noch zu retten?“, Streitgespräch zwischen Herwig Birg und Albrecht Müller, Moderiert von Frank Schirrmacher, FAZ, 28.8.2006, S. 32.

[18] Berliner Morgenpost, 8. Oktober 2008, S. 5.

[19] Bonin, H.:, Der Beitrag von Ausländern und künftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt. http://www.bertelsmann-Stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/28_Einwanderung_und_Vielfalt/Bonin_Beitrag_Zuwanderung_zum_dt_Staatshaushalt_141204_nm.pdf.

[20] H. Birg, Demographische Stabilität und Generationengerechtigkeit statt kompensatorischer Zuwanderungen. In: Ifo-Schnelldienst 3/2015, S. 18-23. Ders., Die Gretchenfrage der deutschen Demographiepolitik: Erneuerung der Gesellschaft durch Geburten im Inland oder durch Zuwanderungen aus dem Ausland?. In: Zeitschrift für Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften (ZSE), 3/2016, S. 370 f.

[21] Siehe den einleitenden Artikel von Frank Schirrmacher zu meinen 10 Artikeln zum Thema „Grundkurs Demographie“ in der FAZ vom 22.2.-3.4.2005. Nach der Veröffentlichung in der FAZ habe ich den „Grundkurs“ zu einem Buch erweitert (H. Birg, Die ausgefallene Generation, 2. Aufl. , München, 2006).

[22] B. Schwentker, Aussterben abgesagt. In: ZEIT-ONLINE, 8.6.2006.

[23] H. Birg, „Unser Verschwinden würde gar nicht auffallen“. FAZ, 28.6.2006, S. 43

[24] H. Birg, Die Leistung der Politik besteht im Verdrängen. FAZ, 11.5.1996, S. 8-9.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 11. Mai 2018 um 6:00 und abgelegt unter Demographie, Gesellschaft / Politik.