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Linksausleger des Zeitgeistes oder die Umdeutung der Begriffe

Donnerstag 16. November 2017 von Junge Freiheit


Junge Freiheit

Die Schlacht ist geschlagen, die AfD sitzt im Bundestag. Landauf, landab wird noch immer gerätselt, was dazu geführt hat: Sind es soziale Gründe („die Abgehängten“)? Sind es kulturelle Probleme („die weltfremden Ossis“)? In Wahrheit dürfte es die nationale Frage sein – die Frage, wie Volk und Nation im Zeitalter der Globalisierung definiert werden. Dass korrekte Begriffe die Grundlage guten Regierens sind, wusste vor 2.500 Jahren schon Konfuzius. Als ihn der Fürst von We bat, die Staatsgeschäfte zu übernehmen, antwortete Konfuzius auf die Frage eines Schülers, was er denn zuerst in Angriff nehmen werde: „Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe.“ Seien nämlich die Begriffe nicht richtig, stimmten die Worte nicht; stimmten die Worte nicht, könnten keine Werke zustande kommen, und Moral und Kunst würden nicht gedeihen. Gediehen Kunst und Moral nicht, so träfen die Strafen nicht. Am Ende wisse das Volk nicht mehr, wie es sich zu verhalten habe. Der Edle, so Meister Kong, müsse daher als erstes die Unordnung der Begriffe beseitigen. Nur dann könnten aus seinen Worten entsprechende Taten werden.

Es lässt sich in der politischen Semantik seit Jahren eine Begriffsverwirrung feststellen, die aus der Um- und Neudefinition unumstrittener Tatbestände resultiert. Ein Beispiel aus dem Westdeutschland der siebziger Jahre war die Etikettierung der linksterroristischen „Rote-Armee-Fraktion“. Statt sie als kriminelle Mörderbande zu verurteilen, versuchten linke und linksliberale Sympathisantenkreise, die RAF als „Baader-Meinhof-Gruppe“ zu verharmlosen, deren Mitgliedern mancher sogar heimlich Unterschlupf gewährte. Ein Exempel aus der Gegenwart ist der sprachliche Umgang mit dem massenhaften Zustrom von Migranten aus dem arabischen und dem afrikanischen Raum. Von den Funktionsträgern in Politik und Medien werden sie nicht als illegale Einwanderer bezeichnet, was sie im Regelfall sind, sondern als Flüchtlinge und Schutzsuchende, um deren Aufnahme als Gebot humaner Moral erscheinen zu lassen. Die jüngste und in ihren möglichen Weiterungen nicht absehbare Umdeutung betrifft das Rechtsinstitut Ehe, das am 30. Juni im Parlament handstreichartig „für alle“ geöffnet wurde. Der Ehe-Begriff, so argumentierte nicht nur Bundesjustizminister Heiko Maas, sei entwicklungsoffen. Da er sich gewandelt habe und die Ehe heute die dauerhafte Lebensgemeinschaft zweier Menschen beliebigen Geschlechts sei, bedürfe es auch keiner Änderung der Verfassung. Schließlich stehe dort nirgendwo, dass nur Mann und Frau eine Ehe eingehen können. Somit werde Heterosexuellen durch die „Ehe für alle“ nichts weggenommen. Welch ein Irrtum! Welche Geistesverwirrung! Sollte das Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz die Ehe für alle öffnen, wird das zwar in Deutschland von staatsrechtlicher

Relevanz sein, vor dem Urteil der Vernunft aber dürfte das Einknicken vor dem Zeitgeist keinen Bestand haben. Analog zur Ehe ist in den letzten Jahren auch der Begriff Familie grundlegend neu interpretiert worden. Galt es seit alters her als selbstverständlich, dass Familie den Dreiklang Vater-Mutter-Kind(er) bedeutet, ist sie heute im Zuge der allseits propagierten Vielfalt der „Ort, wo Kinder sind und Menschen füreinander Verantwortung übernehmen“ – ob im Patchwork-Verbund, als Alleinerziehende oder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit zwei „Müttern“ oder zwei „Vätern“. Auch diese Umdeutung ist ein Produkt des Linksliberalismus, der sich aus hedonistischem Individualismus und linkem Egalitarismus speist.

Mit seinem moralisierenden Furor erinnert der Linksliberalismus an antike Vorbilder: Um 450 v. Chr. hatte sich aus der von Athen ausgehenden Aufklärung die Sophistik entwickelt, deren bedeutendster Stichwortgeber Protagoras war. Dessen berühmter, doch vielfach missdeuteter Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ mündete letzten Endes in einen schrankenlosen Relativismus der bis dahin geltenden Werthaltungen. Ist nämlich jeder einzelne das Maß der Dinge, die ja für alle Individuen in tausendfältiger Verschiedenheit erscheinen, so stellt sich die Frage, woher die Maßstäbe für richtig und falsch, für gut und schlecht genommen werden sollen, die das je Individuelle überwölben und für jeden verbindliche Normen begründen. Heutige Parolen wie „Es ist normal, anders zu sein“ und „Vielfalt statt Einfalt“ hätten auch die griechischen Sophisten formulieren können. In der Um- und Neudefinition der Begriffe Volk und Nation offenbart sich, worauf der in nahezu sämtlichen gesellschaftlichen Gruppierungen dominierende Linksliberalismus in letzter Konsequenz zielt: den Umbau Deutschlands in eine „bunte Republik“, in der die Autochthonen zur Minderheit unter Minderheiten werden. Sofern sie nicht von „Bevölkerung“ spricht, setzt Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Stelle des deutschen Volkes, dem sie sich in ihrem Amtseid verpflichtet hat, mittlerweile „jeden, der in diesem Land lebt“. Was damit gemeint ist, hatte Joachim Gauck in einem Interview mit dem Generalanzeiger vom 29. August 2015 in dankenswerter Klarheit ausgesprochen: Die Deutschen, so dozierte der damalige Bundespräsident, müssten sich vom Bild einer Nation lösen, die „sehr homogen ist, in der fast alle Menschen Deutsch als Muttersprache haben, überwiegend christlich sind und hellhäutig“.

