Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Der Weg in und durch die Postmoderne – und die Antwort der christlichen Verkündigung

Montag 27. November 2017 von Pastor Dr. Stefan Felber


Pastor Dr. Stefan Felber

1. Geistliche Vorbesinnung aus 1. Joh 5,4 und Offb 12,11

„Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“  (1. Joh 5,4)

Glaube kann nicht von der Welt sein, sonst kann er die Welt nicht überwinden (ähnlich 2,17!). Glaube darf auch nicht menschlicher Natur sein, sonst hätte er nicht die Macht über den Teufel. Glaube muß göttlich („von Gott geboren“) sein oder er ist so vergänglich und sündig wie die Welt selbst.

Welt: Welche eigentlich? Jede beliebige? Jede Epoche? Ja, jede. Johannes spricht allgemein von der Welt, die dem Glauben entgegensteht. Keine spezielle Welt, sondern jede Welt, jedes Zeitalter, egal wie aufgeklärt, egal wie emanzipiert, ob vormodern, modern oder postmodern.

Sieg: Es ist sehr anspruchsvoll und wahrheitsgewiß, vom Sieg zu reden. In unserer Zeit klingt es anmaßend, ja verhaßt. Gottes Wahrheit in dem einen Gesetz und dem einen Evangelium ist für jede Epoche ein und dieselbe (Eph 4), denn es gibt nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen (1. Tim 2). Die eine Wahrheit wird allerdings von den sündigen Menschen je nach Epoche in verschiedener Weise angegriffen, sei es durch Gesetzlosigkeit oder gesetzliche Werkgerechtigkeit, Libertinismus oder Pharisäismus, Autonomie oder Unterwürfigkeit usw. Über all diese Dinge wird im Wort Gottes der Sieg ausgerufen! Nur durch den Sieger selbst können wir am Sieg Anteil haben.

Wie geschieht der Sieg? Offb 12,11: „Sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht geliebt bis hin zum Tod.“ Also: Durch das Blut des Lammes, das Wort des Zeugnisses, und durch die Liebe zu Gott, die größer ist als die Liebe zum irdischen Leben.

2. Was ist Wahrheit, und wer bestimmt sie? Eine knappe geistesgeschichtliche Orientierung

2.1      Der Weg bis ins 20. Jahrhundert

Lassen Sie mich in ein paar groben Strichen Revue passieren, welchen Weg das menschliche Denken seit der Antike genommen hat, damit wir verstehen, wo wir heute angekommen sind! Haben Sie bitte Verständnis, daß dabei viele Aspekte nur genannt werden, ohne sie hinreichend zu differenzieren oder zu entfalten. Doch nur so kann in einem kurzen Zeitraum so etwas wie ein Gesamtbild unserer Herkunft und unserer heutigen Lage entstehen. Als wesentliche Kriterien, die Epochen voneinander abzugrenzen, verwende ich den Wahrheitsbegriff und die für die Wahrheit bestimmende Instanz.[1]

Wenn wir wissen wollen, wovon unsere Zeit im innersten geprägt ist, wenn wir ahnen wollen, was Zeitgenossen empfinden, die täglich vier Stunden Medien konsumieren, sollten wir untersuchen, was die vorherrschenden Strömungen sind. Auch Paulus hat sich auf dem religiös-philosophischen „Markt“ umgesehen, bevor er den Athenern predigte. Beim Herumgehen fand er eine bunte religiöse Vielfalt vor. Er stellte fest, daß er als Anknüpfungspunkt für die biblische Offenbarung allenfalls den unbekannten Gott benennen kann. Keinesfalls aber gibt er einen der namentlich oder bildlich bekannten Götter für den biblischen Gott aus (Apg 17).

Die Vielfalt der Kulte, sicher die religiöse Intensität der einen neben der Gleichgültigkeit der anderen Menschen im alten Athen erinnert ja in mancher Hinsicht wieder der heutigen Vielfalt. Dennoch dachte der antike Mensch kaum je (von Skeptikern und Sophisten abgesehen), jeder habe seine eigene Wahrheit. Die maßgebenden Philosophen und v.a. Staatsmänner hielten daran fest, daß es objektive Wahrheit gibt. Natürlich ist, so dachten sie, unsere Erkenntnis begrenzt, und wir müssen oft um die rechte Erkenntnis streiten, aber daß es sie gibt, und daß sie sagbar ist, blieb im wesentlichen unbestritten. Nach Aristoteles ist Philosophie die Theorie bzw. Wissenschaft der Wahrheit; nach ihm verhält „sich jedes Seiende so zur Wahrheit, wie es sich zum Sein verhält“.[2]

In den ersten Jahrhunderten nach Christus trat das Evangelium seinen Siegeszug durch die hellenisierte, griechisch und lateinisch sprechende römische Welt an. Stück für Stück geriet das, was als wahr galt, unter die Herrschaft der christlichen Kirche. Kontinuität und Diskontinuität: Die Wahrheit war und blieb eine, und was wahr ist, bestimmten bald nicht mehr die Philosophen(schulen), sondern kirchliche Synoden und Päpste. Für den christlichen Glauben liegen Einheit und Ursprung der Wahrheit in dem einen Gott, der alles geschaffen hat. Gott ist nur einer, er ist und er hat die Wahrheit – und darum kann (logischerweise) die Wahrheit nur eine, das Gebäude der Wahrheit auch nur eines sein. Das blieb der beherrschende Zug für viele Jahrhunderte, von der Spätantike über das Mittelalter bis zur frühen Neuzeit, sagen wir grob von 400 bis 1700, mit vielen Schattierungen und Übergängen, z.B. in René Descartes im 17. Jahrhundert. Descartes deklariert in seiner Abhandlung über die Methoden des Denkens (1637) den Zweifel an allem, nur nicht am Zweifeln selbst als den einzig sicheren Ausgangspunkt des Denkens: Ich zweifle, also weiß ich: ich denke, also weiß ich: Ich existiere, kurz: ich denke, also bin ich, cogito ergo sum.[3]

In der sog. Aufklärung und in der Epoche der Moderne hielt die Öffentlichkeit grundsätzlich daran fest, daß die Wahrheit nur eine ist.[4] Allerdings wurde jetzt das, was als Wahrheit zu gelten hat, aus der Vorherrschaft der Kirche herausgelöst und unter die Herrschaft einer autonomen, sich selbst genügenden, sich selbst Gesetze des Denkens gebenden Vernunft gestellt. Das war der beherrschende Zug der Neuzeit, etwa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Klassisch formuliert Kant sein „Sapere aude …“ – „Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Jetzt übernahm im Prinzip die Philosophie wieder die Macht zurück, mit ihr die Naturwissenschaften, neu etablierten oder verselbständigten sich, unabhängig von Theologie und Kirche, Sozialwissenschaften: Geschichte, Soziologie, Psychologie etc. Was es um den Menschen war und ist, wird nun immer mehr losgelöst von der Heiligen Schrift und immer mehr im Gegensatz zu ihr dargestellt und studiert. Was der Mensch ist, definiert der Mensch selbst[5], der nicht mehr Gott, sondern sich selbst zum Gegenstand macht: „The proper study of mankind is man“ (Pope).

Die Folgen, die uns bis heute (in verschiedenem Ausmaß) begleiten, sind offensichtlich und vielfach (jedoch nicht immer) aus christlicher Sicht negativ: Säkularisierung[6] bzw. Entkirchlichung (Kommunistisches Manifest: „Alles Heilige wird entweiht“), zunehmende Höherwertung des Neuen gegenüber dem Alten (daher „Neuzeit“ als passender Epochenbegriff), Traditionsabbruch, Rationalisierung, Differenzierung und Individualisierung[7], Demokratisierung (und damit periodischer Austausch von Regierungen) und Erwachen der Nationalsprachen und -staaten, zunehmende Höherwertung der Natur- über die Geisteswissenschaften (die Naturwissenschaften vermögen Wissen neu zu schaffen, in den Geisteswissenschaften ist dies kaum möglich[8]); Ökonomisierung bzw. Ausrichtung auf Innovationen für materielles Wachstum (z.B. Automatisierung), ja strukturell verfestigter Zwang zu Wachstum und Beschleunigung. Die Pole Kapitalismus vs. Marxismus werden zur herrschenden ideologisch-ökonomischen Matrix.

