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Predigt zum Israelsonntag

Predigt zum 10. Sonntag n. Trin.
über Römer 9,1-5; 10,1-4

Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.
Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für sie, daß sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, daß sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.

Diesen Sonntag begeht die Kirche als Israelsonntag. Es geht um unser Verhältnis zu Israel, zum Judentum. Dieses Verhältnis ist belastet, leider. Dafür gibt es viele Gründe, ungefähr sechs Millionen. Wir haben aus dem, was geschehen ist, gelernt. Wir stehen dazu. Wenn auch manch einer mit sechzig Jahren Verspätung. Wir haben das „nie wieder Auschwitz!“ verinnerlicht. Und wir achten drauf, daß die braune Bande nie wieder hochkommt bei uns. In Wunsiedel darf nicht demonstriert werden am Todestag des Führerstellvertreters. Um die rechten Umtriebe kümmern sich Polizei und Verfassungsschutz. Und das ist gut so.

Und trotzdem bin ich in Sorge. Die neuen Antisemiten werden auch bei uns mit Samthandschuhen angefaßt. Die in Teheran zum Beispiel. Der iranische Präsident redet offen davon, daß Israel von der Landkarte radiert gehört. So hatte auch Hitler geredet, bevor er seine Worte in die Tat umgesetzt hat. Die Menschen in Israel haben daraus gelernt. Ein Jude schrieb dieser Tage, sein Vater habe ihm folgendes ans Herz gelegt: „Wenn einer sagt, er wolle dich vernichten – hör auf ihn!“ Ein weiser Rat! Und so hat es Israel ernst genommen, als Raketen eingeschlagen sind – 600 allein nach der Räumung des Gaza-Streifens –, als Soldaten ermordet und gekidnappt worden sind. Israel hat sich gewehrt, und prompt hat sich die öffentliche Meinung gegen dieses Land gewendet. Auch vielfach bei uns. Die Aggressoren wurden zu Opfern erklärt und die Opfer zu Tätern. Natürlich sind die zivilen Opfer im Libanon entsetzlich. Aber eine Terrororganisation, die ihre Stalinorgeln bewußt aus Wohnsiedlungen heraus abfeuert, hat diese Opfer damit bewußt provoziert. Um sie dann propagandistisch auszuschlachten. Und viele bei uns sind dieser Propaganda auf den Leim gegangen. Es hat bei uns in Deutschland keine Demonstrationen gegeben gegen den Terror von Hamas und Hisbollah. Aber Demonstrationen gegen Israel. Blauäugige Linke sind in Berlin einträchtig mit Leuten marschiert, die mit Terroristen sympathisieren und Israel ausgelöscht sehen wollen. Für manche braven Antifaschisten ist offensichtlich nur der Jude gut, der gehorsam in den Viehwaggon nach Auschwitz steigt. Der Jude, der sich verzweifelt seiner Haut wehrt, ist für sie ein Aggressor. Verstehen Sie, daß ich mir wieder Sorgen um Deutschland mache?

Aber lassen wir die Politik! Wünschen wir Israel und seinen Nachbarn Frieden und der internationalen Nahostpolitik Erfolg, und kommen wir zur Theologie. Wie sieht Paulus das Verhältnis zwischen Christen und Israeliten? Als ungeheuer leidvoll. Paulus beteuert, daß er große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in seinem Herzen trägt, wenn er an Israel denkt. An sein Volk und an seine Verwandten. Denn zwischen Kirche und Synagoge, zwischen Judentum und Christentum ist ein großer Riß. Trotz gemeinsamer Glaubensinhalte, trotz der gemeinsamen Vergangenheit. Wo dieser Riß genau verläuft, das hat ein großer jüdischer Theologe genial auf den Punkt gebracht: „Der Glaube Jesu verbindet uns. Der Glaube an Jesus trennt uns!“ So ist es. Der Glaube Jesu verbindet uns mit Israel. Paulus zählt hier auf, was Israel von Gott hat: Die Kindschaft und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören Israel. Und Israel gehören auch die Väter, und aus diesem Volk kommt auch Christus.

