Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Anspruch und Zuspruch in der Verkündigung des Wortes Gottes

Dienstag 22. April 2008 von Pfr. Dr. Tobias Eißler


Pfr. Dr. Tobias Eißler

Anspruch und Zuspruch in der Verkündigung des Wortes Gottes

Den Losungsvers dieses Tages kann man als interessante Hinführung zu unserem Thema hören. Ps 119,64: „HERR, die Erde ist voll deiner Güte; lehre mich deine Gebote.“ Der Psalmist versteht es offenbar als Zeichen der Güte Gottes, daß Gott ihn seine Gebote lehrt und ihm den guten Lebensweg aufzeigt. Das orientierende Wort Gottes, wie es insbesondere in den zehn Geboten vorliegt, betrachtet er als hilfreich und heilsam. Doch wird der Beter die Gebote Gottes wirklich einhalten können? Was geschieht, wenn er sie übertritt und bricht? Was hat Gott dem Menschen zu sagen, der sein Scheitern an den Geboten einsehen muß? In der Bibel begegnet uns Gottes Wort einerseits als Anspruch: der, der uns das Leben gab, meldet einen Herrschaftsanspruch über unsere Existenz und Lebensgestaltung an. Er verlangt, daß wir seinen klugen Leitlinien folgen. Andererseits begegnet uns Gottes Wort als Zuspruch: der, der unsere Unfähigkeit erkennt, die gerade, göttliche Lebenslinie einzuhalten, erbarmt sich über uns und spricht uns frei von unserer Sünde. Klassisch formuliert: das Wort Gottes begegnet uns als Gesetz und Evangelium.

In einem ersten Teil möchte ich etwas Grundsätzliches sagen über die Unterscheidung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium, und dabei Überlegungen der Dogmatiker Edmund Schlink und Hans Joachim Iwand zu Gehör bringen. In einem zweiten Teil möchte ich an einer Lutherpredigt exemplarisch aufzeigen, wie der Reformator zum Evangelium und zum neuen Gehorsam hinführt. In einem dritten Teil will ich Beobachtungen zu Predigten von heute zusammentragen und ihre Tendenzen und Probleme in einem Fazit zusammenfassen.

1.1 Gottes Anspruch und Zuspruch in der Heiligen Schrift, nach Edmund Schlink

In seiner sogenannten ökumenischen Dogmatik aus dem Jahr 1983 teilt der lutherisch geprägte Theologe Schlink die Beobachtung mit, daß dieses Hauptthema der Reformation, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, in manchen Lehrbüchern und in manchen Kirchen wenig Beachtung gefunden hat. In Schlinks Lehrbuch findet es jedenfalls Beachtung. Und zwar so, daß zunächst einmal festgestellt wird: Paulus kann das ganze Alte Testament unter dem Stichwort „Gesetz“ zusammenfassen. Wir denken zunächst an die Gebote und Verordnungen des Alten Testaments. Im AT begegnet uns das Wort Gottes eher als Anspruch auf unser Leben. Im Neuen Testament lesen wir das Evangelium vom Gekreuzigten. Wir hören den Freispruch für unser verschuldetes Leben. AT und NT stehen sich, grob gesprochen, wie Gottes Anspruch und Zuspruch gegenüber.

Aber freilich muß man genauer differenzieren. Denn im AT findet sich neben der Forderung des Gesetzes auch die tröstliche Anrede Gottes an sein Volk, sein Wort von der Erwählung und der Liebe und all die wunderbaren Verheißungen. Und das NT besteht nicht nur aus dem Evangelium, das entlastet und befreit, sondern auch aus der Mahnung, das neue Leben nach dem Gebot des Herrn zu gestalten. Also in beiden Testamenten: Zuspruch und Anspruch. Ja, wir entdecken im AT sogar das Evangelium, weil wir als Christen das, was vom kommenden Messias und Gottesknecht angekündigt wurde, im Lichte seiner Ankunft und seiner Kreuzestat lesen. So wird z.B. Jes 53 leuchtendes Evangelium vom Lebensopfer unseres Herrn. Umgekehrt stoßen wir im NT sogar auf hartes Gesetz; so bezeichnet Schlink jedenfalls die Tatsache, daß Paulus das Jüngste Gericht nicht nur der Welt, sondern auch der Gemeinde ankündigt, z.B. in 2.Kor 5,10. Die Mahnung an die Christen steigert sich zur ernsten Warnung vor dem letzten Verworfenwerden.

