Inflation der Rechte
Montag 4. Dezember 2017 von Holger Lahayne

Inzwischen gibt es das Recht auf Arbeit und das Recht auf bezahlten Urlaub, das Recht auf Teilzeit und das Recht auf Inklusion, das Recht auf Asyl und das Recht auf Sterbehilfe, das Recht auf Wasser und das Recht auf Nahrung, das Recht auf schnelles Internet und das Recht auf ein pestizidfreies Leben, das Recht auf Nachwuchs und das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Taschengeld und das Recht auf unentgeltliche Bildung. Diese Liste ist natĂŒrlich fortsetzbar. Eine Hauptursache dieser inflationĂ€ren AufblĂ€hung der Rechte liegt in der Erweiterung des Menschenrechtsbegriffs und der Missachtung einer grundlegenden Unterscheidung.
Die Grund- und Menschenrechte wurden in der Neuzeit als bĂŒrgerliche und politische Rechte formuliert. Im Kern waren und sind sie Abwehr- oder Schutzrechte. Damit eng verbunden sind die demokratischen Mitwirkungsrechte. Hierzu gehören Gleichheit vor dem Gesetz, Recht auf FreizĂŒgigkeit, Eigentum und freie MeinungsĂ€uĂerung, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Verfassungen westlicher Staaten wie auch das bundesdeutsche Grundgesetz spiegeln diese liberal-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie wider.
Neben diese âerste Generationâ der Menschenrechte trat im 20. Jahrhundert die âzweite Generationâ. Diese bilden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungsrechte im Sinne von Anspruchs- und Teilhaberechten. Dazu gehören Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit und Nahrung, Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben usw. Der âdritten Generationâ geht es um die kollektiven Rechte der Völker.
Artikel 28 der Allgemeinen ErklĂ€rung der Menschenrechte von 1948: âJeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser ErklĂ€rung verkĂŒndeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.â Laut Wikipedia-Eintrag zu âMenschenrechteâ sind damit u.a. âRecht auf Entwicklung, das Recht auf Frieden, auf eine saubere Umwelt, auf Kommunikation sowie auf einen gerechten Anteil an den SchĂ€tzen von Natur und Kulturâ gemeint.
Die âklassischenâ Menschenrechte finden sich in den ersten 21 Artikeln der Allgemeinen ErklĂ€rung der Menschenrechte; ab Art. 22 folgen die der zweiten und dritten Generation. Diese Erweiterung ist aber nun alles andere als unproblematisch. Thomas Schirrmacher betont: âMenschenrechte sind also Schutzrechte [die der âersten Generationâ], das heiĂt es geht weniger um Dinge, die einem Menschen zustehen, als um BeschrĂ€nkungen des Staates und anderer Institutionen, in das Leben des einzelnen einzugreifen. Deutlich wird dieser Unterschied etwa beim bisweilen als Menschenrecht geforderten âRecht auf Arbeitâ, wenn es hier nicht nur um den Schutz geht, sondern um eine konkrete, materielle Forderung, die keine Gesellschaft erfĂŒllen kann.â (Ethik, III)
Schirrmacher zitiert Robert Spaemann aus Menschenrecht und MenschenwĂŒrde: âGelingt es etwa, sozialen Grundrechten die gleiche Bedeutung zu geben wie den elementaren Garantien der Freiheit und des Rechtsschutzes, so heiĂt das, daĂ auch die elementaren Garantien der Freiheit und des Rechtsschutzes so relativ verstanden werden, wie die sozialen Grundrechte ihrer Natur nach relativ sindâ.
Es besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen Anspruchsrechten und Freiheitsrechten. Anspruchsrechte wie sie sich vor allem aus VertrĂ€gen aller Art ergeben, fĂŒhren zu konkreten und begrenzten Pflichten, die die Vertragspartner â und nur sie â zu erfĂŒllen haben. Jeder Kaufhandlung liegt solch ein Vertrag zugrunde. Nimmt der VerkĂ€ufer mein Geld entgegen, habe ich an ihn einen berechtigten Anspruch â aber nur an ihn. Der VerkĂ€ufer ist keineswegs verpflichtet, allen alles anzubieten.
Freiheitsrechte bringen demgegenĂŒber eine generelle Pflicht mit sich, diese zu achten, d.h. jeder ist immer verpflichtet, dieser Pflicht nachzukommen. Sie werden verletzt durch Eingriffe von auĂen, umgekehrt werden sie durch Nichtstun (Nichteindringen) geachtet. Dies ist offensichtlich bei Rechten wie dem auf körperliche Unversehrtheit. Angriffe auf Leib und Leben sind immer zu vermeiden.