2.2      Das 20. Jahrhundert und die Postmoderne

Nun aber, im 20. Jahrhundert, bzw. vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die großen Ideologien der Neuzeit ihren Glanz verloren hatten, tritt etwas Neues auf den Plan.[9] Die Vorstellung, daß es nur eine Wahrheit geben könne, löst sich auf hinter der Vielfalt an Meinungen, Wissenschaften, und der Erinnerung an die Konfessionskriege. Die Vorstellung von der Einheit der Wahrheit (oder die Hoffnung auf eine solche Einheit) verschwindet, ja wird bekämpft als autoritär, patriarchalisch, freiheits-, friedens-, frauen- und/oder klassenfeindlich. Religionsausübung bzw. Frömmigkeit zieht sich immer weiter ins Private, ja Unsagbare zurück (Wittgenstein), der Traditionsabbruch verschärft sich. Was Wahrheit ist, wird nun weder von der Kirche definiert noch von der Vernunft (bzw. den jeweils klügsten einer Zeit), sondern von jedem einzelnen selbst. (Man gibt auch die Vorstellung auf, Europa könnte dem Rest der Welt ethische oder religiöse Maßstäbe geben; man will nur noch Technologieführer bleiben – materialistisch!)

Kontinuität und Diskontinuität: Die Moderne hat den Glauben an das Vorgegebensein von Wahrheit diskreditiert; sie hat postuliert, die Vernunft könne sie von sich aus finden. In der Postmoderne nun wird die Vorstellung der einen Wahrheit selbst eliminiert. Jetzt leidet man nicht mehr daran, daß man sich nicht mehr auf eine gemeinsame Vorstellung von Wahrheit einigen kann, sondern man erhebt es zur Tugend. Zum ersten Mal in der Geschichte wird dieser Freiheitsgewinn für jeden Einzelnen ausdrücklich begrüßt. Vorher wurde noch oft die Uneinigkeit der Meinungen und Wissenschaften und der gesellschaftlichen Gruppen beklagt. Jetzt wird die Pluralität begrüßt und damit zum Prinzip, zum Pluralismus erhoben. Zugleich wird das Fortschrittsdenken der Neuzeit mit seiner ständigen Beschleunigung immer mehr als Wettbewerb erlebt, der die ökologischen und anthropologischen Ressourcen zerstört (Umweltproblematik, Burnout der Workaholics); Knappheiten werden nicht mehr überwunden, sondern erst erzeugt[10]; der Sozialstaat ufert aus und wird zum paternalistischen Krebsgeschwür u.a.

Lassen Sich mich kurz ein paar Namen und konkrete Stufen benennen, die für diesen Weg in die Postmoderne stehen, bevor ich dann die aus meiner Sicht neueste Entwicklung in den Blick nehme.

Der Begriff Postmoderne (obwohl zuerst schon 1917 verwendet, aber wieder vergessen) tauchte zunächst in einer Diskussion um neuere amerikanische Literatur in den 1950er Jahren auf. Einige Literaturkritiker empfanden die Literatur ihrer Gegenwart als Erschlaffung, als Abfall von der Höhe der „modernen“ Literatur. Der ursprünglich als Schimpfwort verwendete Begriff wurde im Verlauf der Diskussion aufgenommen und mit positiver Erfüllung verwandt. Leslie Fiedler (1917–2003) machte den Begriff zum Schlagwort eines neuen Kunstverständnisses. Das Besondere der neueren Kunst bestand für ihn in der prinzipiellen Mehrdimensionalität eines Kunstwerks, in der Überwindung alter Unterscheidungen wie Elite und Massenkultur, Realismus und Phantastik u.a. Damit war zum ersten Mal ein fester Begriff von „Post-Moderne“ gewonnen, der sich grundsätzlich bis heute durch gehalten hat. Von dort aus hat der Begriff auf die Diskussion über die moderne Architektur übergegriffen. An dem Ideal der modernen Architektur, der Einheit von Form und Funktion, wurde schon länger Kritik geübt. Postmoderne Architektur bedeutet demgegenüber eine neue Lust am Verschnörkelten und Verzierten, betont nicht Funktionalen, im Verzicht auf Einheit und Uniformierung des Baustils. Dies bedeutet stilistisch das Programm eines radikalen Eklektizismus, d.h. eines vom jeweiligen Verantwortlichen rein gegenüber sich selbst verantworteten Auswählens.

Aus diesen Dingen erwuchs eine Diskussion über den Standort von Gesellschaft und Kultur überhaupt; es erwuchs die Frage, ob in der Gegenwart nicht ein tiefgreifender Paradigmenwechsel stattfindet. Diese Diskussion fand und findet auf den verschiedensten Ebenen statt, und man könnte bereits ihre Unübersichtlichkeit als Indiz einer real existierenden Postmoderne werten.

Soweit das Grundsätzliche. Diese Beschreibung des geistesgeschichtlichen Vorgangs, die wir jetzt gehört haben, wird in der Regel[11] auch von Nichtchristen, Philosophen und Soziologen geteilt. Jean-Francois Lyotard (1924–1998) etwa diagnostiziert den Wandel in unserer Kultur sehr ähnlich so: Das bisherige Wissen, so Lyotard, habe die Form der Einheit gehabt. Lyotard sagt für Einheitsdenken auch „Rahmenerzählung“ (grand récit; der Marburger Philosoph Odo Marquard [1928–2015], dem alles Prinzipielle verdächtig war, sprach von der „großen Erzählung“[12]). Die Bibel bietet so eine Rahmenerzählung, weil sie dem Menschen die übergeordneten Gesichtspunkte gibt, unter denen der Mensch sich selber begreift, die übergeordneten Gesichtspunkte, von denen her er sein Handeln legitimiert, wodurch das Leben (persönlich und einer ganzen Epoche) überhaupt erst als Ganzes erfahren wird. Ohne so eine „Rahmenerzählung“ könnten wir unser Leben nirgendwo einordnen, würden wir unser Leben nicht als einheitlich erfahren können. Eine Rahmenerzählung hat sinnstiftende Funktion. Aus ihnen speist sich das Ethos einer Gemeinschaft. Lyotard nennt mehrere solcher Rahmenerzählungen. Die Rahmenerzählung der Aufklärung sieht er im Gedanken der „Emanzipation der Menschheit“. D.h. der Emanzipationsgedanke ist für den Menschen im Zeichen der Aufklärung die höchste Norm. Man könnte sagen, von diesem Gedanken wird dann der Unterschied zwischen Gut und Böse bestimmt: gut ist, was der Emanzipation dient; böse ist, was ihr entgegensteht.

Rahmenerzählungen, so Lyotard, waren bis vor kurzem das Einheitshand, welches das Zusammenleben der Menschen bestimmte. Das Neue ist nun, dass dieses Einheitsband nicht mehr besteht. Rahmenerzählungen seien hinfällig geworden. Nicht etwa in dem Sinne, das jetzt neue Rahmenerzählungen aufkämen, sondern in dem Sinne, dass Rahmenerzählungen überhaupt nicht mehr möglich seien. Wir seien in eine grundsätzlich neue Zeit eingetreten. Weder die Vorherrschaft von Kirche und göttlicher Offenbarung noch die Vorherrschaft der Vernunft könne mehr die verbindende Rahmenerzählung stiften. Postmoderne beginnt also, wo die Einheit sich auflöst und diese Auflösung zugleich begrüßt wird, weil wir in eine Zeit des freien Experimentierens eintreten. Ein gigantisches Experiment, das die ganze westliche Welt durchläuft und beinahe die weltweite Bildungslandschaft mit sich reißt, wo immer sie von den westlich-emanzipatorischen Eliten bestimmt ist.

Lyotard starb 1998. Liefen die letzten 20 Jahre seither ebenso ab? Ist die Postmoderne vorbei? Ist die Moderne vorbei? Unser zeitlicher Abstand ist noch zu klein, um bereits klar die Umrisse einer Post-Postmoderne aufzuzeigen – wo wir ja noch nicht einmal für die Postmoderne einen passenden Eigennamen gefunden haben. Meine folgenden Überlegungen sind also recht vorläufig und möglicherweise bald wieder angreifbar.

2.3      Was kommt nach der Postmoderne? Das 21. Jahrhundert und der Weg des Westens in neue, willkürliche Absolutsetzungen[13]

2.3.1     Allgemeines

Heute tritt, wie ich vermute, wiederum etwas neues auf den Schauplatz (zumindest der europäischen Geschichte), und zwar der Umschlag von der Beliebigkeit hin zu einer neuen Uniformität (von Lyotard schon für die Moderne befürchtet), zumindest hin zur Wiederkehr des kulturell wie militärisch starken Staates.[14] In langfristiger Perspektive führt das Erschlaffen der Kirchen (s.u.) automatisch zum Erstarken des Staates. Es erscheint zwar paradox, aber die häufigen Konflikte mit säkularen Herrschern über die Grenzen zwischen Kirche und Staat bis zum Mittelalter förderten die Entwicklung einer Tradition von politischer Theorie, die das Prinzip der Begrenzung von Macht und Verantwortung der Regierung betonte. Mit der Kirche war der Macht des Staates eine Grenze gesetzt. Diese Grenze aber schwindet, und ein Gegenüber zum Staat, das eine eigene, gottgegebene Autorität hätte, fehlt.[15]

„Wir sollten uns beeilen zu sagen, daß die Freiheit des Einzelnen auch in den Ländern mit reformatorischem Hintergrund nicht wie durch Magie bestehen bleibt. Wie die Erinnerung an die christliche Grundlage immer schwächer wird, so wird die Freiheit sich auch in diesen Ländern auflösen. Eine Kultur wird nicht fortbestehen, wenn sie von ihren Wurzeln abgeschnitten ist. Die Tendenz ist einheitlich – ohne Rücksicht auf die regierende politische Partei. Wenn die Grundsätze verschwunden sind, bleibt nur noch die Zweckdienlichkeit um jeden Preis.“

Im folgenden möchte ich ein paar Phänomene anführen, die ich als Anzeichen für das Erstarken des Staates deute.