Das Wort Gottes erschreckt, zieht uns den Boden unter den Füßen weg – und das Wort Gottes sagt uns die Rettung zu, gibt uns unter dem Kreuz Jesu festen Boden unter die Füße. Wegen dieser zwei unterschiedlicher Wirkungen spricht Schlink sogar von zwei unterschiedlichen Worten Gottes. Sie sind so verschieden, erklärt er, wie das, was der richtende Christus in Mt 25 sagt: den einen „Kommt her, ihr Gesegneten, des Vaters“, den anderen „Geht weg von mir, ihr Verfluchten“. Am Ende treten Gesetzeswort und Evangeliumswort so auseinander, daß wir nur noch eines von beiden hören. Jetzt aber hören wir, überall dort, wo die Schrift ausgelegt wird, sowohl das Gesetzeswort als auch das Evangeliumswort. Das ist wichtig und nötig, weil Gott es so vorgesehen hat, daß wir beides hören. Beide Worte sind geistlich und heilsam. Aber dennoch stehen sie nicht einfach gleichwertig nebeneinander. Denn Gottes eigentliches Wort an uns ist das Evangelium. „Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde, selig werde.“ (Joh 3,17) Gerettet werden wir einzig und allein durch den Zuspruch der Gnade in Christus. Damit wir diese Gnade verstehen und ergreifen, treibt uns das Wort des Gesetzes zum Evangelium hin. Das Gesetz zeigt uns, daß wir vor Gott nicht bestehen können. Das Evangelium sagt uns zu, daß wir Gott dadurch bestehen, daß Christus für uns einsteht und uns deckt.

Diese erlösende Gewissheit ist immer wieder der Anfechtung ausgesetzt, die dann entsteht, wenn auch der Christ sich als gerichtswürdiger Sünder erkennt. Diese Gerichtswürdigkeit soll er offen zugeben und zu Christus fliehen, der ihn aus dem verdienten Gericht rettet. Wir sollen täglich eilen, so drückt es Schlink aus, von Gottes Zorn zu Gottes Liebe, von Gottes Nein zu Gottes Ja. Diese heilsame Bewegung des Glaubens wird durch die Spannung zwischen den Polen Gesetz und Evangelium ausgelöst.

Deshalb, so folgert Schlink, darf die Kirche erstens das Evangelium nicht isolieren, indem das Gesetz verleugnet wird. Ohne Gesetz wird undeutlich, warum wir Evangelium brauchen. Zweitens darf die Kirche auch das Gesetz nicht isolieren, indem sie vom Erbarmen Gottes schweigt. Ohne Evangelium gibt es keine Hoffnung für uns. Drittens darf die Kirche Gesetz und Evangelium nicht gleichsetzen oder vermischen, sondern muß den Fluchtweg zum eigentlichen Wort Gottes, dem erlösenden Wort, aufzeigen.

Damit haben wir drei Testfragen für Predigten für heute:

Wird deutlich, was Gott fordert?

Wird deutlich, daß wir überfordert sind, und deshalb ganz und gar auf Christus angewiesen, der Gottes Forderung erfüllt?

Wird deutlich, daß Glaube ein Sich-Zubewegen und Gedecktwerden durch Christus ist, nicht ein Bestehenkönnen vor Gott durch das relativ gut gestaltete Leben?

1.2 Gottes Anspruch und Zuspruch in der Verkündigung
nach Hans Joachim Iwand

Dasselbe Anliegen wie Schlink, nämlich Gesetz und Evangelium zu unterscheiden, ohne beides zu scheiden und auseinanderzureißen, spielt auch bei Hans Joachim Iwand eine große Rolle. So arbeitet es Pfr. Ralph Meier in seiner Dissertation „Gesetz und Evangelium bei Hans Joachim Iwand“ aus dem Jahr 1995 heraus. Es geht nicht einfach um ein Stück Lehre, sondern um ein Handeln Gottes am Menschen, der ihn durch den Heiligen Geist zum Kreuz Jesu hinführt. Dieses Handeln wird verdrängt und verhindert, wenn Lehre und Verkündigung in die Einseitigkeit von Nomismus oder Antinomismus verfallen. Als Nomismus, Gesetzlichkeit, lässt sich die Fehlentwicklung der katholischen Lehre insgesamt und auch des Protestantismus im 19. Jahrhundert bezeichnen, der die sittliche Persönlichkeit und das sittlich gute Handeln ins Mittelpunkt seines Denkens stellt. Letztlich kommt es dann auf die Leistung des frommen Menschen an. Antinomismus, Flucht vor dem Gesetz, wird von Iwand als speziell evangelisches Problem beschrieben; man lehnt die Gesetzespredigt ab. Stattdessen entfaltet man das Evangelium nicht nur als freisprechendes, sondern auch als überführendes Gotteswort; somit verliert es seine tröstende, gewissmachende Eindeutigkeit. Um dieser Eindeutigkeit willen ist die Gesetzespredigt nötig, betont Iwand.

Ebenso wie Schlink unterstreicht er neben dem ersten Gebrauch des Gesetzes, dem überführenden Gebrauch, auch den dritten Gebrauch, den tertius usus legis: für den Christen wird das, was Gott fordert und anordnet, zum guten Gebot, das ihm den guten Weg weist. Durch die Kraft des Heiligen Geistes kommt es zu richtigen Schritten auf Gottes Weg, auch wenn es immer anfängerhafte, unvollkommene Schritte bleiben.

