- Gemeindenetzwerk - https://www.gemeindenetzwerk.de -

Das Kennzeichen des Christen

Im Verlauf der Jahrhunderte haben die Menschen mit den verschiedensten Symbolen zu zeigen versucht, dass sie Christen sind. Sie steckten sich Abzeichen an ihre Rockaufschläge, hängten sich Kettchen um den Hals oder trugen gar besondere Frisuren. Selbstverständlich ist all das nicht falsch, wenn sich jemand dazu berufen fühlt. Doch es gibt ein viel eindrücklicheres Merkmal — ein Kennzeichen, das nicht einfach der Umstände halber für gewisse Gelegenheiten oder gewisse Zeiten erdacht wurde. Es ist ein allumfassendes Kennzeichen, das die Kirche durch alle Zeiten charakterisieren soll, bis Jesus wiederkommt.

Welches Kennzeichen?

Am Ende seiner irdischen Wirksamkeit blickt Jesus seinem Tod am Kreuz, dem offenen Grab und der Himmelfahrt entgegen. Er weiß, dass er seine Jünger bald verlassen wird, und bereitet sie auf das Kommende vor. In dieser Situation sagt er zu den Jüngern: Kindlein, nur noch eine kleine Weile bin ich bei euch. Ihr werdet mich suchen, und wie ich zu den Juden sagte: Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht kommen, so sage ich jetzt auch zu euch. Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet; dass, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt (Johannes 13, 33—35).

Das ist das Merkmal, mit dem Jesus den Christen auszeichnet, nicht nur zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort, sondern zu allen Zeiten und an allen Orten, bis Jesus wiederkommt. Hier wird also kein schon bestehender Zustand beschrieben. Es ist ein Gebot, das eine Bedingung einschließt. „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet; daß, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ Das ist die Voraussetzung: Wenn ihr gehorcht, werdet ihr das Kennzeichen Christi tragen. Da es ein Gebot ist, kann es gebrochen werden.

Es ist also durchaus möglich, ein Christ zu sein, ohne dieses Merkmal zu tragen; wollen wir aber den Nichtchristen unser Christsein beweisen, dann muss das Kennzeichen sichtbar sein.

Menschen und Brüder

Hier wird uns geboten, unsere Mitchristen, unsere Brüder zu lieben. Natürlich dürfen wir die andere Seite der Lehre Jesu nicht vergessen: wir sollen unsere Mitmenschen, ja, alle Menschen als unsere Nächsten lieben. Alle Menschen tragen das Bild Gottes in sich. So sind sie nicht nur als erlöste Menschen wertvoll, sondern als Geschöpfe nach Gottes Bild. Der moderne Mensch, der dies verworfen hat, weiß nicht, wer er ist, und kann deshalb weder in sich selbst, noch in anderen einen wirklichen Wert finden.

Folglich entwertet er den Menschen und bringt den üblen Zustand hervor, mit dem wir uns heute auseinandersetzen müssen — eine dahinsiechende Kultur, in welcher die Menschen einander unmenschlich, als Maschinen behandeln. Als Christen kennen wir jedoch den Wert des Menschen. Alle Menschen sind unsere Nächsten, die wir lieben sollen wie uns selbst. Dazu verpflichtet uns die Schöpfungstatsache, denn alle Menschen, auch die unerlösten, sind wertvoll, weil sie nach dem Bilde Gottes erschaffen sind. Deshalb sollen wir sie lieben, koste es, was es wolle.

Darum geht es doch im Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter: Weil der Mensch ein Mensch ist, ist er um jeden Preis der Liebe wert. Wenn uns Jesus also besonders gebietet, unsere christlichen Brüder zu lieben, verneint er damit das andere Gebot nicht. Die beiden Gebote schließen einander nicht aus. Wir sind nicht vor die Wahl gestellt, entweder alle Menschen wie uns selbst zu lieben, oder die Christen ganz besonders zu lieben. Die beiden Gebote verstärken sich gegenseitig. Wenn Jesus uns schon so eindringlich gebietet, alle Menschen als unsere Nächsten zu lieben, wie wichtig ist es dann erst, unsere Mitchristen besonders zu lieben. Wenn wir alle Menschen als Nächste — wie uns selbst — lieben sollen, wie ungeheuer wichtig ist es dann, dass alle Menschen in uns eine sichtbare Liebe für jene wahrnehmen können, mit denen wir in besonderer Weise verbunden sind — die als Mitchristen durch Jesus Christus einen gemeinsamen Vater haben und in denen ein Geist wohnt. Paulus stellt unsere doppelte Verpflichtung in Galater 6,10 klar heraus: „So lasst uns nun, wo wir Gelegenheit haben, an jedermann Gutes tun, allermeist an den Glaubensgenossen“. Er verneint das Gebot nicht, allen Menschen Gutes zu tun, aber bezeichnenderweise fügt er hinzu „allermeist an den Glaubensgenossen“. Dieses zweifache Ziel sollte unsere Haltung als Christen kennzeichnen; wir sollten es stets vor Augen haben und darüber nachdenken, was es für jeden Augenblick unseres Lebens bedeutet. Unser äußerlich sichtbares Handeln sollte von dieser Einstellung bestimmt werden.