Jetzt hat auch das Bundesverfassungsgericht, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, Abschied von Volk und Nation im herkömmlichen Sinn genommen. Im NPD-Urteil vom 17. Januar dieses Jahres gehen die Karlsruher Richter nicht mehr vom deutschen Volk als dem Souverän der Staatsmacht aus, sondern, wie der Jurist Thor von Waldstein aus dem Urteilstext zitiert (JF 24/17), von den „Freien und Gleichen – „unabhängig von der ethnischen Herkunft“. Der „ethnische Volksbegriff“, so die Richter, verlange die unbedingte Unterordnung der Person unter ein Kollektiv, eine Ideologie oder eine Religion, was unvereinbar sei mit dem an der Menschenwürde des Individuums orientierten Grundgesetz. Mit dieser Interpretation hat das oberste Gericht den auf Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert zurückgehenden Volksbegriff mit den völkischen Rasseprinzipien des Nationalsozialismus gleichgesetzt. Herder indes hatte die Völker als durch gemeinsame Abstammung, Geschichte und Kultur geprägte „Gedanken Gottes“ bezeichnet – eine zutiefst humanistische Idee, die sich in der Weimarer Klassik und im philosophischen Idealismus wiederfindet. Im Gegensatz zum NS-System haben die Verfechter dieses auch der bisherigen Verfassung zugrundeliegenden Volksbegriffs weder ethnische Reinheit gefordert, noch Völker als höher- oder niederstehend eingestuft. Unmissverständlich bekennen sich die Karlsruher Richter demgegenüber zu Multikulturalismus und Multiethnisierung Deutschlands, damit, wie es die Kolumnistin Carolin Emcke formuliert, aus dem nationalen Wir ein „globales Wir“ wird. Auch der Historiker Michael Wildt äußerte sich dazu. Zwar sei das nationale Volk nicht tot, „aber es hat sich überlebt“, schreibt er in seinem jüngsten, in der Hamburger Edition erschienenen Buch „Volk, Volksgemeinschaft, AfD“. Nun komme es allein darauf an, „uns als Menschen mit gleichen Rechten und gleicher Freiheit zu verstehen“. Schon vor Jahren haben Philosophen wie Jürgen Habermas das als Projekt der Postmoderne ausgegeben. Aus den einzelnen Bürgern sollen flexible Menschen werden – ohne nationale, ethnische, religiöse oder anderweitig störende Bindungen –, so dss sie sich überall heimisch fühlen in einer als Ende der Geschichte erträumten staats- und grenzenlosen „One World“.

Wer vor Überfremdung und Islamisierung warnt, muss sich in linksliberalen Feuilletons als Verschwörungstheoretiker abkanzeln lassen, der „irrlichterndes Gerede“ und „Umvolkungsmärchen“ verbreite, so Alex Rühle am 11. Juli in der Süddeutschen Zeitung. Menschen mit Vorbehalten gegenüber Fremden und Muslimen werden gar für geistig erkrankt erklärt, weil sich in ihrer angeblichen Xeno- und Islamophobie abnorme Ängste offenbarten. Umgekehrt ließen sich dann jene als „natiophob“ einstufen, weil bei ihnen das Volk offenbar ständig Zwangsneurosen auslöst. Doch wer einen vorurteilslosen Blick auf die zu erwartende Zukunft deutscher Großstädte werfen will, sollte das Melderegister der Stadt Frankfurt am Main zur Kenntnis nehmen: In der hessischen Metropole stellten im Jahr 2015 die Einwohner mit ausländischen Wurzeln mit 51,2 Prozent erstmals in einer bundesdeutschen Stadt die Mehrheit der Bürger. Bei den Kindern unter sechs Jahren hatten bereits drei von vier einen Migrationshintergrund. Anfang August dieses Jahres teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mit, in Deutschland lebten mittlerweile so viele Menschen mit Migrationshintergrund wie nie zuvor – es seien rund 18,6 Millionen und damit bereits mehr als jeder fünfte Einwohner (22,5 Prozent). Von ihnen sind 35 Prozent jünger als zwanzig Jahre, berichtete die Süddeutsche am 16. September. Auch durch den am 8. Oktober erzielten Asyl-Kompromiss der Unionsparteien wird die Veränderung Deutschlands weder beendet noch verzögert, sondern forciert: Bei Ausschöpfung einer jährlichen Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen, die jeweils (mindestens) zwei nahe Angehörige nachholen dürften, werden in jedem Jahrzehnt sechs Millionen Kulturfremde ins Land strömen.

Dass dieser demographische Wandel – vor Jahren in Gang gesetzt ohne Parlamentsbeschluss oder Referendum, mithin ohne Legitimation durch den Souverän – ein „Umvolkungsmärchen“ sei, können nur jene behaupten, deren Ignoranz in Wahrheit den schleichenden Prozess beschleunigen soll. Somit ist die Richtigstellung der Begriffe der entscheidende Schritt, um im Kampf um die Diskurshoheit jene geistig-moralische Wende herbeizuführen, die Helmut Kohl 1982 versprochen hatte, unter seiner Nachfolgerin aber ins Gegenteil verkehrt wurde.

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung.

Quelle: Junge Freiheit, Nr. 43 /17 | 20. Oktober 2017

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 16. November 2017 um 12:22 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.