Viele von uns dürften schon erlebt haben: Der prinzipielle Pluralismus kann sehr hart werden, wenn jemand ihn in Frage stellt. Wenn jemand die Autorität des einzelnen oder einer Gruppe unter eine noch höhere oder gar göttliche Autorität stellen will, wer also das Prinzip der Prinzipienlosigkeit in Frage stellt, lief schon bisher Gefahr, in einem shit storm unterzugehen, in einer Flut von Haßpostings/-mails und dem Ausschluß aus dem erlaubten Meinungsspektrum. Hierbei wurden in der Regel einzelne Privatleute aktiv, manchmal sehr viele einzelne oder Gruppen, die bewußt Stimmungen für oder gegen etwas erzeugen (z.T. höchst finanzstark wie die politische Arbeit von George Soros gegen Trump).

Mit den Antidiskriminierungsgesetzen, mit dem von oben nach unten durchgesetzten Gender mainstreaming, mit Maßnahmen zur Kontrolle des Internets („Netzwerkdurchsetzungsgesetz“) und unserer Privatsphäre, mit der Beschneidung des privaten Bildungssektors[16], mit dem Entzug von Beihilfen oder steuerlichen Begünstigungen für christliche Freiwilligen- oder Sportarbeit beginnt der Staat, die Zügel enger anzuziehen. Da der Gesellschaft im Pluralismus eine einigende, zur Mitte ziehende Kraft fehlt, bleibt als letztes Mittel, den gesellschaftlichen Frieden äußerlich aufrechtzuerhalten, nur noch der staatliche Zwang.[17] Lassen Sie mich das an drei Bereichen (Gesellschaft, Politik, Kirche) illustrieren.

2.3.2     Gesellschaft: Familie, Sexualität, Abtreibung, Sprache

Was Gender mainstreaming angeht, so hörten wir eine Zeitlang, die Menschen sollten sich frei entscheiden können, wie sie leben wollten, mit und ohne Kinder, mit wie vielen und mit welchen Partnern, mit welchem Geschlecht und welcher sexueller Orientierung usw. Um diese Freiheit ist es allerdings schlecht bestellt:

  1. Heterosexuelle erfahren durch Medien bereitwillig Hilfe für ihr „Coming out“, ja werden am anderen Ufer begrüßt. Doch wer Homosexuellen, die sich unwohl fühlen und sich verändern wollen, in ein schöpfungsgemäßes Leben hineinhelfen will, muß mit harten Maßnahmen und Rufschädigung als fundamentalistischer Spinner rechnen (Volker Beck/DIE GRÜNEN). Die Wahlfreiheit ist offenbar nicht gegeben.
  2. Mit horrenden Steuermitteln werden Kindertagesstätten nach sozialistischem Muster hochgezogen. Die Steuern dafür werden von allen gleichmäßig bezahlt, auch denen, die ihre Kinder selbst erziehen wollen. Die Wahlfreiheit besteht faktisch nicht, und das ist auch kein Zufall. Denn wir hören von den Vertretern des Genderismus immer öfter und unverhohlener, daß man den Frauen besser keine Wahlfreiheit lassen soll.[18] Denn hätten sie diese Freiheit, würden sie sich zu oft gegen Erwerbsarbeit und Karriere entscheiden und damit das Feld von Wirtschaft und Politik den Männern überlassen.Überhaupt sollen die traditionellen Familienstrukturen immer weiter aufgelöst werden, denn stabile Familien bringen selbstbewußte Menschen hervor – und das ist genau das, was die Uniformität, vielleicht die Diktatur, auf die wir womöglich zugehen, nicht brauchen kann.Neben der finanziellen Schwächung der Familien (auch im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise) werden weitere Mittel eingesetzt:
  3. Auflösung des Familienbegriffs aus Vater, Mutter, Kindern hin zu einem diffusen Begriff von „Familie ist da, wo Kinder leben“. Die Gesellschaft wird zur neuen Familie, der Staat zum neuen Vater (Paternalismus, „Nudging“, d.h. Anstupsen, das Zurvernunftbringen durch den Staat).
  4. Auflösung des Ehebegriffs des Grundgesetzes, bei dessen Abfassung homosexuelle Beziehungen noch verboten waren, das also eindeutig von einem Mann und einer Frau sprach, jetzt neudefiniert als „Ehe für alle“, gerade gültig seit 1.10.2017, gleichgeschlechtlichen Ehen. Auch die ersten Adoptionen in solche Beziehungen hinein wurden in den letzten Tagen bereits vollzogen (trotz massiv höherer Mißbrauchsgefahr).Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Polygamie wieder in größerem (und rechtlich sanktioniertem) Umfang Einzug hält. Denn man kann ohne weiteres argumentieren, daß auch dort gegenseitige Verantwortung gelebt werden kann. Unter Moslems wird sie in Deutschland bereits in großem Umfang gelebt.
  5. Pornographie im engeren und im weiteren Sinne, also eingeschlossen: Distanzlosigkeit, allgemeines Duzen, Verlotterung von Sprache und Sitte, Wegbrechen der Ritterlichkeit der Männer, Schamlosigkeit der Frauen.
  6. Propagierung der Homosexualität als gleichwertig und beglückend (trotz massiv höherer Selbstmordrate, Promiskuität, Partnerwechsel, Krankheiten).
  7. Ermutigung zu massenhafter Kindstötung deren gesellschaftliche Mitfinanzierung (trotz massiv negativer Folgen für das seelisch-ethische Gleichgewicht in der Gesellschaft). Die Kosten für „Abtreibungen“ und Folgebehandlungen (bes. depressiv gewordene Mütter) betragen allein in der Schweiz pro Jahr, vorsichtig gerechnet, 4 Mrd. Schweizer Franken, ein Anteil von ca. 10 Prozent sämtlicher Gesundheitskosten der Schweiz pro Jahr (Stand 2012).[19]Wer sich kritisch gegenüber „Abtreibung“ (ein beschönigender Begriff!) äußerst, muß inzwischen mit harten Sanktionen rechnen. 30.000 €: So hoch kann die Geldstrafe ausfallen, mit der in Frankreich die Betreiber von Internetseiten belangt werden können, die angeblich „irreführende Informationen“ rund um die Themen Schwangerschaft und Abtreibung im Internet verbreiten. Mitte Februar 2017 brachte die sozialistische französische Regierung ein entsprechendes Gesetz durch die Nationalversammlung. Auch Darstellungen, die das Ziel verfolgen, Frauen und ihre ungeborenen Kinder vor einer Abtreibung zu bewahren, können zukünftig mit bis zu zwei Jahren Haft oder der genannten Geldstrafe geahndet werden.[20]
  8. Es wird intensiv daran geforscht, den weiblichen Leib vom Gebären zu „entlasten“, oder besser: ihn seiner größten Würde und Ehre zu berauben. Wenn dieser Schritt einmal vollzogen ist, steht der „Brave New World“ von Aldous Huxley keine geschöpflich-harte Schranke mehr im Wege. Das sozialistische Traumziel wird dann in greifbare Nähe gerückt sein: der bindungslos aufgewachsene ist der bindungsunfähige und damit für alle staatlich geplanten Zwecke willenlos verfügbare Mensch.[21]
  9. Sprachregelungen greifen immer tiefer ein und gefährden sogar literarische Denkmäler, seien es biblische, theologische, oder literarische.Beispiele: Bibel in gerechter Sprache, Veränderungen des klassischen Liedgutes (der Kirchentag 2017 formulierte Paul Gerhardt „geschlechtergerecht“ um); „Sankt-Martins-Fest“ als „Lichterfest“; in Schweden ein Polizeieinsatz im Kindergarten und allgemeine Entrüstung über die Aussage in „Pippi Langstrumpf“, ihr Vater sei „Negerkönig im Takatuka-Land“ (neu: „Südseekönig“)[22].

Soweit der Blick in die heutige Gesellschaft, fokussiert auf Fragen von Leiblichkeit und Familie.