Das Recht auf Leben wird nun gerne erweitert zu einem Recht auf ein gesundes und gutes Leben. Es gibt ein konkretes Anspruchsrecht auf ordentliche medizinische Behandlung, wenn ich z.B. in eine entsprechende Versicherung eingezahlt habe. Aber gibt es auch ein allgemeines Recht auf Gesundheit? Bei welchen Krankheiten und unter genau welchen UmstĂ€nden ist dann einen Menschen verpflichtet dem anderen zu helfen? Traditionell wurde die Hilfe in Not und bei Krankheiten nicht in die Form des (Anspruchs-)Rechts gekleidet, sondern mit anderen Formen der moralischen Verpflichtung gleichsam abgedeckt. Hier ist natĂŒrlich die NĂ€chstenliebe zu nennen, die konkret und vom Einzelnen in bestimmten Situationen gewĂ€hrt wird. Es gibt eben keinen Rechtsanspruch auf NĂ€chstenliebe oder Barmherzigkeit und auch keine rechtliche Verpflichtung zu ihnen. Gerade das macht ja ihre Freiheit aus.
Freiheitsrechte sagen: Du sollst mir nichts antun! Anspruchsrechte sagen: Du sollst etwas fĂŒr mich tun! Freiheitsrechte legen allgemeine negative Pflichten auf, weshalb sie auch ânegative Rechteâ genannt werden. Anspruchsrechte gehen mit positiven Pflichten einher, weshalb sie âpositive Rechteâ sind.
NatĂŒrlich gibt es auch Anspruchsrechte jenseits des Bereichs der VertrĂ€ge, die tatsĂ€chlich grundlegend und gut sind. So haben Kinder einen Anspruch auf elterliche Versorgung â ein Recht, das nicht erst ausgehandelt werden muss. Aber er ist eben gerade in einem recht engen und ĂŒberschaubaren Kontext, in dem diese Rechte ihren Platz haben. Denn ein allgemeiner Anspruch an jemand anderen, formuliert in der Form eines Rechts, legt eine allgemeine Pflicht auf. Dass Eltern ihre Kinder versorgen sollen, grenzt deren Pflicht noch recht klar ein. Aber wie steht es um das Recht auf Nahrung, das Recht auf ein Altern in WĂŒrde und das Recht auf Urlaubsreisen? Wer soll diese AnsprĂŒche erfĂŒllen? Als Antwort bleibt dann meist nur noch der Staat (oder die Allgemeinheit oder die Gesellschaft) ĂŒbrig.
Sehr allgemeine und vage Anspruchsrechte fĂŒhren daher geradezu unausweichlich zur Ausweitung der Staatsmacht. Dies ist in hohem MaĂe widersprĂŒchlich, denn historisch gesehen haben ja die Menschenrechte als Freiheitsrechte dazu gedient, die staatliche Macht und WillkĂŒr in engen Grenzen zu halten.
Das, worum es den Anspruchsrechten geht, gehört in den Bereich der Verhandlungen, der VertrĂ€ge und des Kompromisses. Die StĂ€rke der klassischen Menschenrechte ist es im Kontrast dazu aber gerade, dass sie auĂerhalb dieses AbwĂ€gens stehen. Sie sind von der Idee her keinerlei Verhandlungsmasse. Menschrechte mĂŒssen unbedingt von allen beachtet und gewahrt werden. Anspruchsrechte haben dieses Kennzeichen nicht.
In zwei wichtigen Diskussionen stoĂen diese unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander. Das Asylrecht wird heute â auch von vielen Christen und Ethikern â fast schon wie selbstverstĂ€ndlich als Menschen- und Grundrecht angesehen. Daher sei es nicht verhandelbar. Dem entspricht natĂŒrlich auch die strenge Ablehnung von Obergrenzen.
Nun braucht man aber nicht lange darĂŒber nachdenken und begreift schnell, dass das Erhalten von Asyl kein absolutes Recht sein kann, dass immer und jedem zu gewĂ€hren ist. Das Asylrecht ist eindeutig ein Anspruchsrecht. Denn, banal gesagt, geht es auch hier darum, dass jemand dem Fliehenden eine Leistung erbringen soll. In reichen LĂ€ndern fĂ€llt dies nicht sofort auf, aber das GewĂ€hren von Asyl geschieht immer auch nach Kassenlage â es wird so vielen Asyl Beanspruchenden Schutz gegeben, wie der Staat meint sich leisten zu können. Gewiss stehen Menschenrechte nicht unter Finanzierungsvorbehalt, aber Anspruchsrechte tun dies natĂŒrlich. Denn irgendwann können AnsprĂŒche eben nicht mehr bezahlt werden.