Wir haben uns das alles dankbar angeeignet. Wir bezeichnen uns als Gottes Kinder. Und wir lesen im Gottesdienst aus Israels Bibel. Aus derselben Bibel, die Jesus gelesen hat. Unsere Rechtsordnung beruht nicht auf finsteren Blutrachepraktiken, sondern auf den Zehn Geboten, die Gott Israel gegeben hatte. Unsere Kinder wachsen nicht mit den Geschichten von Siegfried und Hagen auf, sondern mit denen von Adam und Eva, Abraham und Isaak, David und Goliath. Und wenn bei uns jemand dunkle Stunden erleben muß, betet er den 23. Psalm, der Herr ist mein Hirte, statt Beschwörungen an Donar zu murmeln. Und das ist gut so.

Der Glaube Jesu verbindet uns. Wir glauben an denselben Schöpfer und Vater, lesen die gleiche Bibel, beten dieselben Psalmen und beachten dieselben Gebote. Hebräische Worte wie Amen und Halleluja sind in unsere Sprache aufgenommen worden. Warum dann dieser schmerzhafte Riß zwischen Juden und Christen? Der Glaube an Jesus trennt uns. Daß wir den Juden Jesus von Nazareth als den versprochenen Messias betrachten, ja, sogar als Sohn Gottes, das trennt uns von Israel.

Könnte man diesen frommen Bruderzwist nicht beilegen? So fragen viele. Es wäre einfach: Wir müßten uns lediglich darauf einigen, an den einen Gott zu glauben, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Ihn mit Jesus als Vater anreden und nach seinem Willen handeln. Das Judentum müßte nur noch Jesus als frommen Rabbiner und Schriftausleger anerkennen. Das fiele ihnen leicht. Und wir Christen müßten nur anfangen, vom lieben Gott zu sprechen, statt immer von Jesus zu reden. Warum wir zu Jesus beten, wenn wir doch schon den Herrgott haben, das verstehen sowieso viele Leute, die sich als Christen betrachten, schon lange nicht mehr.

So einfach könnten wir die zwei alten Weltreligionen zusammenschmeißen! Das Christentum wäre dann die liberale Variante des Judentums oder das Judentum ein etwas traditionalistischer Zweig des Christentums. Und was spräche dagegen, gleich noch den Islam mit ins Boot zu nehmen? Die glauben ja auch an den einen Gott. Sie stammen auch von Abraham ab, und selbst Jesus erkennen sie als Propheten an. Seit Gotthold Ephraim Lessing im 18. Jahrhundert behauptet hat, Christentum, Judentum und Islam seien im Grunde gleich wahr, sind wir doch für solche Gedanken offen. Wenn wir sie in die Tat umsetzen könnten, wäre der Nahostkonflikt entschärft. Und wahrscheinlich würde auch das Benzin wieder billiger.

Sie wissen, daß ich von solchen Ideen nichts halte. Aber sie sind in Mode zur Zeit. Dem Judentum wird von manchen Landeskirchen ein eigener Weg zu Gott zugestanden. Mission unter Juden ist verboten. Und auf evangelischen Kirchentagen werden keine Judenchristen eingeladen, die behaupten, sie hätten in Jesus Christus Gott kennengelernt. Und auch mit Moslems gibt es schon seit einiger Zeit gemeinsame Gebete. Vor wenigen Wochen wurde von einigen Theologen aus unserer Kirche ein sogenannter Appell aus Baden veröffentlicht. Darin wird gefordert, eine Ökumene der Religionen herzustellen – um des Weltfriedens willen. Als ersten Schritt solle man als Kirche auf Wahrheitsansprüche und Missionierungsversuche gegenüber Moslems verzichten. Das könnte man tun, in der Tat, wenn dem nicht ein Grund entgegenstünde. Ein einziger, aber schwerwiegender Grund. Nämlich der Mann aus Nazareth selbst. Der hat nämlich nicht gesagt: Leute, ich bin ein Rabbiner, der euch die Heilige Schrift besonders gründlich erklärt! Er hat nicht gesagt: Ich bin der erste neue Mann! Oder: Ich bin ein Religionsstifter, Morallehrer oder sonstwas. Jesus hat gesagt: Ich bin der Sohn Gottes. Mehr noch. Er hat gesagt: Wer mich sieht, sieht den Vater. Ich und der Vater sind eins. Jesus hat gesagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Und er hat gesagt: Keiner kommt zum Vater außer durch mich!