Nur zu oft haben aufrichtige, bibelgläubige Christen die Menschen in zwei Lager geteilt — hier die Verlorenen, dort die Erlösten; hier die Rebellen gegen Gott, dort die durch Christus mit Gott Versöhnten – und haben so ein übles Bild der Exklusivität geboten. Ja, es gibt zwei Gruppen von Menschen. Ein Teil der nach Gottes Bild geschaffenen Menschen steht immer noch in Auflehnung gegen ihn, ein anderer Teil hat durch Gottes Gnade die von ihm gebotene Lösung angenommen. Und doch gibt es in anderer, sehr wichtiger Hinsicht nur eine Menschheit. Alle Menschen haben einen gemeinsamen Ursprung. Von der Schöpfung her tragen alle Menschen das Bild Gottes. In diesem Sinn sind alle Menschen ein Fleisch und ein Blut. So sind die Unterschiede der beiden Menschennaturen durch die Einheit aller Menschen überbrückt, und die Christen dürfen nicht ihre gläubigen Brüder unter Ausschluss der ungläubigen Mitmenschen lieben. Das wäre abstoßend. Wir müssen uns stets das Beispiel des barmherzigen Samariters bewusst vor Augen halten.

Ein empfindliches Gleichgewicht

Das erste Gebot ist, den Herrn unsern Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüt zu lieben. Das zweite ist das umfassende Gebot, alle Menschen zu lieben. Das zweite Gebot fordert also nicht nur Liebe zu Christen. Es ist viel ausgedehnter: wir sollen unsern Nächsten lieben wie uns selbst.

1 Thessalonicher 3,12 trägt dieselbe zweifache Betonung:,, Euch aber möge der Herr voll und überströmend machen in der Liebe zueinander und zu allen, gleich wie auch wir sie haben zu euch.“ Die Reihenfolge ist hier umgekehrt: zunächst sollen wir Liebe zueinander haben und danach zu allen Menschen, das ändert aber nichts an unserer doppelten Aufgabe. Hier wird nur auf das empfindliche Gleichgewicht hingewiesen, ein Gleichgewicht, das in der Praxis nicht automatisch erhalten bleibt.

In 1 Johannes 3,11 (später geschrieben als sein Evangelium) sagt Johannes: „Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, dass wir einander lieben sollen.“ Jahre nach Christi Tod ruft uns Johannes in seinem Brief das ursprüngliche Gebot Christi in Johannes 13 ins Gedächtnis. Er beschwört die Gemeinde sozusagen: „Vergesst das nicht . . . Vergesst das nicht! Dieses Gebot wurde uns von Christus gegeben, als er auf der Erde lebte. Dies soll euer Kennzeichen sein.“  Nur für wahre Christen.

Wenn wir uns das Gebot in Johannes 13 noch einmal ansehen, fallen uns einige wichtige Punkte auf. Zunächst einmal sollen wir alle wahren Christen, alle wiedergeborenen Christen besonders lieben. Vom biblischen Standpunkt aus sind nicht alle, die sich Christen nennen, wirklich Christen, und das trifft ganz besonders auf unsere Generation zu. Das Wort Christ ist praktisch völlig seiner Bedeutung beraubt worden. Es gibt wohl kaum ein Wort, das (abgesehen vom Wort Gott selbst) so sehr abgewertet worden ist. Im Mittelpunkt der Semantik (Wortbedeutungslehre) steht der Gedanke, dass ein Wort als Symbol keine Bedeutung hat, solange ihm nicht ein Inhalt gegeben wird. Das ist durchaus richtig. Weil das Wort Christ als Symbol zu einer so geringen Bedeutung herabgewürdigt wurde, bedeutet es heute alles und nichts.

Jesus spricht jedoch von der Liebe zu allen wahren Christen. Und das ist ein zweischneidiges Gebot, denn es fordert, dass wir einerseits die wahren Christen von den Scheinchristen unterscheiden und uns anderseits vergewissern, keinen wahren Christen lieblos zu übergehen. Mit anderen Worten: bloße Humanisten und liberale Theologen, die nur noch den Namen „Christen“ tragen, oder solche Kirchgänger, für die das Christentum eine reine Formalität ist, können wir nicht als wahre Christen anerkennen. Anderseits müssen wir uns vor dem entgegengesetzten Irrtum hüten. Wir müssen jeden einschließen, der im historisch-biblischen Glauben steht, ob er nun Glied unseres eigenen Kreises oder unserer eigenen Gruppe ist oder nicht. Aber selbst wenn ein Mensch nicht zu den wahren Christen gehört, ist es dennoch unsere Pflicht, ihn als unseren Nächsten zu lieben. Wir können also nicht sagen. „Soweit ich sehe, gehört der und der nicht zu den wahren Christen; um den brauche ich mich deshalb nicht weiter zu kümmern, ich kann ihn einfach übergehen“. Ganz und gar nicht. Auf ihn bezieht sich das zweite Gebot.

Die Qualitätsnorm

Als zweites sehen wir in diesen Worten von Johannes 13 die Qualität der Liebe, die unsere Norm sein soll. Wir sollen alle Christen so lieben „wie ich euch geliebt habe“, sagt Jesus. Nun denken Sie nur an die Art und das Ausmaß der Liebe, die Jesus uns entgegegengebracht hat! Gewiss, er ist unendlich, und wir sind begrenzt; er ist Gott, wir sind Menschen. Weil er unendlich ist, kann unsere Liebe der seinen nie gleich sein, unsere Liebe kann nie unendliche Liebe sein. Dennoch muss seine damals wie heute bezeugte Liebe unser Maßstab sein. Eine geringere Qualitätsnorm darf es nicht geben. Wir sollen alle gläubigen Christen so lieben, wie Christus uns geliebt hat.