Auch in der Abtreibungsfrage stoĂen diese beiden Rechtsarten aufeinander. Das Lebensrecht des Kindes ist natĂŒrlich ein klassisches Schutz- und Freiheitsrecht. Es ist eigentlich unter so gut wie allen UmstĂ€nden zu wahren â von allen. Anders als das Asylrecht ist das Recht auf Leben und damit der Schutz vor Mord das klassische Menschenrecht schlechthin.
Auf dem Höhepunkt der ersten Abtreibungsdebatte in der Bundesrepublik schrieb Robert Spaemann 1974: âWenn es ĂŒberhaupt Menschenrechte gibt, dann bedeutet dies, daĂ das Recht des einen Menschen nicht abhĂ€ngig gemacht werden darf vom Gewissen irgendeines anderen Menschen.â Aber gerade auf die Gewissensentscheidung der werdenden Mutter wird ja oft hingewiesen, um eine Abtreibung zu rechtfertigen: Auch der Gesetzgeber dĂŒrfe der Frau diese Entscheidung nicht abnehmen, d.h. Abtreibung in (so gut wie) jedem Fall verbieten. Damit ist dann aber auch schon das Urteil ĂŒber den Status des Schutzes des ungeborenen Lebens getroffen: eben kein Menschenrecht. Ein AbwĂ€gungsrecht, das sich arrangieren muss mit den âPersönlichkeitsrechtenâ der Mutter.
Der Schwangerschaftskonflikt wird dann gerne so dargestellt, als ob das Freiheitsrecht des Kindes auf das der Mutter stieĂe. Hier gĂ€lte es abzuwĂ€gen. NatĂŒrlich stöĂt meine FreiheitsausĂŒbung unter UmstĂ€nden an die Grenzen der FreiheitsausĂŒbung meiner Mitmenschen. SchlieĂlich ist menschliche Freiheit immer begrenzte Freiheit. Aber dieser Konflikt wird ja nun nicht dadurch aufgelöst, dass der eine Freiheitsinhaber beseitigt wird. Im Fall einer Abtreibung geschieht aber genau das.
Der Bezug auf das AbwĂ€gen zeigt nur zu deutlich, dass es auf Seiten der werdenden Mutter um den Anspruch auf LebensqualitĂ€t geht, um âselbstbestimmtesâ Leben (bei GefĂ€hrdung ihres Lebens ist die Abtreibung natĂŒrlich gerechtfertigt). Die âKostenâ dafĂŒr werden auf das werdende Kind abgewĂ€lzt. Hier ist also mit am deutlichsten zu sehen, wie allgemeine Anspruchsrechte die Menschenrechte untergraben.
Beide Themen zeigen, dass vor einer sinnvollen Diskussion die Art der Rechte zu klĂ€ren ist, um ĂŒberhaupt voran zu kommen. Absurderweise wird beim Asylrecht aus einem Anspruchsrecht ein Menschenrecht, was eine rationale Debatte (wieviele wollen wir aufnehmen?) nur behindert. Bei der Abtreibung sollte sich eigentlich jede Debatte erĂŒbrigen, geht es doch um elementaren Lebensschutz. Aber hier wird gerne diskutiert, auf welche Weise sich Abtreibungen reduzieren lassen.
Das Ende vom Lied ist der Staat ĂŒber dem Recht, der sich darin gefĂ€llt, immer neue Rechte zu schaffen und sie dann auch durchzusetzen; dafĂŒr braucht er Finanzmittel, die er sich nur zu gerne bei den BĂŒrgern holt, was wiederum die Staatsmacht stĂ€rkt und die natĂŒrlichen Rechte des Menschen wie das auf Eigentum unterhöhlt. Dabei war das christlich geprĂ€gte Ideal des Westens einst ein anderes: Zuerst kommen Rechte, Menschenrechte, Naturrechte, erst dann kommt der Staat, um diese Freiheitsrechte zu schĂŒtzen.
Holger Lahayne, 1.12.2017 (www.lahayne.lt)
Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 4. Dezember 2017 um 14:41 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.