Im Blick auf die Predigt ist es Iwand deshalb einerseits wichtig, daß das Gesetz in seiner ganzen Tiefe und Schärfe herausgearbeitet wird. Gesetzlich nennt er die Predigt, die dem Menschen nur moralische Befehle vorhält, die er aus eigener Kraft erfüllen soll. Andererseits braucht der Christ die Wegweisung, die ihm den Willen Gottes für ein erneuertes, geheiligtes Leben aufzeigt.

An dieser Stelle verweist der Iwand-Forscher Ralph Meier auf den Buchtitel „Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart“, eine Untersuchung des Göttinger Praktologen Manfred Josuttis aus dem Jahr 1966. Nach der Durchsicht von fast 1000 Predigten stellte Josuttis damals fest: „Die Gesetzlichkeit in der gegenwärtigen Predigt gründet in der mangelnden Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sowie in der mangelnden Predigt des Gesetzes.“ Hat sich diese Tendenz fortgesetzt, Gottes Anspruch zu verschweigen oder ihn in einer unglücklichen Weise mit Gottes Zuspruch zu verknüpfen, so daß dieser Zuspruch nicht mehr klar und befreiend wirkt?

2. Wie Martin Luther zum Evangelium und zum neuen Gehorsam hinführt

Wenn man in die Suchmaschine von Web.de das Suchwort „Predigt“ eingibt, ergeben sich 106.000 Treffer. Die Anzahl der gedruckten und online einsehbaren Predigten ist unübersehbar, eine Auswahl, die als repräsentativ gelten kann, unmöglich. Ich habe zu einer CD-ROM gegriffen, die die Deutsche Bibelgesellschaft 2006 herausgegeben hat: eine Sammlung von 2000 Predigten; über die Kriterien der Zusammenstellung fand ich keine Angaben, wohl deshalb, weil auch hier der Zufall eine große Rolle spielte. Diese digitale Predigtsammlung beinhaltet neben zeitgenössischen Predigten vom Anfang der 2000er Jahre einige Lutherpredigten, darunter auch eine Auslegung von Mt 5,20-26. Dieser Text, leider ohne Jahresangabe und Quellennachweis, ist für unser Thema hochinteressant.

„Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, das Gesetz und die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen“, erklärt Jesus am Beginn der Bergpredigt. Es folgt seine berühmte, radikale Auslegung des 5. Gebotes vom Nicht-Töten, die dem alttestamentlichen Gotteswort keineswegs antithetisch, widersprechend gegenübersteht, wie immer wieder behauptet wird, sondern es kongenial, vertiefend zur Geltung bringt.

Wie vermittelt nun Luther dem Zuhörer den Anspruch und Zuspruch Gottes? Er setzt bei der Forderung von Jesus ein: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Sie führten ein feines, züchtiges, ordentliches Leben, die Pharisäer, und das ist recht; das erwartet Gott von uns, unterstreicht Luther. Nur bildeten sich die Pharisäer ein, diese äußerliche Ehrbarkeit und Anständigkeit mache sie fromm und gerecht vor Gott, „als hätte das Gesetz keine Anklage gegen sie“. Gott will aber nicht nur äußerliche Ehrbarkeit und Anständigkeit sehen, sondern er will „ein neues, reines Herz haben“, so bringt Luther den viel tiefer reichenden Anspruch Gottes auf den Punkt. Durch die Auslegung des 5. Gebotes zeigt Jesus auf, daß nicht nur der Zorn, der mit der Faust dreinschlägt, Sünde ist, sondern auch der Zorn im Herzen. Das Herz quillt über von Sünde und bösen Lüsten, auch bei dem, der sich selbst beherrscht. Gerade der Anständige, der das Gebot äußerlich erfüllt, hüte sich davor, sich für fromm zu halten und sich freien Zugang zum Himmel zu versprechen, warnt Luther. Denn eben diese Pharisäergerechtigkeit genügt nicht; der Zugang zum Himmel ist für diesen zwiespältigen Menschen verschlossen.

Wie sieht die bessere Gerechtigkeit aus, die Jesus verlangt? Wenn Hand und Herz gleichermaßen „fromm und nach Gottes Wort gerichtet sind“; wenn das Herz „ohne alle böse Lust und Begierde“ ist. „Also ist es in allen Geboten; denn solches fordert das Gesetz.“ Luther richtet die Forderung des Gesetzes so klar und so steil auf, daß jedermann daran verzweifeln muß. „Wo findet man ein solches Herz“, das Gott gefällt, fragt der Reformator. Antwort: „Ich finde es in mir nicht, du in dir auch nicht.“ Deshalb muß man sich neben dem Guten, das man tut, vor Gott demütigen und sprechen: „Lieber Herr, ich bin ein armer Sünder, sei du mir gnädig, und richte mich nicht nach meinen Werken, sondern nach deiner Gnade und Barmherzigkeit, die du in Christus uns verheißen und geleistet hast.“ Auch dieses Gebet befreit das menschliche Herz nicht wirklich von Sünde und böser Lust, aber: um Christi willen rechnet Gott keine Schuld mehr zu. Der Mensch entkommt also der Gesetzesforderung allein durch die Gerechtigkeit Jesu, nicht durch seine eigene Reinheit oder Lebensveränderung. Das ist Evangelium, befreiende Zusage.