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, zu erklären, daß Jesus so was nie gesagt hätte. Erst seine Jünger hätten ihn in ihrer Begeisterung zum Gottessohn hochstilisiert. Aber wenn Jesus nur ein besonderer Schriftgelehrter und Wunderheiler gewesen wäre, dann hätte niemand bei Pilatus seine Kreuzigung beantragt. Dann hätte Paulus selbst seine Anhänger nicht so wutentbrannt verfolgt. Und jetzt bezeugt er es selbst: Er glaubt an Christus, der nach dem Fleisch, wir würden sagen: genetisch, von Israel herkommt, und der Gott über alles ist! Der Glaube an Jesus als bloßes Vorbild ist zu dünn. Nur seinen Glauben zu teilen und ihm nachzufolgen und nach seinem Vorbild zu handeln, das geht nicht. Oder können Sie auf dem Wasser gehen?

Nein, als Christen glauben wir daran, daß in Jesus Gott selbst zu uns gekommen ist, um uns von dem Diktat von Gottesferne, Schuld und Tod zu befreien. Dieser Glaube macht einen Christen aus. Und der trennt uns in der Tat von anderen Religionen. Für kluge Leute ist er eine Torheit, für Juden ein Ärgernis und für einen strammen Islamisten ein todeswürdiges Vergehen.

Der Glaube an Jesus trennt uns, wird von jüdischer Seite bekannt. Aber von derselben Seite kommen auch hoffnungsvollere Töne: Ihr Christen wartet auf den wiederkommenden Christus. Wir Juden warten auf den kommenden Messias. Wenn er kommen wird, werden wir bemerken, daß er derselbe ist. Ja, so wird es sein. Nein, mehr noch. Paulus sagt voraus, daß Israel noch vorher zum Glauben an Christus kommen wird. Aber noch besteht der Riß. Und wie sollen wir uns solange verhalten?

Überheblichkeit, christlicher Antijudaismus und Feindschaft sind falsch. Das hat schon Katastrophen genug verursacht. Den Glauben an Christus diskret wieder einzuziehen und ihn, zumindest gegenüber Israel, rücksichtsvoll zu verschweigen, wäre ebenso verkehrt. Paulus macht es uns vor: Er verschweigt seinen Glauben an Christus nicht. Und er steht dankbar zu seinem jüdischen Erbe. Aber was ihn am meisten umtreibt, ist die Liebe. Der Riß zwischen Kirche und Synagoge erfüllt ihn mit Trauer und Schmerz. Am liebsten würde er seine eigene Seligkeit für seine jüdischen Geschwister opfern, verflucht und von Christus getrennt sein, wenn ihnen das helfen könnte. Das ist nicht die Sprache der Überheblichkeit. Das ist bedingungslose Liebe. Aber es würde Israel nichts nützen, wenn sich Paulus für sein Volk opfern würde.Ein anderer hat sich für Israel geopfert, Christus selbst. Und in dem Augenblick, wenn Israel das erkennen wird, wird alles gut werden. Und weil Paulus weiß, daß dieser Tag kommen wird, kann er in allem Schmerz zuversichtlich sein. Bis es soweit ist, fleht Paulus zu Gott, daß sie gerettet werden. Und in dieses Gebet sollen wir als Christen einstimmen.

Ein Satz, den Paulus über Israel schreibt, ist mir noch wichtig geworden: Denn ich bezeuge ihnen, daß sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht! Wie erkläre ich das? Wenn ich von Punkt A nach Punkt B will, also zum Beispiel von Arlen nach Bohlingen, dann muß ich zwei Dinge tun: Ich muß die Richtung kennen. Und ich muß marschieren. Auch wenn ich ganz genau weiß, wo es langgeht: wenn ich nicht loslaufe, komme ich nie ans Ziel. Und wenn ich die falsche Richtung einschlage, dann kann ich so zügig marschieren wie ich will, ich komme auch nicht an.