2.3.3     Politik: Pragmatismus folgt Relativismus

Nun Blicke in die Politik. Ich meine: Die laufenden Koalitionsverhandlungen bieten ein gutes Emblem der Signatur unserer geistigen Lage. Die Parteien mit den Jamaika-Farben schwarz, grün und gelb waren politisch bis vor kurzem noch denkbar gegensätzlich. Jetzt wird, weil das Prinzip Machterhalt wichtiger ist als jedes politisch-inhaltliche (Wahl-)Versprechen, zusammengeklebt, was eigentlich einander abstößt. Dazu aber ist ein eiserner Griff nötig. Zwar fehlt die übergreifende, gemeinsame Idee: man konnte sich in den ersten Gesprächen lediglich einigen, die Schaumweinsteuer abzuschaffen; in der Woche darauf einigte man sich sogar, keine neuen Schulden zu machen. Doch ein positiver Entwurf, ein Programm mit einer klaren Mitte, einem einigenden Gravitationszentrum sieht anders aus!

Das Gravitationszentrum ist nicht mehr ein positives inhaltliches Prinzip, sondern das funktionale Prinzip des Machterhalts, das Prinzip, an der staatlichen Gewalt Anteil zu haben und diese Partizipation durch keine andere Konstellation oder Kritik mehr gefährden zu lassen (daher das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“). Um weiterhin maßgeblich die Regierungsmannschaft stellen zu können, da hatte Martin Schulz am Wahlabend ganz Recht, ist für Frau Merkel jede inhaltliche Option denkbar. Das ist typisch postmodern, gepaart mit staatlicher Gewalt, d.h. aber eben der Übergang vom Relativismus zum Absolutismus. Am Ende steht, wie ich fürchte, eine neue Diktatur, die sich aber vorläufig nicht als solche zu erkennen geben, sondern sich immer als Vollzug des Mehrheitswillens ausgeben wird, der sorgfältig manipuliert werden muß.

Giuseppe Gracia diagnostiziert:

„Denn in Europa wird heute mehr als nur Loyalität zu Staat und Gesetz verlangt. Man verlangt die gesinnungsmäßige Anpassung an einen Korridor erlaubter Ansichten. Das verträgt sich weder mit Pluralismus noch mit Religionsfreiheit. Es drängt nicht nur lehramtstreue Katholiken, sondern auch andere Gruppen an den Rand. Ein solches Gesinnungsdiktat fördert Sondergesellschaften. Es entstehen soziale „Filterblasen“ mit eigenen Schulen, Arbeitsplätzen und Medienkanälen. Wenn aber eine Gesellschaft durch Gesinnungsdruck schon bekennende Christen ins Abseits drängt, wie will sie dann glaubwürdig der Bildung neuer moslemischer Parallelwelten oder Ghettos entgegentreten? Eine Gesellschaft, in der religiöse Gruppen nur noch im Abseits gemäss ihren Überzeugungen leben können, ist keine offene liberale Gesellschaft mehr, sondern vielmehr Ausdruck ihres Scheiterns.“[23]

2.3.4     Kirche: einebnende Ich-Botschaften, instrumentelles Verständnis des Pfarramts u.a.

Innerkirchliche Abweichler werden bereits im Rahmen der Ausbildung durch nivellierende Maßnahmen aussortiert oder weichgeklopft. Die Arbeit in den kirchlichen Predigerseminaren ist weitgehend auf die Person statt auf die Theologie ausgerichtet, genauer: über die Arbeit an der Person wird deren Theologie verflüssigt. Denn mit einem postmodernen Ansatz geht man davon aus, daß sich jeder ohnehin seine eigene Wahrheit zusammenbastelt. Vorgeschrieben sind daher „Ich-Botschaften“ statt „Es steht geschrieben“. Auf logische Argumente kann weithin verzichtet werden; entscheidend ist, ob jemand umgänglich und nett daherkommt.

Auf der Grundlage eines postmodernen Ansatzes wird ein absolutistisches und sozialistisches Ziel verfolgt: Einebnung und Nivellierung. An dieser Stelle steht die Kirche m.E. eben für den Übergang vom Relativismus zu einem neuen Machiavellismus. Das Ordinationsversprechen, bei dem die formelle Grundlage bestimmter Bekenntnisschriften schon lange nur noch aus Formgründen besteht, bekommt eine neue Bedeutung, nämlich die Einordnung der Ordinierten in die kirchlichen Hierarchiestrukturen.[24]

3. Der Weg der lauen oder abgefallenen Kirchen

Seit Schleiermacher (1768–1834) bzw. in seinem Gefolge gilt die persönliche Erfahrung als Grundlage einer liberal geprägten Frömmigkeit: Mein persönliches Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit! Im Blick auf die Kirchenmitgliedszahlen ging das auch einige Jahrzehnte leidlich gut, zumindest solange, wie die Kirchen in einem freundlichen Umfeld unterwegs waren.[25] Schon um 1800 waren nicht viele Menschen in den Gottesdiensten, aber an Kirchenaustritt dachte niemand, trotz der Säkularisierung der Kirchengüter (1806). Das ändert sich freilich seit mittlerweile rund 30 Jahren drastisch. In Kürze wird der Anteil der Bevölkerung, der noch Mitglied in irgendeiner registrierten Kirche ist, unter 50% fallen. In vielen großen Städten Europas ist dies bereits geschehen!

Welche Maßnahmen nun trifft hier eine dekadente, satte Kirche, die seit ein paar Jahrzehnten zwar von Verfolgung verschont blieb, aber ihr Verführtwerden nicht wahrnimmt? Nur ein paar Beobachtungen aus den letzten Jahrzehnten.

3.1      Zivilreligion: „Wir geben der Gesellschaft den Kitt, den sie sonst nicht hat.“

In der skizzierten Lage versuchen viele Kirchenvertreter, die Relevanz ihrer Institution mit einem zivilreligiösen Ansatz zu vermitteln: „Wir geben der Gesellschaft den Kitt, den sie sonst nicht hat.“[26]

Einerseits sieht man, wie nötig der Kitt heute ist, und daß man den Individualismus in Wahrheit (d.h. im Herzen) nur durch die Gemeinde bzw. durch Wort und Sakrament überwinden kann. Andererseits fehlt dem zivilreligiösen Ansatz aber gerade das wesentliche, was ins ewige Leben führen könnte: Der heilsame Ruf zur Buße und das Wort von der Vergebung, vom Mittler und seinem allein selig machenden Namen, Jesus Christus, damit das extra nos und das pro nobis, das uns herausführt aus unserer Selbstumkreisung und zu Kindern des himmlischen Vaters macht.

3.2      Funktionalismus: Was (ohne komplizierte Theologie) funktioniert, ist gut – Tod der Theologie, Flut der Gesetze

Wir beobachten, daß Kirchen- und Verbandsleitungen weithin ohne Rücksicht auf Theologie und Theologen durchregieren, Gesetze und Verordnungen machen, die immer mehr über den Kopf wachsen. Schon Luther sagte: Wo das Vertrauen fehlt, hört das Gesetzemachen nicht auf.[27] In der Politik müssen immer neue Kontrollorgane und Planungsauflagen die gröbsten Torheiten verhindern, und bringen manchmal selbst welche hervor. Auch in den Landeskirchen gibt es eine Sintflut von Verordnungen, die nur noch Experten überblicken. Jeden Monat sind die Amtsblätter der Kirchen davon voll. (Wenn ich wissen will, wie es um meine Beurlaubung, Wiederanstellung oder Pensionierung steht, brauche ich Beratung durch Kirchenjuristen. Trotz langem Theologiestudium habe ich Mühe, die zu beachtenden Regelungen zu überblicken.)

Eine Kirche, die keine Theologie mehr braucht, läßt die Theologie letztlich sterben. Daran leiden auch die historisch-kritischen Vertreter der Moderne, also viele der heutigen Lehrstuhlinhaber. Ich erinnere nur an die bissigen Auseinandersetzungen um die Art und Weise, wie das Reformationsjubiläum zu feiern war, etwa zwischen dem Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann und der Leitung der EKD über die Bewertung der Lutherfolklore-Veranstaltungen, und an das oft gespannte Verhältnis zwischen Landeskirchenämtern und theologischen Fakultäten.

3.3      Den Leuten hinterherlaufen: Themen statt Texte, Person statt Wort, Beziehung statt Botschaft[28], Subjektivität statt Objektivität, „dem Volk aufs Maul schauen“ (neue Bibelübersetzungen), das Bedürfnis nach Geborgenheit befriedigen, neue Musik

Wir beobachten ferner, daß Kirchen- und Verbandsleitungen und ihre weithin im säkularen Denken und Sprechen gefangenen Kommunikationsabteilungen krampfhaft versuchen, die eigene Relevanz noch einmal deutlich zu machen. Die schon genannte Zivilreligion (3.1) ist die inhaltliche Dimension. Den Leuten hinterherzulaufen, immer neue interessante Angebote jenseits des sog. kirchlichen „Kerngeschäfts“ zu machen, zeigt die grundsätzliche Seite, die Haltung, mit der liberale Kirchenvertreter das Erstgeburtsrecht des Gottesvolkes verschleudern.

