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Heiliger Dienst an Kranken- und Sterbebetten

Brief an die Pfarrer seiner Prälatur (1949)

Sie wissen, dass mein Leben in der Woche, in der Michaelis liegt, tagelang auf der Waage lag und dass nur das Wunder der heilenden Hände des Herrn mich gerettet, dem Leben und dem Dienst der Kirche zurückgegeben hat. Ich schreibe Ihnen darum aus der Dankbarkeit eines Menschen, der weiss, dass Gott ihm noch einmal eine Zeit zugelegt hat, der darum weiss, dass er völlig und täglich aus der Gnade Gottes lebt, weil sein Leben bedroht bleibt, und der weiss, dass dieses Leben nun ohne jeden Vorbehalt und noch viel treuer im Dienste Jesu und seiner Gemeinde gelebt sein will. — Nun möchte ich wagen, einiges zum Ausdruck zu bringen, was ich als Leidender, Sterbender und wieder ins Leben Zurückgeführter erlebt habe. Ich möchte es Ihnen so sagen, dass Ihnen daraus für Ihre seelsorgerliche Arbeit an Krankenbetten vielleicht eine gewisse Hilfe zuteil wird. Ich bitte Sie herzlich, die folgenden Zeilen so und nicht anders zu lesen.

„Jede Krankheit ist eine persönliche Angelegenheit zwischen Gott und dem einzelnen.“ Dieses tiefe Wort des Paracelsus gilt für jeden Leidenden. Das Leiden ist tief hineingeordnet in unseren gesamten Lebensweg, in unser ganzes Lebensschicksal. Seine Zeit, seine Tiefen und seine Gnaden sind ein Teil und vielleicht der wichtigste Teil der geheimen Geschichte, die Gott mit jedem einzelnen hat. Jede lebensgefährliche Krankheit enthält ein hohes Mass von göttlichem Gericht. Es wird in den Stunden der völligen Ohnmacht, wo man in jedem Augenblick damit rechnen muss, die Augen endgültig zu schliessen, das ganze Leben, das eigene und das mit den anderen zusammen gelebte, unerbittlich erleuchtet und durchrichtet. Wenn dazu Schmerzensqualen kommen, die man schwer aussprechen kann, und alle ärztlichen Mittel versagen, so ist beides zusammen, Gewissensgericht und leibliches Leiden eine erdrückende Last. Bedenken Sie aber, dass Sie an Ihren Krankenbetten immer mit Menschen zu tun haben, denen Gott die grosse Gnade schenkt, schon auf Erden von ihm gerichtet und darum auch gereinigt und zubereitet zu werden. Offenbar ist das Leiden auf dieser Welt eine Vorwegnahme jenes Purgatoriums (= Läuterung), das uns allen bevorsteht und von dem uns nichts geschenkt wird. Helfen Sie darum Ihren Leidenden und Sterbenden zur Beichte und scheuen Sie sich nicht, im Angesicht des Gottes, dem wir alle begegnen werden, Hilfe zu geben, dass Lasten schon hier abgelegt, Sünden hier gebeichtet und vergeben werden.

Ein besonderes Erlebnis dessen, der, gewisse Minuten schwerer Ohnmacht abgerechnet, den Weg zum Tode bei völlig wachem und hellem Bewusstsein geführt wird, ist dasjenige, das Paulus 2. Kor. 5 mit Ausgezogenwerden, mit Nacktsein bezeichnet. Diese Worte treffen den Tatbestand mit unnachahmlicher Klarheit. Das Sterben ist wirklich ein Ausgezogenwerden. Und das Gefühl des leiblich-seelischen Nacktseins ist furchtbar. Darum steht in 2. Kor. 5, 1—10 auch der einzige Trost, den wir Menschen in diesem Augenblick zu geben schuldig sind, das Zeugnis von dem Haus, das nicht mit Händen gemacht ist, das unser im Himmel wartet.

Aber das grössere und tiefere Erlebnis ist dies, dass in diesen Stunden des schwersten Gewissensgerichtes und der schwersten körperlichen Leiden Christus die Seele eines Menschen mit der Seligkeit und Süssigkeit seiner vergebenden Gnade in einem Masse zu erfüllen vermag, dass man vor Freuden darüber buchstäblich zu „vergehen“ droht. Es ist dies eine Einheit von Gericht und Gnade, die in solchen Stunden zum tatsächlichen Erlebnis wird, trotzdem das unbegreiflich ist. Weisen Sie darum Ihre Sterbenden mit Macht auf das Kreuz und Blut Jesu Christ, auf die Kraft seiner Auferstehung, auf die Gewissheit seiner Gegenwart und auf die Realität seines Wortes hin als dem einzigen Trost in solcher Stunde. Sagen Sie den Kranken, dass sie nichts zu fürchten haben, dass Jesus Christus alle unsere Sünde weggetragen, ja buchstäblich verschlungen hat, und dass man unter dem Zittern des Gerichtes und mit den furchtbarsten Schmerzen Leibes und der Seele fröhlich hinüberziehen kann „wie man nach der Heimat reist.“ Dieses Wort von Albert Knapp bezeichnet die Lage richtig.

So ist es. Und ich kann Sie versichern, dass es eine Freude gibt, die einem noch mehr Tränen auszupressen vermag als das schwerste körperliche Leiden, eine Freude, die ganz unirdisch ist und die in jedem Augenblick denen, die in Jesus Christus sterben, von ihm tropfenweise aus dem Meer des Lebens und der Freude der Ewigkeit eingegeben wird, die kostbarste Arznei der kommenden Welt.