Direkt anschließend weist Luther auf „die Frucht des Glaubens“ hin, „daß wir durch die Hilfe des Hl. Geistes anfangen, fromm zu sein und Gott seinen Gehorsam zu leisten“, obwohl es ein unvollkommener Gehorsam bleibt. Deshalb bleibt der Christ immer angewiesen auf die Vergebung, von seinem Tauftag bis zu seinem Todestag. „Wer sich nun so in den zehn Geboten übte, meinst du nicht, er würde nicht jede Stunde Ursache haben, seine Sünde zu beichten, zu beten und sich im Glauben und Wort zu üben?“

Luther macht zuerst die Gesetzesforderung groß und unentrinnbar. Dann führt er die Fluchtbewegung zu Christus vor, die sich vollzieht in Ehrlichkeit, Reue und Demut. Die Rettung vor der Gesetzesforderung wird verwirklicht durch den gnädigen, gerechten Christus, bis zum letzten Atemzug des sündenbehafteten Christen. Unter dem Vorzeichen der Gnade hat das Gebot aber nicht nur eine anklagende, sondern auch eine hilfreiche, wegweisende Funktion für den Gläubigen. Was bei Luther auffällt, ist die Radikalität, mit dem er den Menschen bis in die letzte Faser seines Herzens hinein dem Anspruch Gottes förmlich ausliefert. Ebenso umfassend und total fällt dann der Zuspruch des Evangeliums aus, das den Menschen gottversöhnt und himmelswürdig macht. Dieser Gottversöhnte und Himmelswürdige wird allerdings in einer ziemlich kräftig „zupackenden Seelsorge“ mit allem Ernst zur Versöhnung mit dem Bruder und zur Nächstenliebe vermahnt.

3. Wie Gottes Anspruch und Zuspruch heute gepredigt wird

3.1 Die zehn Gebote

Pfarrer Manfred Günther aus Mücke ist nicht nur im Internet mit vielen Predigten präsent, sondern auch auf der CD-ROM der Bibelgesellschaft. In seiner Predigt über 2. Mose 20 setzt er ein mit der Überlegung, daß die zehn Gebote zwar von vielen für richtig und wichtig gehalten werden, daß aber die meisten sich nicht danach richten. Wie einen Spiegel hält er die zehn Gebote Menschen von heute als Anfrage vor: „Ist Gott wirklich der Herr in unseren modernen Gesellschaft? Haben sich nicht viele Götzen breitgemacht?“ Am Feiertag versammeln sich nur wenige Prozent der Kirchenmitgliedern zum Gottesdienst, die gealterten Eltern werden lieblos ins Altenheim abgeschoben; auch unter Christen wird mit Worten getötet, die Ehe gebrochen und die Wahrheit verschleiert. Pfarrer Günther erklärt, daß er nun gerade den erhobenen Zeigefinger vermeiden will, sondern zunächst die Bezogenheit der Gebote auf Gottes Güte verdeutlichen. Gott hat uns nicht nur aus Ägypten befreit, wie es im ersten Gebot heißt, sondern in Christus seine befreiende Gnade zuteilwerden lassen. Aus Dankbarkeit für diese Gnadentat sollen wir nun gerne Gottes guten Willen leben, z.B. am Feiertag Gottes Wort suchen; und den gealterten Eltern Liebe schenken. Die Gebote „schmälern nicht unser Glück“, sondern „befreien uns zum Einklang mit Gott und den Menschen“, also: befördern unser Glück. Deshalb sollten sich die Predighörer prüfen, ob sie sich an den scheinbar wohlbekannten Geboten wirklich orientieren.

Kollege Günther lässt den Herrschaftsanspruch Gottes auf unser ganzes Leben schlaglichtartig hervortreten und macht sich zum Sprachrohr von Gottes Kritik an unseren Fehlwegen. Daß wir gerade wegen dieser Fehlwege existentiell auf die Gnade angewiesen sind, wird nicht so recht deutlich. Der Prediger vermeidet es, die zehn Gebote im Sinne einer radikalen Anklage gegen das menschliche Herz zu profilieren, wie Jesus es in der Bergpredigt tut. Aber das Evangelium, dem gewissermaßen der Vorrang vor dem Gesetz eingeräumt wird, leuchtet freundlich auf. Gottes Freundlichkeit soll uns zum neuen Gehorsam motivieren.

Es scheint vielen Predigern nicht schwerzufallen, Menschen den guten Sinn der Lebensregeln, wie in der zweiten Tafel der Gebote aufgeführt, nahezubringen; auch den Anspruch Gottes nach dem 1. Gebot, in unserem Leben an erster Stelle zu stehen. So mein Eindruck nach einer kleinen Umschau zu diesem Text.