Nun kann diese Aufforderung zwei verschiedene spontane Reaktionen hervorrufen. Wir können sagen: „Ganz richtig! Ganz richtig!“, und uns dann kleine Flaggen anfertigen mit der Aufschrift „Wir lieben alle Christen!“ Im üblichen Trott gehen wir weiter — mit den eingerollten Flaggen — „Wir lieben alle Christen!“ —‚ um im geeigneten Augenblick die Schnüre zu lösen, die Flaggen zu entrollen und sie im Weitergehen über unseren Köpfen zu schwingen — „Wir lieben alle Christen!“  Wie abstoßend!

Unsere Reaktion kann entweder dieses unüberbietbar hässliche Schauspiel sein, oder aber etwas unvorstellbar Tiefes und Großes. Soll es das letztere sein, wird es in der bibelgläubigen Christenheit viel Zeit, viel sachbewusstes Reden und Schreiben, viel ernsthaftes Nachdenken und Beten erfordern.

Die Kirche soll in einer sterbenden Kultur eine liebende Kirche sein. Wie wird uns dann diese sterbende Kultur einschätzen? Jesus sagt: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ Inmitten der Welt, inmitten unserer sterbenden Kultur verleiht Jesus der Welt ein Recht. Kraft seiner Vollmacht erteilt er der Welt das Recht, aufgrund unserer sichtbaren Liebe zu allen Christen zu beurteilen, ob wir, Sie und ich, wiedergeborene Christen sind. Das ist erschreckend. Jesus wendet sich an die Welt und sagt: „Hört alle her! Kraft meiner Vollmacht verleihe ich euch ein Recht zu beurteilen, ob ein Mensch Christ ist oder nicht, aufgrund der Liebe, die er allen Christen erweist.“ Mit anderen Worten: Wir müssen anerkennen, dass Leute, die gegen uns auftreten und uns ins Gesicht sagen, wir wären keine Christen, weil wir anderen Christen keine Liebe erwiesen haben, einfach ein Vorrecht ausüben, das Jesus ihnen verliehen hat. Darüber dürfen wir nicht böse sein. Wenn Menschen uns sagen:» Ihr liebt andere Christen nicht“, müssen wir nach Hause gehen, die Knie beugen und Gott fragen, ob das stimmt oder nicht. Wenn ja, dann hatten sie auch das Recht, uns das vorzuhalten.

Mangel an Liebe

An dieser Stelle müssen wir jedoch sehr vorsichtig sein. Auch als wahre, wirklich wiedergeborene Christen können wir in der Liebe zu unseren Mitchristen versagen. Ja, wenn wir realistisch sind, müssen wir noch mehr erkennen. Es kommt immer wieder vor (und das müssen wir unter Tränen bekennen), es kommt immer wieder vor, dass wir Christen einander nicht lieben. Das ist in einer gefallenen Welt, wo bis zur Wiederkunft Jesu nichts und niemand vollkommen ist, einfach eine Tatsache. Und wir müssen selbstverständlich um Gottes Vergebung bitten, sooft wir fehlen. Aber Jesus will hier nicht sagen, unser Versäumnis, alle Christen zu lieben, beweise, dass wir keine Christen sind. Das muß sich jeder einzelne von uns einmal klarmachen: Mein Mangel an Liebe zu den Christen beweist nicht, dass ich kein Christ bin. Jesus unterstreicht jedoch, dass die Welt angesichts meiner mangelnden Liebe zu allen anderen Christen das Recht hat, mein Christsein abzustreiten. Das ist ein wesentlicher Unterschied, Wenn wir der Liebe zu allen Mitchristen ermangeln, brauchen wir daraus nicht verzweifelt zu schließen, wir seien verloren. Niemand, außer Christus selbst, hat je gelebt, ohne Fehler zu machen. Wenn das Christsein von der Erfüllung unserer Liebespflicht unseren Brüdern in Christus gegenüber abhinge, gäbe es keine Christen, denn alle Menschen haben versagt. Jesus gibt aber der Welt sozusagen einen Streifen Lackmuspapier, ein vernünftiges Thermometer: Wenn die Welt unser Kennzeichen nicht sehen kann, darf sie daraus schließen: „Dieser Mensch ist kein Christ.“ Natürlich kann die Welt irren; ist der Betreffende in Wirklichkeit doch ein Christ, hat sie ein Fehlurteil gefällt. Es stimmt, dass sich ein Nichtchrist oft hinter dem, was er bei den Christen sieht, verbirgt und „Ihr Heuchler!“ ausruft, nur weil er sich als Sünder nicht vor Christus verantworten will. Das meint Jesus hier nicht. Er spricht an dieser Stelle von unserer Verantwortung als einzelne und als Gruppen, der Welt durch unsere Liebe zu allen anderen wahren Christen jedes triftige Argument zu entziehen, mit dem sie unser Christsein bestreiten könnte.

Die entscheidende Überzeugungskraft

Aber unsere Verantwortung ist noch größer. Dazu müssen wir Johannes 17,21 betrachten, ein Wort mitten aus dem hohepriesterlichen Gebet Christi. Jesus betet, „Auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“ In diesem, seinem hohenpriesterlichen Gebet, betet Jesus für die Einheit der Kirche, die Einheit, die besonders die Beziehungen der wahren Christen untereinander kennzeichnen sollte. Jesus betet nicht für eine humanistische, romantische Einheit der Menschen im Allgemeinen. Vers 9 macht das deutlich: „Nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast, weil sie dein sind.“ Jesus unterscheidet hier sehr sorgfältig zwischen denen, die sich im Glauben an ihn gewandt haben, und denen, die weiterhin in der Auflehnung verharren. Wenn er also im 21. Vers um die Einheit bittet, so meint er mit dem „sie“ die wahren Christen.