Häufig treten die Kirchen dann in Konkurrenz zu säkularen, und emotional effektiveren oder intensiveren Freizeitangeboten (z.B. Fußballstadien), können diese Attraktivität aber oft nur unter Ausverkauf des kirchlichen Propriums aufbauen. Nur wo das Proprium erkennbar bleibt, wo mit einem Freizeitangebot oder einem diakonischen Angebot erkennbar christliche Verkündigung verbunden wird, kann auch neuer Glaube entstehen. Wo aber der Werbeträger für den Glauben, z.B. eine Sportgruppe, eine angenehme Urlaubswoche o.ä. zum wichtigsten oder alleinigen Inhalt wird, haben solche Angebote ihre Daseinsberechtigung auf kurz oder lang verloren.

Anschauliche Beispiele für die Bevorzugung eines personorientierten gegenüber einem wortorientierten Gemeindebauansatz bieten sich zuhauf. Daß eine wortorientierte christliche Arbeit durchaus als attraktiv und gemeindewachstumsfördernd erlebt werden kann, wird oft nicht gesehen. Die sog. Bible Study Fellowship, ein internationales Bibelstudienprogramm, an dem meine Frau in Basel wöchentlich teilnimmt, hat sich in wenigen Jahren auf nunmehr über 200 Frauen und 45 Kinder in etwa verdoppelt. Speziell ist, daß hier gerade die Beziehungsdimension bewußt relativ schmal gehalten wird: Natürlich ist persönliche Entwicklung gewollt, zur Reflexion darüber wird auch angehalten. Die Gespräche verlaufen aber strukturiert anhand vorgegebener Fragen zu biblischen Büchern, so daß sich das Beziehungsmäßige nicht in den Vordergrund drängen kann, sondern gegenüber der Zuwendung zur Schrift in der zweiten Reihe bleibt.

Zum Gegensatz von Subjektivität und Objektivität füge ich noch ein Beispiel für einen postmodernen freikirchlichen Prediger an, den ich selbst gehört habe. Dieser erzählte, es reiche nicht mehr, mit der Bibel auf einer Linie zu sein, weil die Bibel ja mit sich selbst nicht auf einer Linie sei (Polygamie, Kriege, Folter [sic!]). Zum Glück biete die Bibel selbst einen Maßstab, an dem wir alles messen können: Jesus Christus. Das Problem: Dieser „Jesus“ verkümmert zum Container, in den jeder reinfüllen kann, was er sich darunter vorstellt. Statt einem schriftgemäßen Jesus sucht man hier eine jesusgemäße Schrift. Die Reduktion der Bibel auf einen Kanon im Kanon, wie früher in der Bultmannschule, wird wieder salonfähig.

4. Die Antwort der christlichen Verkündigung

4.1      Wie die Antwort (nicht) ausfallen sollte

Wir haben die heutige geistesgeschichtliche Lage im wesentlichen als Spätstadium einer Verlustgeschichte dargestellt und einige Antworten gesehen, die von den liberalen Kirchen gegeben werden.

Unsere Antwort auf das postmoderne Lebensgefühl sollte nicht lauten, daß uns das alles nichts angeht, weil wir ja den rechten Glauben und eine gute Gemeinde besitzen. Vielmehr gehören auch wir mit unseren Zeitgenossen in diese Phase der Geschichte und sind selbst wie sie Adressaten des Wortes Gottes.

Unsere Antwort sollte so ausfallen, daß wir nicht, weil abgeschottet, den Kontakt mit den Menschen um uns herum verlieren, sondern gesprächs- und hörfähig („hörselig“[29]) bleiben, nicht uns selbst immunisieren. Denn gerade die Selbstimmunisierung und Selbstisolierung, das Ende des echten, von Interesse getragenen Dialogs aufgrund der Gleichgültigkeit aller ist das, was man aus christlicher Sicht einem radikal postmodernen Ansatz und Lebensgefühl vorhalten sollte. Gottes Suche nach dem Menschen, der nur sich selbst sucht, und unsere Nächstenliebe in Wort und Tat – das sollten die Mittel sein, durch die der postmoderne Nachbar zu gewinnen ist. Den Mitmenschen dort aufsuchen, wo er steht, ist ein guter Imperativ, der uns allzu leicht über die Lippen geht. Denn oft werden Christen in den Strudel mit hineingezogen, in dem sie den Nächsten aufsuchen wollen, weil sie die zeitgenössische Kultur unkritisch als neutrale, adaptierbare Ausdrucksform betrachten.[30] Gegenüber den weltanschaulich-philosophischen Prägungen unserer Zeit sollten wir uns betend und durch gute Theologie und Schriftstudium wappnen (Eph 6,10–17).

4.2      Aus dem ersten Glaubensartikel

4.2.1      Recht und Grenze des Staates als Erhaltungsordnung für eine gefallene Schöpfung

Aufgrund von Röm 13 liegt es Christen fern, das grundsätzliche Recht staatlicher Autorität in Frage zu stellen, und zwar unabhängig von der Staatsform. Allerdings liegt es auf der Hand, daß eine demokratische Einhegung und Kontrolle der Macht angesichts der Sünde des Menschen weniger Mißbrauchsmöglichkeiten in sich birgt als eine Diktatur (Schopenhauer: Gewaltenteilung nötig aufgrund der Einsicht in die Erbsünde[31]). Der Staat hat die Aufgabe, die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen, verliert aber seine Rechtmäßigkeit, wenn er Unrecht zu Recht erklärt und Kritiker einsperrt, statt hörfähig zu bleiben.

4.2.2      Gott als Schöpfer vs. Vergötzung der Geschöpflichen

Gott ist der Schöpfer; diese Ehre läßt er keinem anderen (Jes 42,8). Als Schöpfer will er auch verehrt werden. Wer das Geschöpfliche vergötzt, verfällt dem Dahingegebensein in vielerlei Irrtümer an Leib und Geist (Röm 1,18ff.). Christliche Verkündigung darf nicht müde werden, die für jeden gesunden Menschenverstand eigentlich einsehbare, aber immer neu auszubuchstabierende Wahrheit einzuschärfen: Du bist Mensch und nicht Gott und nicht Tier. Machst du dich aber zum Herrn über Leben und Tod, tastest du Gottes Ehre an. Erniedrigst du dich selbst zum Tier oder erhebst du das Tier auf deine Ebene, so verneinst du, was der Schöpfer dir zugedacht hat.

„7 Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. 8 Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. 9 Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. 10 Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (Gal 6,6–9)!

4.2.3      Gottes Gesetz vs. Antinomismus

Der Schöpfer hat die Welt durch zehn Worte ins Dasein gerufen und ihr Gestalt gegeben (1.Mose 1). Ebenso hat er in zehn Worten des Bundes seinem Volk Israel und der ganzen Menschheit eine Grundordnung für ihre Beziehung zu sich und zueinander gegeben.

Emanzipiert sich der Mensch, verfällt er dem Gericht. Das Auftreten eines prinzipiellen Widerspruchs gegen die Wahrheit und so gegen ein für alle gleichermaßen gültiges Gesetz in der Postmoderne ist ein starkes Zeichen für das Herannahen des göttlichen Gerichts, zumindest über Europa. Paulus bezeichnete den „Menschen der Gesetzlosigkeit“ als Zeichen der Endzeit. Was von diesem in 2.Thess 2 gesagt wird, stimmt zu einem großen Teil (allerdings nicht völlig) überein mit dem heutigen mitteleuropäischen Einzelmenschen, der sich selbst Gesetz sein will, sich selbst in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott, jedenfalls sein eigener Gott. (Nicht überein stimmt der Mensch der Bosheit in 2.Thess 2 insofern mit der individualistischen Befindlichkeit, als diese Schilderung eher eine wundertätige Einzelnperson und nicht ein Kollektiv aus Individualisten skizziert.)

4.2.4      Gottes Wahrheit und Wirklichkeit vs. Gleichgültigkeit und Indifferenz

Gott, der eine Schöpfer und Erhalter des ganzen Universums ist es, der die Einheit der Wirklichkeit und damit auch der Wahrheit verbürgt – und ebenso die fortbestehende Kraft der Sprache, mit der und in der wir um die Wahrheit ringen können. Daher aber sollen wir auch um die Wahrheit ringen! Tun wir es nicht mehr, haben wir unser Menschsein aufgegeben. Hier bedroht der prinzipielle Antifundamentalismus der Postmoderne, bedrohen die Antidiskriminierungsgesetze das Menschsein im Kern – nicht erst seit „Gender mainstreaming“! Die gleiche Bedrohung geht von einem Liberalismus aus, für den der Streit um Dogmen nur noch ein Sprachspiel ist, oder der hinsichtlich angeblich dahinterstehender Machtansprüche zu hinterfragen (zu „dekonstruieren“) ist.