Daß die feministische Theologie zu einer schablonenhaften, verzerrenden Betrachtungsweise führt, zeigt die Predigtvorbereitung einer Pfarrerin Petra Bahr in den Calwer Predigthilfen: es geht ihr ausschließlich um das Bilderverbot, daß sie als Verbot auslegt, Gott überhaupt begrifflich festzulegen in der theologischen Lehre, und als Anstoß, neben den männlichen mehr die weiblichen Gottesbilder wie „Amme“ und „Mutter“ zu berücksichtigen.

Ein badischer Pfarrvikar Stefan Kammerer polemisiert gegen die deuteronomistischen Autoren der zehn Gebote, die einen Gott konstruieren, „der die Missetat der Väter heimsucht“ bis in die dritte und vierte Generation; dieses Eifern und Strafen Gottes widerspreche dem Gebot „Du sollst nicht töten“, meint er. Nach der Weisheit von Lessings Ringparabel sollte jede Religion, gleich welche, „eine motivierende Kraft zum Guten sein“. Damit wird freilich der Einzigartigkeitsanspruch Gottes nach dem ersten Gebot verfehlt.

Zufällig begegnete ich also zwei Strömungen, die eine sachgemäße Textauslegung behindern: dem Feminismus und einer historisch-kritischen Theologie, die sich auf scheinbare Widersprüche im Text fixiert.

3.2 Jesu Stellung zum Gesetz

Weil wir vorher Luthers Auslegung von Mt 5,17ff, der Stellungnahme Jesu zu den AT-Schriften und den Geboten, gehört haben, ist ein Blick auf die Predigthilfe des württembergischen Pfarrers Dr. Thomas Knöppler interessant. Der Ausspruch Jesu, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, könne ebenso wie die folgenden drei Verse vom Halten der Gebote und der besseren Gerechtigkeit unmöglich von Jesus stammen, stellt er fest. Solche Treue zum AT und zu den Geboten seien typisch für gesetzestreue Judenchristen, die als Verfasser anzunehmen seien. Sie gerieten freilich in einen völligen Gegensatz zu der Lehre des Apostels Paulus, der von Christus als Ende des Gesetzes gesprochen habe (Rö 10,4). Für Christen sei Treue gegenüber dem Gesetz eben kein Weg zum Erlangen der Gerechtigkeit und zum Eingehen ins Himmelreich, sondern nur der Glaube, wie uns Paulus und die Reformatoren beigebracht hätten. Folglich habe der Text Mt 5,17-20 für uns nur noch Vergangenheitswert; er sei als Predigttext eigentlich ungeeignet; er könne uns höchstens ermutigen, für Gottes aktuellen Willen für die Welt von heute einzutreten.

Hier kann man beobachten, wie die Anmaßung der historischen Kritik, über die Echtheit von Jesusworten zu entscheiden, ein offenes, wirkliches Nachdenken über die uns gegebenen Jesusworte verhindert. Die Überlegung, daß Jesus mit der „Erfüllung des Gesetzes und der Propheten“ zunächst einmal auf die Erfüllung der Messiasankündigung hinweist, kommt gar nicht in den Blick. Unverstanden bleibt, daß Jesus uns Christen mit der Bergpredigt gerade nicht mehr auf speziell jüdische Gesetze verpflichtet, sehr wohl aber zum Halten der klassischen Gebote anleitet. Jesus behauptet in Mt 5 aber nicht, daß wir durch das Halten der Gebote gerecht und selig würden. Die Bergpredigt, die uns den Willen Gottes, daß wir Nächstenliebe praktisch leben, einsichtig und groß macht, führt uns zum Kreuz Jesu hin, das uns von der Schuld unserer Lieblosigkeit erlöst.

Diese Bewegung fehlt bei Knöppler, und zwar m.E. wegen einer antinomistischen Scheu vor der Gesetzestreue von Jesus. Der moderne Christ schreckt davor zurück, sich allzu konkret mit der Anleitung Gottes zum Leben auseinanderzusetzen. Das stört seine locker-liberale Lebenshaltung. Weil der Anspruch Gottes verdrängt wird, verliert auch der Zuspruch der Kreuzesbotschaft an Bedeutung.

Seltsam, wie sie auch in einer Predigtvorbereitung von Helmut Mödritzer verfehlt wird, die das Gebot der Feindesliebe in Mt 5,44 behandelt. „Wir bleiben wohl meist hinter den Forderungen Jesu zurück“, heißt es da, aber wir sollten uns von ihnen anspornen lassen; und im übrigen wissen, wovon wir leben: „von der Güte Gottes, der seine Sonne scheinen lässt über Böse und Gute gleichermaßen“. An die Stelle der teuren Gnade des Gekreuzigten für den Gläubigen tritt eine billige Gnade des Gottes, der mit allen fehlerhaften Menschen gleich locker und freundlich umgeht.