Beachten Sie jedoch, dass es in Vers 21 heißt: „Dass sie alle eins seien Hier wird interessanterweise dasselbe betont wie in Johannes 13 — nicht ein Teil der wahren Christen, sondern alle Christen — nicht nur die Christen innerhalb bestimmter Gemeindekreise sollen eins sein, sondern alle wiedergeborenen Christen. Und nun kommt die ernüchternde Aussage. Jesus sagt in diesem einundzwanzigsten Vers etwas, bei dem ich immer wieder zusammenzucke. Wenn wir als Christen an dieser Stelle nicht aufgeschreckt werden, sind wir, wie mir scheint, entweder nicht empfindsam oder nicht aufrichtig, denn hier nennt uns Jesus die entscheidende Apologetik. Welches ist der überzeugendste Beweis für das Christentum? „Auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“ Darin liegt die höchste Überzeugungskraft.

In Johannes 13 ging es darum, dass der Christ, der es an Liebe zu anderen wahren Christen fehlen lässt, der Welt das Recht zu dem Urteil gibt, er sei kein Christ. Hier sagt Christus etwas, das noch viel einschneidender und grundlegender ist: die Welt wird nicht glauben, dass der Vater den Sohn gesandt hat, dass die Behauptungen Jesu wahr sind und dass das Christentum wahr ist, wenn sie in der Realität nichts von der Einheit der wahren Christen sieht. Das ist erschreckend! Werden wir an dieser Stelle nicht von Angst gepackt? Sehen wir uns die Stelle noch einmal an. Jesus will nicht sagen, dass die Christen einander auf dieser Grundlage das Christsein zu- oder absprechen sollten. Das müssen wir unbedingt beachten. Das Christsein eines Menschen soll die Kirche aufgrund seiner Lehre, der Aussagekraft seines Glaubens und der Glaubwürdigkeit seines Bekenntnisses beurteilen. Wenn ein Mensch zu einer örtlichen Gemeinde kommt, die ihre Aufgabe ernst nimmt, wird er nach dem Inhalt seines Glaubens gefragt. Wird zum Beispiel in einer Gemeinde jemand wegen einer Irrlehre zur Rede gestellt (das Neue Testament zeigt, dass solche Untersuchungen in der Kirche Christi notwendig sind), so entscheidet sich die Frage der Abweichung am Inhalt der Lehrmeinung des Befragten. Die Kirche hat ein Recht, ja sogar die Pflicht, einen Menschen nach dem Inhalt seines Glaubens und seiner Lehre zu beurteilen. Wir können jedoch nicht erwarten, dass die Welt von dieser Grundlage her urteilt, denn die Welt fragt nicht nach der Lehre. Das gilt besonders für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in der die Menschen aufgrund ihrer Erkenntnistheorie nicht einmal mehr an die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit glauben. Und wenn wir schon von einer Welt umgeben sind, die dieses Wahrheitsverständnis aufgegeben hat, können wir doch nicht erwarten, dass sich jemand darum kümmert, ob die Lehre eines Menschen richtig ist oder nicht.

Jesus hat aber das Kennzeichen genannt das die Aufmerksamkeit der WeIt fesseln wird, selbst die Aufmerksamkeit des modernen Menschen, der sich nur noch als Maschine versteht. Weil jeder Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist und deshalb das Verlangen nach Liebe in sich trägt, so gibt es — in jedem geographischen Klima und zu jedem Zeitpunkt etwas, das seine Aufmerksamkeit unfehlbar fesseln wird. Was? Die Liebe, die wahre Christen einander erweisen, und zwar nicht nur innerhalb des eigenen Kreises.

Aufrichtige Antworten — sichtbare Liebe

Selbstverständlich dürfen wir als Christen die Pflicht nicht versäumen, auf aufrichtige Fragen ebenso aufrichtig zu antworten. Wir sollten eine intellektuelle Apologetik bieten können. Die Bibel fordert dazu auf, und Christus und Paulus dienen dafür als Beispiel. In der Synagoge, auf dem Marktplatz, in  Häusern und in fast jeder nur denkbaren Situation sprachen Jesus und Paulus über die christliche Lehre. Gleicherweise ist es des Christen Aufgabe, eine aufrichtige Frage aufrichtig zu beantworten. Aber ohne Liebe unter wahren Christen können wir, wie Christus sagt, nicht erwarten, dass die Welt uns zuhört, wie zutreffend unsere Antworten auch sein mögen. Wir müssen wirklich unser Leben lang dazulernen, um aufrichtige Antworten zu geben. Seit Jahren hat die bibelgläubige Kirche hier jämmerlich versagt. So sollten wir viel Zeit darauf verwenden, zu erlernen, die Fragen der Menschen um uns herum zu beantworten. Aber selbst wenn wir alles getan haben, um mit einer verlorenen Welt zu sprechen, dürfen wir nie vergessen, dass die höchste Überzeugungskraft, die Jesus verleiht, die sichtbare Liebe ist, die wahre Christen anderen wahren Christen entgegenbringen. Obwohl dies nicht der zentrale Punkt ist, den ich hier behandle, so muss doch diese von der Welt her sichtbare Liebe und Einheit unter wahren Christen alle Schranken zwischen den Menschen durchbrechen. Das Neue Testament sagt. „Weder Jude noch Grieche, weder Knecht noch Freier, weder Mann noch Frau.“

Die Gemeinde von Antiochia setzte sich aus Juden und Nichtjuden zusammen, und ihre soziale Skala reichte von Herodes‘ Pflegebruder bis zu den Sklaven; und die von Natur aus stolzen griechischen Heidenchristen in Mazedonien bewiesen eine praktische Fürsorge für die materiellen Nöte der Judenchristen in Jerusalem. Die sichtbare und tätige Liebe unter wahren Christen, welche die Welt auch heute mit Recht zu sehen erwartet, sollte sich uneingeschränkt über alles Trennende hinwegsetzen, sei es Sprache, Volkszugehörigkeit, Landesgrenzen, Jugend und Alter, Hautfarbe, Bildungsstand und Einkommenshöhe, Abstammung, örtliche Gesellschaftsklassen, Kleidung, kurzes oder langes Haar, Schuhe tragen oder barfuß gehen, kulturelle Unterschiede oder mehr oder weniger traditionsgemäße Gottesdienstformen.