Und mit dem Glauben ist es genauso. Ich muß wissen, was ich glaube. Und ich muß meinen Glauben leben. Er muß mein Denken und Handeln bestimmen. Ich kann die Bibel in- und auswendig kennen, dazu die Bekenntnisschriften und die ganze evangelische Dogmatik korrekt rauf und runter aufsagen können – wenn ich meinen Glauben nicht lebe, komme ich nicht ans Ziel. Wir müssen im Glauben in Bewegung kommen, sonst kommen wir nicht ans Ziel: Auf Gottes Wort hören und danach leben. Den Kontakt mit Gott im Gebet suchen. Die Gemeinschaft mit anderen Christen pflegen und zum Abendmahl kommen. Meinen Feinden vergeben. Meinen Mitmenschen tätige Nächstenliebe zuwenden und so weiter. Das ist die Praxis des Glaubens. Der Eifer, wie Paulus hier schreibt. Glauben ohne solchen Eifer führt zu toter Rechtgläubigkeit. Und das ist fatal. Wirklicher Glaube führt zur Aktivität.

Aber ebenso fatal ist es, wenn diese fromme Aktivität da ist, aber in die falsche Richtung geht. Eifer für Gott ohne Einsicht nennt Paulus das. So was endet in Fanatismus und Irrlehre, in Schwärmerei und Lieblosigkeit. Solchen Eifer ohne Einsicht attestiert Paulus hier seinen Zeitgenossen jüdischen Glaubens. Paulus weiß, wovon er redet. Dieser blinde Eifer für Gott hatte ihn einmal selbst zum Christenverfolger werden lassen. Ich bin sicher: uns allen würden Beispiele für solchen falschen Glaubenseifer einfallen. Geschichten von Menschen, die man wegen ihrer Konsequenz bewundern könnte. Aber ihr Glauben geht in die falsche Richtung und bringt deshalb keine guten Früchte. Denken wir an die Zeugin Jehovas, die, weil sie das Alte Testament falsch versteht, eine Bluttransfusion für sich ablehnt und bei einer Operation stirbt. Denken wir an einen überzeugten Islamisten, der meint, er müsse die verletzte Ehre Gottes verteidigen. Er sprengt sich mit einem Flugzeug in die Luft. Der Mann setzt sein Leben für Gott ein – aber wir bewundern ihn dafür nicht. Das sind Extrembeispiele für Eifer ohne Einsicht. Es gibt harmlosere, aber auch die führen nicht zum Ziel. Eine engagierte Religiosität, die sich nicht auf Christus richtet, die an der Schrift vorbei oder über sie hinausgeht und die nicht von der Liebe inspiriert ist, ist falscher Eifer.

Wir sehen beides: Leute mit einer ungeheuren Religiosität, bei denen wir geneigt sind zu sagen: Mann, hat der einen Glauben! Aber leider ist dieser Glaube verkehrt. Und wir sehen auf der anderen Seite Menschen, die wissen, worum es geht. Aber dieser Glaube setzt sie nicht in Bewegung. Zu dieser Fraktion zähle ich mich oft genug selbst. Und denen möchte man was wünschen von dem disziplinierten, regelmäßigen Gebet der Moslems. Von dem Eifer der Zeugen Jehovas, anderen ihren Glauben mitzuteilen. Oder von dem unbeirrbaren Glauben eines langjährigen Lottospielers.

Ich flehe zu Gott für sie, daß sie gerettet werden, schreibt Paulus im Blick auf Israel. Diesem Gebet sollten wir uns anschließen. Wir wollen Gott bitten, daß er die Christen in seiner Wahrheit erhält und immer tiefer hineinführt. Und daß er den Glauben, die Liebe und die Hoffnung in uns wachsen läßt und uns immer mehr nach dem Bild Christi umgestaltet. Und wir wollen bitten, daß er noch viele Menschen aus allen Ländern und Religionen zu Jesus Christus ruft.

Amen.