Im geistesgeschichtlichen Zusammenhang formuliert G. Ward sehr schön: „Wenn man Realismus als Bindung an eine Form von Korrespondenz zw. Geist und Welt, Worten und Dingen betrachtet, dann ist die Postmoderne zum Nicht-Realismus als Ablehnung jeglicher Möglichkeit der Korrespondenz verpflichtet.“[32]

4.2.5      Gott schafft mit dem Menschen die Geschichtlichkeit

Anders als bei den Tieren intendiert der Schöpfer beim Menschen, daß sich eine Geschichte entfaltet. Dieses Ja Gottes zur technischen und kulturellen Entwicklung dürfen wir dankbar annehmen. Doch unser Ja zu Geschichte und Entwicklung muß nach dem Sündenfall immer auch ein Ruf zu Buße, Umkehr und Nachfolge bzw. Heiligung sein. Denken wir, neben Joh 12,24–26, an die erste der 95 Thesen Luthers:

Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: „Tut Buße“ usw. (Matth. 4), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.

Christen sind nicht Feinde der Kultur, sondern ihre besten Innovatoren. Dies in Erinnerung gerufen zu haben, ist das große Verdienst einiger neuerer Bücher: Ich denke an die Autoren Francis Schaeffer, Vishal Mangalwadi, Hansjürg Stückelberger und Alvin Schmidt (Titel in Auswahl siehe Literaturverzeichnis).

4.3      Aus dem zweiten Glaubensartikel

4.3.1      Erlöser vs. Selbsterlösung, Stellvertretung vs. Autonomie

Die christliche Antwort auf die selbstgewisse, selbstverklärende Haltung des postmodernen Menschen muß festhalten: Deine Sünde ist so groß, daß Christus sterben mußte, um dich zu erlösen. „Nondum considerasti …“, sagt Anselm: Du wirst nie ermessen, wie groß deine Sünde ist, daß Christus dafür sterben mußte!

4.3.2      „Von dort wird er kommen zu richten“ vs. unbestimmte Zukunft

Die Endzeitreden Jesu nennen einige Phänomene der letzten Zeit, die auf unsere Gegenwart zutreffen (aus Mt 24,3–15; dazu auch 2.Thess 2):

  • Verführungen durch falsche Christusse
  • Kriege und Kriegsgeschrei
  • Verfolgung der Gemeinde
  • Erkalten der Liebe in vielen
  • Predigt vom Reich Gottes weltweit und für alle Völker
  • Greuelbild der Verwüstung
  • Abfall
  • Offenbarung des Menschen der Gesetzlosigkeit
  • Satanische Wunder

Die ersten fünf der genannten Phänomene sind zweifellos immer wieder zu beobachten. Auch die weltweite gültige Missionsauftrag Jesu gelangt immer weiter an seine Vollendung. Völker ohne christliche Verkündigung und ohne Bibelübersetzung werden seltener; die Wycliff-Bibelübersetzer haben sich gar zum Ziel gesetzt, in jedem Stamm, der noch keine eigene Übersetzung irgendeines Bibelteils in der eigenen Sprache besitzen, bis zum Jahr 2025 ein Übersetzungsprojekt zu beginnen. Ob dies zu ambitioniert ist, weiß Gott allein. Aber es zeigt: Der Weg zur Erfüllung dieses Auftrags ist absehbar, und wir dürfen mit guten Gründen hoffen, dies noch zu erleben!

Der scheidende Christus mahnt seine Jünger, wachsam zu sein. Sind wir es gegenüber den Phänomenen unserer Zeit? Oder leben wir gleichgültig dahin? Dann aber hat uns bereits das postmoderne Lebensgefühl angekränkelt.

Wenn wir aber die Endzeitreden Jesu und die Offenbarung des Johannes ernst nehmen, werden wir gerade um der Liebe willen dem postmodernen Zeitgenossen sagen müssen, worauf ein jeder zugehen wird: Nicht den immer größeren Wohlstand, die nächste schöne Reise, der nächste große Kick – sondern die Begegnung mit dem wiederkehrenden Christus. „Wer glaubt, wird dann bestehen bleiben. Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!“, ruft Jesaja einem König zu, der sich nach allen Seiten absichern wollte, aber den Heiligen Israel vergaß (Jes 7,9).

4.4      Aus dem dritten Glaubensartikel

4.4.1      Gemeinde vs. Vereinzelung

Der postmoderne Mensch ist zutiefst einsam (was er aber gar nicht bedauert). Christliche Verkündigung wird ihm nicht nur die frohe Botschaft von der Sündenvergebung weitergeben, sondern damit zugleich klar machen: Gott will dich als Glied einer neuen Gemeinschaft haben, die du dir nicht ausgesucht hast, sondern in hinein dich der heilige Gott, dein Schöpfer und Erhalter einpflanzen will, und die dir eine Fülle des Menschseins eröffnet, die du sonst nie geahnt hättest (vgl. Röm 12,1–8).

4.4.2      Heiligung vs. Hedonismus

Der postmoderne Mensch sucht Befriedigung in den Dingen dieser Welt; allem Jenseitigen gegenüber zeigt er sich gleichgültig, agnostisch oder atheistisch bzw. evtl. sogar feindselig eingestellt (eine nur im Westen verbreitete Haltung!). Ein gesteigertes Reisebedürfnis bzw. eine hochentwickelte (Fähigkeit zur) Mobilität, um möglichst viel „mitzunehmen“, gehört dazu. Sich an den gleichen Ort oder Partner oder Arbeitgeber etc. über Jahrzehnte zu binden, erscheint ihm vorgestrig.

Was bedeutet hier die Botschaft von der Furcht Gottes und von der Heiligung, ohne die niemand Gott sehen wird (Hebr 12,14)? Zunächst sollen wir daran erinnern, daß wir die Dinge dieser Welt beherrschen sollen und nicht sie uns. Wer nach immer mehr, nach dem immer Neuen und nach dem noch intensiveren Kick[33] jagt, ist nicht frei, auch wenn er es sich einbildet. Zu den Früchten des Geistes gehören darum auch: Bescheidenheit, Maßhalten, Demut, Geduld und Treue (Gal 5,22, vgl. V. 19f. über die Werke des Fleisches), Genügsamkeit statt Geldgier, sowie eine Ausrichtung auf Glauben und Gerechtigkeit statt auf Reichtum und schändliche Begierden (1.Tim 6,3–16). Durch den gottgeschenkten Glauben wächst der Mensch über sich selbst hinaus!

4.4.3      Offenbarung vs. Selbsterkennenwollen

Daß es eine Heilige Schrift gibt (beginnend mit der Tora), widerspricht an sich der Autonomie des neuzeitlich oder postmodern geprägten Individuums. Und doch kann kein menschlicher Versuch, so intelligent er auch sein mag, sondern nur ein göttlicher Eingriff dem tief verunsicherten und immer vergeblich und am falschen Ort suchenden modernen und postmodernen Menschen Orientierung und Hilfe bieten.

4.4.4      Liturgie und Kirchenjahr vs. Vereinerleiung der Zeiten

Heilige und wiederkehrende Zeiten, Sabbat bzw. Sonntag, heilige Orte, die heilige Sprache einer bibelgesättigten Liturgie: Der Schatz, aus dem Christen sich und die Ihren nähren dürfen, ist unerschöpflich – aber auch unverzichtbar. Bestimmte Zeiten, Orte und Worte sind nötig, um uns Heimat für Zeit und Ewigkeit zu geben, um die ganze Gemeinde und jeden Gläubigen immer wieder mit der Heilsgeschichte, genauer: um uns jedes Jahr neu mit dem Weg Jesu Christi von der Krippe zum Kreuz zu verbinden. Auch dadurch soll Heiligung geschehen!

Stellen Sie sich vor, Sie ziehen in ein fernes Land und finden dort niemanden, der schon einmal etwas von der Bibel oder Jesus Christus gehört hat.[34] Sie fühlen sich nach kurzer Zeit im innersten unverstanden. Ganz anders die Lage, wenn Sie eine Kirche vorfinden, in der man Gottes Wort liebt. Ich habe dies an verschiedenen Orten erleben dürfen: Hier entsteht unmittelbar der Eindruck der Vertrautheit, denn man trifft Menschen, die im innersten dem gleichen Gott und Wert verpflichtet sind. Wie könnte besser Vertrauen gestiftet werden? Und wie könnte effektiver das zwischenmenschliche Vertrauen geschwächt werden, wenn ich nichts mehr darüber wissen darf, was den anderen im Herzen bindet? Werde ich dann weitreichende Verträge und Verpflichtungen mit ihm eingehen? Nein, ich werde zurückhaltend sein und abwarten.