3.3 Jesus und die Ehebrecherin

Die Perikope Joh 8,3-11 ist für unser Thema deshalb interessant, weil hier Gottes Anspruch und Zuspruch, Gesetz und Evangelium sozusagen auf engtem Raum zusammentreffen: Gottes Gesetz des Alten Testaments verurteilt die Ehebrecherin zu Tode, aber Jesus Christus hat die Vollmacht, sie freizusprechen und ihr einen Neuanfang mit dem guten Gebot Gottes zu schenken: „So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“

Weil Ehebruch und Ehescheidung heute gang und gäbe sind, tun sich manche Prediger offenbar schwer damit, diese Norm Gottes von der ehelichen Treue festzuhalten. Pfarrer Kai Scheiding predigt in Rödinghausen bei Bielefeld: das Problem der Pharisäer sei, daß sie sich allzu sehr an die alttestamentliche Schrift halten. „Wer es mit dem AT zu genau nimmt, sieht schnell nur noch das Gesetz und den Richter. Und dann werden bald religiöse Dogmen wichtiger als Menschen. Alttestamentlicher Fundamentalismus lässt noch heute in Israel die Steine fliegen.“ Eine aktuelles Problem, die mit Gottes gutem Ehegebot absolut nichts zu tun hat! Der Buchstabe tötet, fährt Scheiding fort. „Jesus lehrt uns einen Gott, der die Menschen liebt.“ Also „hat sich das Gesetz des AT an dieser Stelle selbst disqualifiziert“. „Es repräsentiert hier nicht den Willen und das Wesen Gottes, weil es nur den Richter, nicht aber den liebenden Vater zeigt. Und so kann man sein Verhalten anderen gegenüber nicht allein dadurch rechtfertigen, daß man auf Bibelstellen verweist, wie es die Pharisäer und manche Pietkongs unserer Tage tun. Spiegelt eine Bibelstelle nicht die Liebe Gottes zu den Menschen wieder, dann ist Verweigerung Christenpflicht.“ Zitat Ende. Wegen dem Ja Gottes zum Menschen aus Römer 8,31 steht fest, daß kein Mensch für Gott zu schlecht ist. Allerdings hält der Prediger dann doch fest, daß Ehebruch falsch ist und daß uns Gott kritisieren darf. Was Jesus uns beibringen wolle, sei, jeden Menschen als geliebt anzunehmen, wenn auch Kritik an seinem Verhalten angebracht sei, und uns überhaupt mit Urteilen über andere zurückzuhalten.

Diese Predigt lässt als grundsätzliches Problem das Verständnis des AT erkennen. Das AT erscheint in dunklen Farben als Buch des lieblosen Gottes und des tötenden Gesetzesbuchstabens. Das muß man sich unter allen Umständen vom Leibe halten! Und zwar durch das allgemeingültige, immer wahre Evangelium, daß Gott Ja zum Menschen sagt. Punkt. Diese Schwarz-Weiß-Malerei und starre Vereinfachung ersetzt die konkrete Anrede Gottes an den Sünder im Gebot, das ihm tatsächlich zum tötenden Gesetz wird: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Genauso verdrängt: die konkrete Anrede Jesu an den Sünder, die Sünde vergibt und den Neuanfang auf dem rechten Weg ehelicher Treue mit Gottes Hilfe ermöglicht.

Der Abschnitt Joh 8,3-11 wird, so weit ich sehe, auch in anderen Predigten gerne genutzt, um die Anklage des Gesetzes, die dem Sünder, konkret: dem Ehebrecher den Tod ansagt, grundsätzlich in Frage zu stellen.

3.4 Der Ruf zur Umkehr

Als Korrektiv gegenüber einem verkürzten und verflachten Evangelium nach dem Motto „Gott sagt Ja zum jedem“ müssten z.B. die Texte wirken, in denen Jesus den Sünder zur Umkehr ruft. Als Jesus gefragt wird, ob nur wenige selig werden, antwortet er: „Ringt darum, daß ihr durch die enge Pforte hineingeht; denn viele, das sage ich euch, werden danach trachten, wie sie hineinkommen, und werden’s nicht können.“ (Lk 13,24) Der Fragende wird hier nicht mit einer pauschalen, platten Ja-Botschaft beruhigt, sondern im Gegenteil beunruhigt durch die Herausforderung, sich mit aller Kraft nach dem Erlöser auszustrecken.

EKD-Pfarrer Udo Hahn merkt in seiner Textbesprechung richtig an, daß Prediger nicht immer nur sagen dürfen: „Jeder Mensch ist von Gott angenommen“. Die Pointe der Verkündigung Jesu sei doch: „Gott traut einem jeden zu, auch ein anderer zu werden … umzukehren.“ „Nur wer den Akt des Glaubens wagt, sich auf das Angebot der Umkehr einlässt, ist derjenige, der … durch die enge Pforte hineingeht“, schreibt Hahn. Die Herausforderung zur Umkehr stellt offenbar auch so einen der Anspruch Gottes dar, mit denen sich Prediger von heute schwertun.