Wenn die Welt dies nicht beobachten kann, wird sie nicht glauben, dass Christus vom Vater gesandt wurde. Die Menschen werden nicht allein aufgrund zutreffender Antworten glauben. Das eine darf das andere nicht ausschließen. Die Welt muss auf aufrichtige Fragen zutreffende Antworten erhalten, zugleich aber muss unter allen wahren Christen einmütige Liebe herrschen. Das ist unerlässlich, wenn die Menschen wissen sollen, dass Jesus vom Vater gesandt wurde und das Christentum wahr ist.

Falsche Vorstellungen von Einheit

Wir wollen das Wesen dieser Einmütigkeit ganz klar umreißen und dazu vorweg einige falsche Vorstellungen ausräumen. Zum ersten ist die Einmütigkeit, von der Jesus spricht, keine lediglich organisatorische Einheit. In unserer Generation erleben wir einen starken Trend zur kirchlichen Vereinigung. Er liegt in der Luft — wie die Röteln in Zeiten einer Epidemie — und umschließt uns auf allen Seiten. Die Menschen können sich in allen möglichen Organisationen zusammenschließen, ohne damit der Welt wirkliche Einheit zu beweisen.

Das klassische Beispiel dafür bietet die Römisch Katholische Kirche im Laufe der Jahrhunderte. Sie hat stets eine großartige, äußerliche Einheit besessen — wohl die größte organisatorische Einheit, die die Welt je gesehen hat; und doch wurden gleichzeitig innerhalb dieser einen Kirche gigantische und hasserfüllte Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Orden ausgetragen. Heute besteht ein noch weitaus verschärfter Gegensatz zwischen dem konservativen Römischen Katholizismus und dem progressiyen Römischen Katholizismus. Die Römisch Katholische Kirche versucht immer noch ihre organisatorische Einheit zu wahren, aber das ist nur noch eine äußerliche Einheit, denn es sind zwei völlig verschiedene Religionen entstanden, zwei verschiedene Gottesbegriffe und zwei verschiedene Wahrheitsverständnisse.

Und genau dasselbe trifft auf die Ökumenische Bewegung im Protestantismus zu. Sie ist ein Versuch, Menschen aufgrund der Bitte Jesu organisatorisch zusammenzufassen, aber es fehlt die wahre Einheit, weil zwei völlig verschiedene Religionen — Christentum im biblischen Sinn und ein „Christentum“ das überhaupt kein Christentum ist — einander gegenüberstehen. Es ist durchaus möglich, eine organisatorische Vereinigung zu schaffen und ein Leben lang alle Kraft darauf zu verwenden, ohne im geringsten an die Einheit heranzukommen, von der Jesus in Johannes 17 spricht.

Damit will ich nichts gegen eine sinnvolle organisatorische Einheit auf einer klaren Lehrgrundlage sagen. Aber hier spricht Jesus von etwas ganz anderem, denn es kann großaufgezogene organisatorische Vereinigungen ohne jegliche Einmütigkeit geben — selbst in Kirchen, die strenge Zucht geübt haben. Ich befürworte dringend den Grundsatz und die Praxis der Reinheit in der sichtbaren Kirche, aber ich habe Kirchen gesehen, die für die Reinheit gekämpft haben und dabei zu Brutstätten der Gehässigkeit geworden sind. Da sind keine liebevollen persönlichen Beziehungen mehr zu beobachten, nicht in ihrer eigenen Mitte, und erst recht nicht zu anderen wahren Christen.

Aus einem weiteren Grund kann die Einheit, von der Christus spricht, nicht organisatorischer Art sein. Alle Christen— „auf dass sie alle eins seien“ —sollen eins sein. Aber es kann doch wohl keine Einheitsorganisation geben, die alle wiedergeborenen Christen in der ganzen Welt umschließen würde. Das ist einfach unmöglich. Es gibt zum Beispiel wahre wiedergeborene Christen, die keiner Organisation angehören; und welche einzelne Organisation könnte diejenigen wahren Christen erfassen, die wegen Verfolgung von der Außenwelt abgeschnitten sind? Organisatorische Einheit ist offensichtlich nicht die Lösung.

Nun eine zweite falsche Vorstellung von dem, was diese Einheit bedeutet. Es ist die Auffassung, die oft von evangelikalen Christen vorgeschützt wird, um den Problemen auszuweichen. Nur zu oft hören wir von evangelikaler Seite: „Nun, Jesus spricht hier natürlich von der mystischen Gemeinschaft der unsichtbaren Kirche.“ Und damit ist für sie das Thema abgeschlossen, und sie denken nicht mehr darüber nach — nie mehr. Gewiß, es gibt — theologisch ausgedrückt — eine sichtbare und eine unsichtbare Kirche. Die unsichtbare Kirche ist die wirkliche Gemeinde — sie hat die größte Bedeutung und ist allein berechtigt, diese Bezeichnung zu tragen, weil sie aus all denen besteht, die Christus als ihren Retter angenommen haben. Sie ist die Kirche Christi. Sobald ich Christ werde, sobald ich mich Christus anvertraue, werde ich ein Glied dieser Kirche, und eine verborgene mystische Einheit verbindet mich mit allen anderen Gliedern. Das trifft zu. Doch das meint Jesus in Johannes 13 und Johannes 17 nicht, denn diese Einheit können wir in keiner Weise zerstören. Beziehen wir also die Worte Jesu auf die mystische Einheit der unsichtbaren Kirche, so würdigen wir sie zu einer sinnlosen Phrase herab.