Der Soziologe Hartmut Rosa schreibt: „Die Idee einer ‚Heiligen Schrift‘, die Konzeption eines Heilsgeschehens und einer Heils- oder Sakralzeit, ja der Verlauf eines Kirchenjahres: Sie alle erweisen sich als weitgehend resistent gegenüber den Imperativen der Innovation, der Beschleunigung oder der Steigerung. Daher scheinen mir die überlieferten Religionen, jedenfalls in ihrer jüdisch-christlichen oder auch islamischen Gestalt [sic!], zumindest auch – wenn nicht sogar primär – als (möglicherweise unverzichtbare) Gegenpole zur Steigerungs- und Dynamisierungslogik der Moderne zu fungieren.“[35]

5. Fazit

  1. Sich der Frage nach Wahrheit gegenüber gleichgültig zu zeigen, steht in einem eklatanten Widerspruch dazu, daß und wie sich der dreieinige Gott in seinem Wort, in seinem Bund Gottes mit seinem Volk und in Jesus Christus gezeigt hat. In diesem Wort will er uns Klarheit, Gewißheit und Freude über die (bzw. an und in der) letzte(n) Wahrheit bzw. über die Person geben, die unser Leben von Sünde, Tod und Teufel rettet und ins ewige Leben führt. In dieser Freude trotz allem Leid, in dieser Wahrheit trotz allem Zweifel bewährt sich der Glaube als der gottgeschenkte Sieg, der die Welt überwindet, ja, wie der Apostel schrieb: schon überwunden hat (1 .Joh 5,4).
  2. Christen sollten bemüht sein, ihre Zeitgenossen (und nicht nur ihresgleichen) immer wieder aus der Apathie unserer Zeit herausführen. Denn ihre absoluten Werte, geschöpft und gemessen am Wort Gottes, sind ihnen größer und wichtiger als ihr eigenes Leben (Offb 12,11); und gerade dieses Wort läßt sie das Leben und die Welt als Schöpfung und Gabe dankbar annehmen und bewußt gestalten (Ja zur Geschichte, s.o.)Würden aber auch für Christen privater Friede und Wohlstand zu Höchstwerten, so würden sie der Willkür der kommenden Machtelite nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ausgeliefert.
  3. Christen sollten also diejenigen sein, die der „Preisgabe der Vernunft“, die letztlich dem Humanismus der Moderne und der Postmoderne innewohnt, widerstehen, und dankbar die Rationalität der Schöpfung, die Erkennbarkeit und Sagbarkeit der einen Wahrheit festhalten und bekennen.[36]
  4. Wenn Christen über die Wahrheit mit Zeitgenossen diskutieren, sollten sie ihr Gegenüber nicht in eine Paradigma-Schublade stecken, d.h. wir sollten unser Gegenüber nicht anhand eines Rasters „Vormodern – Modern – Postmodern“ einordnen.[37] Das würde die Vollmacht christlichen Zeugnisses von einer gehörigen Kenntnis an Philosophie und Soziologie abhängig machen, ohne die eine solche Einordnung nicht möglich wäre (und sie bleibt ohnehin immer vorläufig).Vielmehr dürfen wir in der Freiheit, die aus der Wahrheit kommt, alles prüfen, das Gute aber behalten (1. Thess 5,21), und vor allem: Auf die Nennung des allein rettenden Namens nicht verzichten: Jesus Christus.
  5. Bei aller Sorge um die Kommunikation des Evangeliums beziehen Christen den Gehalt und die Kraft dieses Namens nicht aus dem gerade akzeptablen, verständlichen oder kommunizierbaren geistigen Setting ihrer Umgebung.Sie glauben und bezeugen unverdrossen das ganze Bibelwort als Quelle ihres Christuszeugnis.„Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,31f.).

Pfr. Dr. Stefan Felber, www.stefan-felber.ch, Bielefeld 28.10.2017, Vortrag für die Arbeitsgemeinschaft: Bekennende Gemeinde

6         Literatur

Descartes, Réne: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, 1637.

Dietz, Thorsten: Postmoderne, Konstruktivismus und Pluralismus. Herausforderungen für eine evangelikale Theologie im Pluralismus, in: Ichthys 21 (1995), 2–15.

Folger, Janet L.: The Criminalization of Christianity. Read this before it becomes illegal, Sisters Or 2005.

Gracia, Giuseppe: Innere Zensur. Wer hierzulande zur katholischen Lehre steht, zahlt hohen Preis, in: FOCUS online 1.11.2017, http://www.focus.de/politik/experten/gastbeitrag-wer-hierzulande-zur-katholischen-lehre-steht-zahlt-hohenpreis_id_7785815.html (5.11.2017).

Graf, Friedrich Wilhelm: Art. Postmoderne I. Soziologisch und sozialgeschichtlich, in: RGG 4.Aufl., Band 6 N–Q, Tübingen 2003, Sp. 1514–1515.

Groothuis, Douglas: Truth Decay. Defending Christianity Against the Challenges of Postmodernism, Downers Grove, Ill. 2001, 303 S. (TSC-Bibl.: CJ 3.1 Groo).

Hägglund, Bengt: Theologie und Philosophie bei Luther und in der ockhamistischen Tradition. Luthers Stellung zur Theorie von der doppelten Wahrheit, 1955.

Hempelmann, Heinzpeter: Faktisch, postfaktisch, postmodern? Kommunikation von Wahrheit(sansprüchen) in pluralistischen Gesellschaften als Problem und Herausforderung, in: ThBeitr 48/1 (2017), 6–23.

Hempelmann, Heinzpeter: Nach der Zeit des Christentums. Warum Kirche von der Postmoderne profitieren kann und Konkurrenz das Geschäft belebt, Gießen 2009.

Hempelmann, Heinzpeter: Prämodern – modern – postmodern. Warum „ticken“ Menschen so unterschiedlich? Unterschiedliche Basismentalitäten und ihre Bedeutung für Mission, Gemeindearbeit und Kirchenleitung, 2013.

Kleina, Eberhard: Flüchtlingsströme nach Europa. Eine getarnte Masseneinwanderung?, Lübbecke 2015, 24 S. (als Manuskript gedruckt; Download möglich unter https://www.stefan-felber.ch/downloads/kleina-eberhard-fluechtlingsstroeme-nach-europa-eine-getarnte-masseneinwanderung-luebbecke-2015/download).

Koschorke, Albrecht: „Säkularisierung“ und „Wiederkehr der Religion“. Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne, in: Basu, Helene u.a. (Hg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung. Sozialtheorie, Berlin, Bielefeld 2013, 237–260 (TSC-Bibl.: LA 4.1 Will).

Kuby, Gabriele: Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit, Kißlegg 2012, 453 S.

Mangalwadi, Vishal: The Book That Made Your World. How the Bible Created the Soul of Western Civilization, Nashville, Dallas 2011; deutsch: „Das Buch der Mitte“, Basel: fontis 2014, 606 S.

Mangalwadi, Vishal: Wahrheit und Wandlung. Was Europa heute braucht, Basel: fontis 2016, 368 S.

Marquard, Odo: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: Marquard, Odo (Hg.): Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1991, 91–116.

Nestvogel, Wolfgang: Evangelisation in der Postmoderne. Wie Wahrheit den Pluralismus angreift …, Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung 2004, 156 S.

Palko, Vladimír: Die Löwen kommen. Warum Europa und Amerika auf eine neue Tyrannei zusteuern, Kißlegg 32015, 503 S.

Parzany, Ulrich: Was nun, Kirche? Ein großes Schiff in Gefahr, Holzgerlingen 2017, 208 S.

Rohrmoser, Günter: Emanzipation oder Freiheit. Das christliche Erbe der Neuzeit, Berlin Nachdr.1995, IV, 391 S.

Rohrmoser, Günter: Kann die Moderne das Christentum überleben? Oder: Kann die Moderne ohne das Christentum überleben?, Religionsphilosophie Bd. 1, Ansbach 2013, 96 S.

Rosa, Hartmut: Historischer Fortschritt oder leere Progression? Das Fortschreiten der Moderne als kulturelles Versprechen und als struktureller Zwang, in: aaO. (s. bei Koschorke) 117–141.

Rothen, Paul Bernhard: Auf Sand gebaut. Warum die evangelischen Kirchen zerfallen, Münster 22015.

Schaeffer, Francis A.: Preisgabe der Vernunft. Kurze Analyse der Ursprünge und Tendenzen des modernen Denkens, Wuppertal 51985, 96 S.

Schaeffer, Francis A.: Wie können wir denn leben? Aufstieg und Niedergang der westlichen Kultur, Neuhausen 21985, 302 S.

Schmidt, Alvin J.: Wie das Christentum die Welt veränderte. Menschen, Gesellschaft, Politik, Kunst, Gräfelfing 2009, 494 S.