Eine ganz grosse geistliche Hilfe für die durchwachten Nächte, für die sich endlos dehnenden Schmerzenstunden ist das Gebet. Machen Sie den Kranken Mut, viel und lange zu beten. Wir haben in dem grässlichen Tempo des Lebens ja auch als Christen kaum mehr Zeit, eine Viertelstunde am Tag zu beten, geschweige denn stundenlang. Und dazu gibt ja die Krankheit wunderbare und nie wiederkehrende Gelegenheit. Natürlich will dieses Beten gelernt sein. Und doch glaube ich, kann man die Kranken darin auch unterweisen, wie man das ganze Leben durchgehen kann, das eigene, das Leben der Nächsten, der uns anvertrauten Menschen, das Leben des Amtes und Dienstes, das Leben der Gemeinde und der Kirche, das Leben der Mission und der Ökumene. So kann es sein, dass man auf kleinstem Punkt gefangen, die grössten Räume durchwandern kann, Zwiesprache haltend und Fürbitte einlegend. Ich darf Ihnen sagen, dass ich für einen jeden von Ihnen persönlich, für Ihre Häuser und Familien, für Ihre Gemeinden und Ihr Amt so gebetet habe. Ich bin buchstäblich von Dorf zu Dorf, von Gemeinde zu Gemeinde gewandert und habe Sie alle gegrüsst und bin in einer Weise auch mit Ihnen allen verbunden worden wie nie zuvor. Das kann ja auch an jedem Sterbelager geübt werden. Dazu sind die Psalmen, die ich vom ersten bis zum letzten Wort durchgelesen und durchgebetet habe, ebenso wie eine Fülle von Gesangbuchliedern eine grosse Hilfe.

Verachten Sie aber auch äussere Hilfen nicht wie z. B. das Aufhängen eines Kruzifixus dem Bette gegenüber. Es ist nicht unwichtig, worauf das Auge eines Sterbenden zuletzt ruht. Und das Bild des Gekreuzigten ist so transparent, ist so wenig eine Verletzung des Bilderverbotes der Heiligen Schrift, führt so unmittelbar in die persönliche Gemeinschaft mit dem Herrn, dass man es als eine ganz besondere und grosse Sterbenshilfe verstehen muss. Es wächst dann langsam das Kreuz im eigenen Herzen, und damit ist der Anschluss an eine Kraft gewonnen, die einen unüberwindlich macht, eine wahrhaftige Brücke zu jenem Ort, von dem es heisst: „Suchet, was droben ist, da Christus ist, sitzend zu der Rechten Gottes.“

Es wird ja im allgemeinen von unseren Christenleuten als die „letzte Ölung“ verstanden und man verschiebt es gerne auf die letzten Stunden. Bei allen, die bewusste Christen sind, bitte ich Sie doch sehr, mit dem Angebot des Abendmahles nicht zu lange zu warten. Diese Speise und dieser Trank zum ewigen Leben sind eine Hilfe ohnegleichen auf dem Leidenswege, die Speise, in deren Kraft man wie Elia den Weg zu den Bergen, von denen uns Hilfe kommt, finden kann.

Ich werde es dem Amtsbruder und Freund nie vergessen, der mir in regelmässigen Abständen alle paar Tage das Heilige Mahl gereicht hat. Da versteht man, dass es nicht nur das Mahl der Vergebung ist, sondern das eschatologische Mahl. Es wird jedesmal zur Vorwegnahme der grossen Feier in dem Reich, dem man entgegengeht. Ich glaube, wir sollten wirklich den Stärkungs-, Freuden- und Hoffnungscharakter dieses Mahles noch ganz anders in Verkündigung und Seelsorge üben und das Mahl oft anbieten. Eine besondere Bedeutung gewinnt es, wenn die Kinder und die Nächsten dabei sein können und wenn in solcher Gemeinschaft dem Sterbenden die Gewissheit, dass zwischen den Menschen alles in Ordnung gebracht ist, sichtbar und deutlich wird.

Und noch etwas zu den Liedern des Gesangbuches. Davon haben wir eine Fülle, die wir selten singen in den Gemeinden, die aber von einer Kraft des Trostes und von einer Realität der Nähe Christi Zeugnis ablegen, wie das anderen Liedern nicht im selben Masse gegeben ist. Ich möchte Sie in erster Linie auf die Lieder Christian Friedrich Richters, Gottfried Arnolds, auf die beiden Bengellieder, auf die 16 Lieder von Tersteegen, auf die beiden Lieder der Mosers und natürlich auf Hiller hingewiesen haben. Auch entdeckte ich neu die Lieder von Kongehl und von Nerreter. Ferner alle Paul-Gerhardt-Lieder, die unter dem Abschnitt „Trost“ vermerkt sind.

Damit sei es genug. Vielleicht habe ich schon zuviel gesagt. Aber ich wagte doch in der tiefen Dankbarkeit der Erfahrungen einer solchen Leidenszeit, auch Ihnen, die Sie so viel mit Leidenden und Sterbenden zusammen sind, etwas geistliche Gabe mitzuteilen aus meinem Getröstetsein für Ihr Tröstenmüssen.

 Prälat Dr. Karl Hartenstein, Brief an die Pfarrer seiner Prälatur

*) Zu diesem Beitrag aus der Feder des bekannten württembergischen Prälaten D. Dr. Hartenstein schreibt das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg vom 12.10.1952: Der Heimgegangene hat dieses Vermächtnis an die Gemeinde vor nicht ganz 3 Jahren, da er von einem schweren Krankenlager wieder genesen war, geschrieben. Es war damals in einem grösseren Zusammenhang als seelsorgerliches Wort an die Pfarrer seines Sprengels gerichtet. Es zeugt von den starken und stillen Kräften, aus denen er seinen Dienst als Seelsorger an Seelsorgern und damit an der Gemeinde getan hat. Wir danken es Gott, dass er uns diesen geisterfüllten Zeugen gab.