Exemplarisch wird das deutlich in einer Predigt von Pfarrer Lass-Adelmann aus Calw-Hirsau über Hesekiel 3,17 : „Wenn ich dem Gottlosen sage: Du mußt des Todes sterben! Und du warnst ihn nicht und sagst es ihm nicht, … so wird der Gottlose um seiner Sünde willen sterben.“ Auslegung: „Wer heute so predigen würde wie der Prophet Hesekiel, hätte seine Kirche wohl bald leer gepredigt. Wer sich heute anmaßen würde, dem Gottlosen mit dem Tode zu drohen, der würde schnell als überheblich und selbstgerecht gelten – und das zu Recht. Ich bin nicht Hesekiel und habe – Gott sei Dank – nicht seinen Auftrag.“

Der Prediger lehnt den Auftrag zum Bußruf, der ihm in dem auszulegenden Schriftwort auferlegt wird, direkt ab. Der geistliche und ewige Tod als Folge einer unbußfertigen Lebenshaltung scheint ihm ein reichlich fernliegender Gedanke zu sein. Stattdessen will er lieber den Anlass des Reformationsfestes nutzen, um der Gesellschaft ein deutliches Wort „gegen das Diktat von Leistung und Effizienz“ zu sagen. Das geistliche Anliegen der Reformatoren wird ersetzt durch das Eintreten für eine humanere Arbeitskultur, ohne Anhalt am Text. Statt Gesetz und Evangelium hört das Gemeindeglied einen Appell für mehr Menschlichkeit. Tragischerweise gerät der Verkündiger unter die todernste Drohung des von ihm vorgelesenen Wortes Gottes: „Wenn du den Gottlosen nicht warnst, so wird er um seiner Sünde willen sterben, aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern.“

3.5 Das Evangelium von der Rechtfertigung

Ganz anders geht der schon erwähnte Pfarrer Manfred Günther mit Gottes Bußruf um, als er am Buß- und Bettag Rö 2,4 auslegt: „Weißt du nicht, daß dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ Kollege Günther kennt die innere Ausweichbewegung des Hörers: „Wir wollen uns nämlich nicht ‚persönlich’ ansprechen lassen! Da sind immer andere, ‚die haben doch auch, …die hätten noch mehr nötig’“. Solche Entschuldigungstaktik sei nicht christlich und biblisch. Weil Christus unsere Sünde trägt, können wir Ja zur eigenen Sünde sagen, in dem Sinne, daß wir sie als unsere eigene erkennen und nicht wegschieben. Gerade die schuldige Ehebrecherin, gerade der schuldige Zachäus, gerade der schuldige verlorene Sohn haben Vergebung erfahren. Genauso werden wir als Christen, die eigene Schuld bekennen, Vergebung empfangen. Schlicht und ergreifend stellt der Prediger die unleugbare Schuld vor, die im Gericht Gottes nach den Werken, wie in Rö 2,5f angekündigt, verhängnisvolle Folgen hätte. Ebenso schlicht und schön wird das Entlastende und Erlösende der Vergebung Jesu vermittelt. Der entscheidende Zuspruch Gottes „Dir sind deine Sünden vergeben“ kommt beim Hörer an. Es vollzieht sich die Rechtfertigung des Sünders, die Paulus in nicht ganz einfach zu verstehenden Worten klassisch entfaltet in Rö 3,21-31.

Dazu lassen sich textgemäße Auslegungen finden wie diejenige des Theologen Günther Krusche, der entscheidende Pointen textgemäß herausarbeitet: Es geht Paulus nicht um eine Polemik gegen das Gesetz, sondern um die Bestreitung der jüdischen Ansicht, daß der Mensch durch sein Tun vor Gott gerecht werden könnte. Durch Christus wird unsere Annahme bei Gott möglich, obwohl wir „allesamt Sünder“ sind. Wer die Antwort des Glaubens verweigert, bleibt unter dem Zorn Gottes.

Heutige Verständnisprobleme mit diesem Kerntext der Reformation treten dagegen in einem Bericht aus einem ökumenischen Gesprächskreis zutage, wo niemand etwas mit dem Text anfangen kann. Wenn Glauben doch heißt: die Gebote halten, wie kann dann Paulus das Gesetz so zurückstellen und als Heilsweg ablehnen? Jeder werde durch „das Gesetz seiner Zeit“ eingeengt, erklärt Pfarrer Dieter Schrupp, „das tut man, das tut man nicht“. Davon dürfe man sich befreien. Es könne nicht darum gehen, den Menschen niederzumachen nach dem Motto „Du bist ein schlechter Mensch“ oder ihm noch existentielle Angst einzujagen, wie die katholische Kirche das praktiziere. Vielmehr brauche jeder Mensch einen Mitmenschen, der ihm vertraut und nichts nachträgt, weil schließlich jeder ein Sünder, also fehlerbehaftet sei. Schließlich lasse auch Gott seine Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen, d.h. er akzeptiere jeden.

Ein Beispiel dafür, daß ein evangelischer Theologe nichts mehr von Gesetz und Evangelium versteht oder nicht verstehen will.

3.6 Der Gerichtshorizont

Das Evangelium von der Rechtfertigung entfaltet Paulus in der Erwartung des Jüngsten Gerichts. Jesus Christus ist gerade deshalb der einzig sichere Retter für uns, weil er als Richter der Menschheit auch unser Richter ist. Daß Gott am Ende Rechenschaft fordert von seinen Geschöpfen, möchte kein Mensch gerne hören.