Entgegen einer dritten falschen Vorstellung spricht Jesus auch nicht von unserer einheitlichen Stellung in Christus. Es stimmt, dass eine standesmäßige Einheit in Christus besteht — sobald wir Christus als Retter annehmen, haben wir einen Herrn, eine Taufe, eine Geburt (die Wiedergeburt) und werden mit Christi Gerechtigkeit bekleidet. Aber darum geht es hier nicht.

Zum vierten haben wir eine rechtmäßige Einheit in Christus, doch auch davon ist hier nicht die Rede. Eine herrliche und unfassbare rechtmäßige Einheit ist allen Christen gewährt. Der Vater (als Richter des Universums) fällt aufgrund des in Raum, Zeit und Geschichte vollendeten Werkes Christi den Rechtsspruch, dass die echte moralische Schuld all jener, die sich in Christus bergen, für immer gelöscht ist. Das verleiht uns eine wundervolle Einheit; und doch meint Christus an dieser Stelle etwas anderes. Der gläubige Christ darf nicht in die Vorstellung der unsichtbaren Kirche und dieser verwandten Gebiete Zuflucht nehmen. Wenn wir die Worte in Johannes 13 und 17 lediglich auf die Existenz der unsichtbaren Gemeinde beziehen, wird die Aussage Jesu sinnlos. Wir machen Jesu Worte zu einer leeren Phrase, wenn wir nicht erkennen, dass er von etwas Sichtbarem spricht. Darum geht es doch: Die Welt kann die Sendung Jesu durch den Vater nur aufgrund eines Sachverhaltes beurteilen, der ihrer Beobachtung zugänglich ist.

Wahre Einheit

In Johannes 13 und 17 spricht Jesus von einer wirklich sichtbaren Einheit, einer tätigen Einheit, einer praktizierten Einheit über alle Grenzen hinweg, unter allen wahren Christen. Der Christ hat eine doppelte Aufgabe. Sein Verhalten muss Gottes Heiligkeit und Gottes Liebe widerspiegeln. Im Christen soll sichtbar werden, dass Gott als persönlich-unendlicher Gott existiert, und zugleich soll er Gottes Wesen, seine Heiligkeit und Liebe bekunden. Nicht Heiligkeit ohne Liebe: das wäre bloße Härte. Nicht Liebe ohne Heiligkeit: das wäre nichts als Kompromiss. Wann immer sich einzelne Christen oder christliche Kreise so verhalten, dass sich darin nicht das Gleichgewicht von Gottes Heiligkeit und Liebe ausdrückt, bieten sie einer zuschauenden Welt nicht ein Abbild, sondern eine Karikatur des Gottes, der existiert. Nach der Heiligen Schrift und der Lehre Christi muss unsere Liebe außerordentlich stark sein. Es genügt nicht, darüber nur von Zeit zu Zeit ein paar Worte zu verlieren.

Sichtbare Liebe

Wie soll sich diese Liebe nun bekunden? Wie kann sie sichtbar werden? Zunächst einmal bekundet sie sich auf sehr einfache Art: wenn ich einen Fehler gemacht und meinen christlichen Bruder nicht geliebt habe, dann muss ich zu ihm hingehen und ihm sagen: „Es tut mir leid.“ Das ist der erste Schritt.

Es mag enttäuschend erscheinen — unser erster Punkt so simpel, so banal! Wer aber glaubt, das sei einfach, der hat noch niemals danach zu handeln versucht. Wenn wir in unserem Kreis, in unserer eigenen, uns nahe stehenden Gemeinde oder auch nur in unserer Familie lieblos gewesen sind, dann gehen wir doch als Christen nicht automatisch zu dem anderen hin und sagen ihm, dass es uns leid tut! Selbst dieser erste Schritt fällt uns stets schwer. Es mag einfältig scheinen, unsere Liebe mit der Entschuldigung und der Bitte um Vergebung zu beginnen, aber das Gegenteil ist der Fall. Nur so können wir nämlich die Gemeinschaft wiederherstellen, sei es zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind, innerhalb einer christlichen Gemeinde oder zwischen den einzelnen Gemeinden. Wenn wir die anderen nicht genug geliebt haben, sind wir vor Gott aufgefordert hinzugehen und zu sagen-. „Es tut mir leid -. . es tut mir wirklich leid.“ Wenn ich nicht bereit bin, „Es tut mir leid“ zu sagen, wenn ich jemandem Unrecht getan habe — und besonders, wenn ich ihn nicht geliebt habe —‚ dann habe ich noch nicht einmal darüber nachzudenken begonnen, was für die Welt sichtbare christliche Einheit bedeutet. Dann kann sich die Welt mit Recht fragen, ob ich überhaupt ein Christ bin. Und, lassen Sie es mich noch einmal betonen, es steht noch mehr auf dem Spiel: wenn ich diesen einfachen Schritt nicht tun will, hat die Welt das Recht zu bezweifeln, dass Jesus von Gott gesandt war und dass das Christentum wahr ist.