Seubert H., Replik zu Hempelmann (Prämodern – modern …, s.o.), ungedrucktes Manuskript.

Seubert, Harald: Was Europa dem christlichen Glauben verdankt. Überlegungen zu den Fundamenten unserer Kultur, in: Theologische Beilage zur STH-Postille April (2014), 1–8.

Sierszyn, Armin: Der europäische Säkularismus, die Sprachlosigkeit der Kirchen und die Gefährdung des Kontinents, Kleine Schriften Bd. 8, Bäretswil 2016, 50 S.

Slenczka, Reinhard: Wort Gottes oder Stimme des Volkes und die neue Gnosis, in: Lutherische Beiträge 21/3 (2016), 184–200.

Sparn, Walter: Doppelte Wahrheit? Erinnerungen zur theologischen Struktur des Problems der Einheit des Denkens, in: Track, Joachim; Mildenberger, Friedrich (Hg.): Zugang zur Theologie. Festschrift für Wilfried Joest, Göttingen 1979, 53–78.

Stückelberger, Hansjürg: Europas Aufstieg und Verrat. Eine christliche Deutung der Geschichte, Aachen 22015, 432 S.

Ward, Graham: Art. Postmoderne II. Religionsphilosophisch und fundamentaltheologisch, in: RGG 4.Aufl., Band 6 N–Q, Tübingen 2003, Sp. 1515–1516.

Weisensee, Gerd J.: Wertezerstörung: Was kostet uns alle die Abtreibung?, in: Zukunft CH 2 (2014), 4–5. Der Text ist verfügbar unter www.stefan-felber.ch/downloads.

[1] Vgl. auch den Versuch einer Eingrenzung der Epochencharakteristika auf Fragen von Rationalität und Optimismus bei Schaeffer, Wie sollen wir denn leben?, S. 141f.; bzw. die seines Erachtens grundlegenden Verschiebungen (unter der Überschrift „Der Zusammenbruch in Philosophie und Wissenschaft“, darunter v.a.: das Verständnis von Kausalität wechselt von einem offenen hin zu einem geschlossenen System; und: die Zuversicht, der Mensch könne zu gewisser Erkenntnis gelangen, weicht einer pessimistischen Haltung (S. 142–164).

[2] Metaphysik 993 a 30 bzw. 993 b 20 und 30.– Die meisten heutigen Versuche einer Bestimmung des Wahrheitsbegriffs folgen der entgegengesetzten Tendenz einer möglichst engen Bedeutung (L.Bruno Puntel, Art. Wahrheit, in: H. Krings [Hg.]: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Eine Selbstdarstellung der Philosophie der Gegenwart in ca. 150 Stichwörtern, interaktiv mit Volltextindex [CD], Berlin 22003).

[3] Descartes: Discours, 1637. Genaue bibliographische Angaben siehe Literaturverzeichnis am Ende.

[4] Zur Vorstellung einer „doppelten Wahrheit“ in Theologie und Philosophie vgl. Hägglund: Theologie und Philosophie; Sparn: Doppelte Wahrheit.

[5] Im Zentrum der Moderne steht, so Hartmut Rosa, „gleichsam als politisches, ethisches und kulturelles ‚Projekt der Moderne‘ die Idee der (individuellen und kollektiven) Autonomie des Menschen, die sich auch und gerade aus dem Anspruch auf Selbstbestimmung in Fragen der religiösen Überzeugung und Lebensführung entwickelt“ (Historischer Fortschritt, 119). Diese Idee gewinnt ihre kulturprägende Kraft u.a. durch die amerikanischen und französischen Deklarationen der Menschenrechte von 1776 und 1789 (aaO. 121).

[6] Nicht unbestritten; zur semantischen bzw. narratologischen Reflexion vgl. Koschorke: „Säkularisierung“ und „Wiederkehr der Religion“.

[7] Nietzsches „Das Individuum ist das Absolute“ setzt sich immer mehr durch.

[8] Rosa aaO. 127.

[9] Ganz neu ist das Problem freilich nicht, wie es überhaupt in der Philosophie nach Plato kaum wirklich Neues gibt. Schon Augustin konstatiert die willkürliche Wahrheitsauffassung bei seinen Gegnern, die meinten, sie könnten die Schrift auf ihre Weise auslegen.– Vielleicht kann man sagen: Neu ist, wie massiv und bestimmend das Problem in das öffentliche Bewußtsein bzw. in die Wahrnehmung der Gesellschaft getreten ist.

[10] Rosa aaO. 137.

[11] Vgl. Koschorke aaO.

[12] Vgl. Marquard: Lob des Polytheismus.

[13] Erst nach dem Halten dieses Vortrags las ich Francis Schaeffers „Wie können wir denn leben?“ und war überrascht, wie meine Lageanalyse hinsichtlich zunehmender Staatsmacht und zunehmenden Manipulationen durch kleine Eliten sich bereits vor 40 Jahren abzeichnete. Ein paar Zitate aus seinem Buch sind nachträglich hier eingefügt. Es ist hier freilich nicht möglich, Schaeffers Belege und seine geistes- und kulturgeschichtliche Ableitung nachzuzeichnen. Dennoch sei das Buch, das man zumindest Englisch („How should we then live?“) über Internet günstig beziehen kann, nachdrücklich empfohlen, vgl. auch den guten Rückblick von R. Albert Mohler unter https://www.thegospelcoalition.org/article/schaeffers-how-should-we-now-then-live-40-years-later/ (11.11.2017).– Schaeffer beschreibt zwar, wie seines Erachtens die Moderne ans Ende gelangt, gebraucht den Begriff „Postmoderne“ aber nicht.

[14] Von Lyotard schon für die Moderne befürchtet – und in den wirkmächtigen Kollektivismen (Nationalsozialismus und Kommunismus) auch wirksam geworden.

[15] Schaeffer, Wie können wir den leben, S. 35.

[16] Z.B. Entzug oder Einschränkung staatlicher Mitfinanzierung von Privatschulen, zuletzt in div. Kantonen der Schweiz im Herbst 2017.

[17] F. W. Graf, Art. Postmoderne I., Sp. 1511: „Die modernitätsspezifische Expansion von Selbstbestimmungspotentialen kann leicht in Terror umschlagen, aufs zweckrational ‚Instrumentelle‘ verengte Vernunft erzeugt nur abstrakte Unterdrückung gelebter Pluralität, und die pathosgeladenen ‚Kollektivsingulare‘ (Reinhart Koselleck) der Moderne wie Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Fortschritt etc. drohen die einzelnen ihres Rechts auf Individualität und Selbst- bzw., in Außenperspektiven, Anderssein zu berauben.“

[18] Entsprechende Zitatbelege finden sich in dem hervorragenden Faltblatt zum Marxismus, herausgegeben von Zukunft CH, Sonderausgabe Oktober 2017.

[19] Weisensee: Wertezerstörung.

[20] Quelle: Aufbruch. Zeitschrift des Gemeindehilfsbundes, Juni 2017, S. 7 (http://wwwneu.gemeindehilfsbund.de/fileadmin/Aufbruch/Aufbruch_Juni_2017.pdf, 07.11.2017).

[21] Vgl. hierzu Kuby, Sexuelle Revolution.

[22] http://www.freiewelt.net/nachricht/negerkoenig-ruft-die-schwedische-polizei-auf-den-plan-10072661/ (11.11.2017).

[23] Gracia: Innere Zensur.

[24] Zum ganzen Abschnitt: Rothen, Auf Sand gebaut.

[25] Vgl. Rothen, Auf Sand gebaut, 26; Parzany, Was nun, Kirche?.

[26] Schon Rousseau hatte das gefordert.– Ein mir bekannter Kirchenleiter sprach vom Prinzip der „bedingungslosen Akzeptanz“, die man an der Taufe lernen könne.

[27] Rothen: Auf Sand gebaut, 45.

[28] Vgl. aaO. 27ff.

[29] Ein Dank an Eckhard Hagedorn für den schönen, „redselig“ entgegengesetzten Begriff!

[30] Nestvogel 20f.

[31] Hierzu u.a. Rohrmoser, Kann die Moderne das Christentum überleben? Oder: Kann die Moderne ohne das Christentum überleben?.

[32] Ward, Art. Postmoderne II, Sp. 1516.

[33] Erotik, Sport, die „geilste“, längste oder schnellste Achterbahn …

[34] Drei biblische Gestalten sind hier Modell: Josef in Ägypten, Daniel in Babylon, Esther in Susa.

[35] AaO. 130.

[36] Vgl. Schaeffer, Preisgabe der Vernunft, 55.

[37] Mit Seubert gegen Hempelmann (s. Literaturverzeichnis).

Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 27. November 2017 um 13:40 und abgelegt unter Gemeinde, Kirche, Theologie.