Auch Pastor Diemo Rollert aus Ahrbergen empfindet das und erklärt, im Gleichnis vom Weltgericht Mt 25,31-46 gehe es nicht um die Ankündigung eines Zukunftsgeschehens. Jesus versuche mit diesem Gleichnis vielmehr, unser Leben hier und heute zu verändern, es menschlicher und liebevoller zu machen. Jesus predige nicht die Drohung mit dem Gericht, sondern wolle der Dringlichkeit der Liebe Ausdruck verleihen. Es scheint so, daß der Theologe das Nachdenken über die Tatsache eines kommenden Weltgerichts elegant umgehen möchte.

Pastor Hermann Mahnke aus Osterode dagegen stellt sich dieser Tatsache: „Wir Christen sollen nach dem Gleichnis vom Weltgericht so auf Erden leben, daß wir unsere Lebensführung vor Christus verantworten können.“ Doch im Vertrauen auf Christus, den Heiland, können wir der Verantwortung unseres Leben vor ihm getrost entgegengehen. Der Richter ist unser Retter. So leuchtet gerade vor dem unbedingten Anspruch Gottes auf sein Geschöpf, das er zur Rechenschaft zieht, der herrliche Zuspruch des Evangeliums auf.

Eine scheinbar hilfreiche Ausweitung dieses Zuspruchs führt der 81jährige Theologe Jürgen Moltmann vor, der im Anschluss an das Pauluswort „Gott wird sein alles in allem“ (1.Kor 15,28) erklärt: „In dieser Allgegenwart Gottes kann es keine Bezirke der Gottferne mehr geben. Die Vernichtung des Todes und die Zerstörung der Hölle sind Teil einer kosmischen Herrschaft Christi.“ Am Ende der Weltgeschichte triumphiert die universale und bedingungslose Gnade derart, daß es keine Verlorenen mehr geben kann. Mit dieser Gnadenlehre gerät Moltmann freilich in einen schroffen Widerspruch zu der Ankündigung Jesu: „Sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.“ (Mt 25,46)

4. Fazit

1. Beim Predigtlesen kann man auf sehr Solides und auf sehr Fragwürdiges stoßen. Folglich ist mehr denn je die Fähigkeit zur Beurteilung und Unterscheidung gefragt, die nach meiner Beobachtung vielen Gemeindegliedern leider fehlt.

2. Bei den fragwürdigen Predigten scheint es die Tendenz zu geben, ein angenehm zu hörendes Evangelium ohne das unangenehm zu hörende Gesetz präsentieren zu wollen. Was Schlink die Isolierung des Evangeliums durch die Verleugnung des Gesetzes nennt, wäre dann die aktuelle Gefährdung der evangelischen Predigt. Also nicht die Gesetzlichkeit, sondern die Verharmlosung, Verflachung, Verallgemeinerung des Evangeliums zur „Gott-nimmt-jeden-an-Botschaft“.

3. Die Furcht und die Flucht vor dem radikalen Anspruch Gottes, wie er in den von Jesus ausgelegten Geboten oder in der Ansage des Jüngsten Gerichts deutlich wird, führt dazu, daß die Bedeutung der radikalen Erlösung durchs Kreuz Jesu kaum mehr in den Blick kommt. Weil der spürbare Antinomismus das Gesetz ausblendet, kommt es auch nicht mehr zur Fluchtbewegung des Glaubens vom Gesetzeswort hin zum Evangeliumswort.

4. Allerdings kann gerade die Ausblendung des Gesetzes zu einer seltsamen neuen Gesetzlichkeit führen, wie schon Josuttis beobachtete, wenn z.B. verkündet wird, der Gott der Liebe sei doch auch ein Richter, der vom Menschen als Wiedergutmachung für seine Fehler Liebe einfordert.

5. Heutige Predigten bieten weniger geistlichen Tiefgang im Vergleich zu Luther, der so erschütternd nach dem reinen Herz fragt, der so demütig um Gnade bittet und der so eindringlich zu Gehorsam und Beichte vermahnt.

6. Historisch-kritische Textbearbeitung und feministische Betrachtungsweise führen leicht dazu, daß die Textaussage in ihrer spannenden Zweipoligkeit Gesetz und Evangelium nicht zur Geltung kommt. Wer sich an den Text hält, wird beides angemessen predigen (sagte Professor Manfred Seitz einmal).

7. Insbesondere gegenüber dem AT scheint die misstrauische Frage im Raum zu stehen, ob es wirklich Gottes Wort enthalte, das uns ein wahres Bild von Gott vermittelt.

8. Das Evangelium, wie Jesus es predigte, und die so hochgehaltene Rechtfertigungsbotschaft des Paulus werden verfehlt und verfälscht, wenn man sich scheut, vor der Verlorenheit infolge des Gottesurteils des Jüngsten Gerichts zu warnen und zur rettenden Umkehr zu rufen.

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 22. April 2008 um 11:17 und abgelegt unter Theologie.