Wieweit haben wir bewusst so gehandelt? Wie oft sind wir unter der Leitung des Heiligen Geistes zu Christen in unserem Kreis gegangen, um ihnen zu sagen: „Es tut mir leid“? Wieviel Zeit haben wir aufgewendet, um die Verbindung mit Christen in anderen Kreisen wiederherzustellen und ihnen zu sagen: „Ich bereue, was ich getan, was ich ausgesprochen oder was ich geschrieben habe“? Wie oft ist eine Gruppe nach einem Streit zu einer anderen Gruppe gegangen und hat gesagt: „Es tut uns leid“? Dieses Verhalten ist so wichtig, dass es tatsächlich ein Teil der Evangeliumsverkündigung selbst ist. Sichtbar praktizierte Wahrheit und sichtbar praktizierte Liebe gehen mit der Verkündigung der frohen Botschaft von Jesus Christus Hand in Hand.

Ich habe in den Auseinandersetzungen unter wahren Christen in vielen Ländern eines beobachtet: Was wahre christliche Gruppen und einzelne Christen trennt und voneinander scheidet — was über 20, 30 oder 40 Jahre hinweg (oder über 50 bis 60 Jahre im Gedächtnis der Söhne) dauernde Bitterkeit hinterlässt — ist nicht die Frage der Lehre oder des Glaubens, an der sich der Streit entzündete. Immer ist es der Mangel an Liebe — und die hässlichen Worte, mit denen wahre Christen einander während des Streites bedachten. Die bleiben im Gedächtnis hängen. Im Laufe der Zeit erscheinen die sachlichen Gegensätze zwischen den Christen oder den christlichen Kreisen nicht mehr so scharf wie zuvor, es bleiben aber die Spuren jener bitteren, hässlichen Worte, die in einer — wie wir meinten — berechtigten und sachlichen Diskussion gefallen sind. Genau darüber aber — über die lieblose Haltung und die harten Worte in der Kirche Jesu Christi, unter wahren Christen — rümpft die nichtchristliche Welt die Nase. Könnten wir, wenn wir als wahre Christen einander widersprechen müssen, einfach unsere Zunge hüten und in Liebe sprechen, so wäre die Bitterkeit in fünf oder zehn Jahren vorbei. So aber hinterlassen wir Narben — einen Fluch für Generationen. Nicht nur ein Fluch innerhalb der Kirche, sondern ein Fluch in der Welt. In der christlichen Presse macht es Schlagzeilen, und manchmal kocht es in die weltliche Presse über — dass Christen solch hässliche Dinge über andere Christen sagen. Die Welt schaut zu, zuckt die Achseln und wendet sich ab. Sie hat inmitten einer sterbenden Kultur nicht einmal den Funken einer lebendigen Kirche gesehen. Sie hat nicht einmal den Ansatz dessen gesehen, was nach Jesu Worten die überzeugendste Apologetik ist — sichtbare Einheit unter wahren Christen, die doch Brüder in Christus sind. Unsere scharfen Zungen, der Mangel an Liebe unter uns, verwirren die Welt zu Recht — weit mehr als die notwendigen Hinweise auf Unterschiede, die es zwischen echten Christen geben mag. Wie weit entfernt sind wir doch von dem schlichten und einfachen Gebot Jesu Christi — eine wahrnehmbare Einheit aufzuweisen, die die Welt mit eigenen Augen sehen kann!

Vergebung

Zu der wahrnehmbaren Liebe gehört aber mehr als das Bekunden von Reue. Die Vergebung gehört auch dazu. Und wenn es schon schwer fällt, „es tut mir leid“ zu sagen, so ist es noch schwerer, zu vergeben. Die Bibel lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass die Welt unter dem Volk Gottes einen Geist der Vergebung sehen muss. Im Vaterunser lehrt uns Jesus selbst zu beten: „und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir vergeben jedem, der uns schuldig ist“ (nach Lk 11). Dieses Gebet, das sei gleich festgehalten, ist nicht ein Gebet um Errettung. Es hat nichts zu tun mit der Wiedergeburt, denn wir sind allein aufgrund des vollbrachten Werkes Christi wiedergeboren, ohne eigenes Zutun. Das Gebet bezieht sich vielmehr auf die existentielle, Schritt um Schritt erlebte Verbindung mit Gott. Zu unserer Rechtfertigung brauchen wir die ‚ein für allemal‘ geschehene Vergebung; wir benötigen aber daneben jeden Augenblick die Vergebung der Sünden aufgrund des Werkes Christi, damit unsere offene Gemeinschaft mit Gott ungetrübt bleibt. Was der Herr uns im Vaterunser zu beten gelehrt hat, sollte einen Christen jeden Tag seines Lebens zur Besinnung führen: Wir bitten den Herrn, uns für die Erfahrung der Gemeinschaft mit ihm zu öffnen, indem wir den anderen vergeben. Manche Christen behaupten, das Vaterunser sei nicht für unser Zeitalter bestimmt, die meisten von uns sind aber anderer Meinung. Und doch denken wir kaum einmal im Jahr daran, dass ein Zusammenhang besteht zwischen unserem Mangel an Vergebungsbereitschaft und Gottes Vergebung uns gegenüber. Viele Christen sehen nur selten oder nie die Beziehung zwischen ihrem eigenen Mangel an wirklicher Gemeinschaft mit Gott und ihrem Mangel an Vergebungsbereitschaft den Menschen gegenüber, selbst wenn sie das Vaterunser gewohnheitsmäßig im sonntäglichen Gottesdienst nachsprechen.

Wir alle müssen immer wieder eingestehen, dass wir die Vergebung nicht genügend praktizieren. Und doch lautet das Gebet. „Vergib uns unsere Schuld, unsere Übertretungen, wie wir unseren Schuldnern vergeben“ (nach Mt. 6). Wir sollen vergebungsbereit sein, ehe der andere sich für seinen Fehler entschuldigt. Das Vaterunser deutet nicht an, dass wir erst dann, wenn der andere bedauert, die Einigkeit durch die Bereitschaft zur Vergebung beweisen sollen. Vielmehr sind wir aufgefordert, einen Geist der Vergebung zu haben, ohne vom anderen den ersten Schritt zu erwarten, Wir mögen festhalten, dass er im Unrecht ist, aber selbst wenn wir dies sagen, soll es in der Vergebung geschehen. Wir sollen diesen Geist der Vergebung nicht nur unter Christen, sondern allen Menschen gegenüber walten lassen. Wenn wir uns aber allen Menschen gegenüber so verhalten sollen, dann gewiss auch den Christen gegenüber. Ein solcher Geist der Vergebung zeigt eine Haltung der Liebe zu anderen an. Aber selbst wenn man sie nur als „Haltung“ bezeichnet, lässt sich wahre Vergebungsbereitschaft beobachten. Schon ein Blick ins Gesicht eines Menschen lässt uns erkennen, wo er in Bezug auf Vergebung steht. Und die Welt soll uns anschauen und sehen können, ob wir in unseren Kreisen und über unsere Grenzen hinweg Liebe füreinander haben. Kann sie beobachten, dass wir „es tut mir leid“ sagen und von Herzen zur Vergebung bereit sind? Ich möchte wiederholen: Unsere Liebe wird nicht vollkommen sein, aber sie muss deutlich genug sein, um von der Welt wahrgenommen zu werden, andernfalls entspricht sie nicht den Anforderungen der Schriftworte in Johannes 13 und 17. Und wenn die Welt dies unter den wahren Christen nicht beobachten kann, steht ihr nach den beiden Schriftstellen das Recht zu, zwei unerbittliche Urteile zu fällen: Dass wir keine Christen sind und dass Christus nicht vom Vater gesandt worden ist.

Zurechtweisung unter Christen

Was soll nun geschehen, wenn wir anderen Brüdern in Christus widersprechen müssen, weil wir in Leben und Wandel auch Gottes Heiligkeit dokumentieren müssen? Für den Lebenswandel zeigt uns Paulus das richtige Gleichgewicht im 1. und 2. Korintherbrief. Dieselben Grundsätze gelten auch für die Lehre.

In 1 Korinther 5, 1—5 wirft Paulus der Gemeinde zu Korinth vor, einen in Unzucht lebenden Mann in ihrer Mitte zu dulden, ohne ihn zurechtzuweisen. Aufgrund der Heiligkeit Gottes, weil diese Heiligkeit der zuschauenden Welt sichtbar sein sollte und weil ein solches Urteil auf der Grundlage des geoffenbarten göttlichen Gesetzes in Gottes Augen recht ist, rügt Paulus die Gemeinde, dass sie den Mann nicht zur Rechenschaft gezogen hat. Nachdem sie ihn zurechtgewiesen hat, schreibt Paulus wieder in 2 Korinther 2, 6—8 und macht ihnen diesmal den Vorwurf, dass sie ihm keine Liebe erzeigt. Diese zwei Gesichtspunkte gehören zusammen.

Ich bin dankbar, dass Paulus im ersten und dann im zweiten Brief in dieser Weise schreibt, denn so wird ein Zeitablauf sichtbar. Die Korinther sind seinem Rat gefolgt, sie haben diesen Christen zurechtgewiesen, und nun schreibt ihnen Paulus:. Ihr habt ihn bestraft, aber warum erzeigt ihr ihm nun nicht auch eure Liebe?“ Er hätte fortfahren und Jesus zitieren können-. „Ist es euch nicht bewusst, dass eure heidnischen Nachbarn in Korinth das Recht zu dem Urteil haben, Jesus sei nicht vom Vater gesandt worden, weil ihr dem von euch richtigerweise bestraften Manne nun keine Liebe erweist?“

Hier stellt sich eine wichtige Frage: Wie können wir die von Christus geforderte Einheit bekunden, ohne an den Fehlern des anderen mitschuldig zu werden? Ich möchte einige Wege aufzeigen, wie wir diese Einheit selbst über unumgängliche Meinungsverschiedenheiten hinweg üben und beweisen können.

Trauer

Zunächst einmal sollten wir an solche Auseinandersetzungen mit wahren Christen nie ohne Bedauern  und ohne Tränen herangehen. Das klingt recht einfach, nicht wahr? Aber glauben Sie mir, evangelikale Christen haben diese Haltung nur zu oft nicht gezeigt. Manchmal hat man den Eindruck, dass wir uns begeistert auf die Fehler anderer Leute stürzen. Wir machen uns wichtig, indem wir andere niedermachen. So kann nie eine wirkliche Einheit unter Christen sichtbar werden.

Es gibt nur einen Menschentyp, der die Kämpfe des Herrn in einer einigermaßen angemessenen Weise ausfechten kann, und das ist der von Natur aus friedfertige Mensch. Ein streitlustiger Mensch kämpft um des Streites willen; zumindest sieht es so aus. Wo Auseinandersetzungen unter wahren Christen unumgänglich sind, da muss die Welt sehen, dass wir uns nicht streiten, weil wir Blut geleckt haben, weil wir die Atmosphäre der Arena oder des Stierkampfs lieben, sondern weil wir zu Gott stehen wollen. Wenn wir sprechen müssen und wir dies unter Tränen tun, kann eine wunderbare Wendung zutage treten.

Ferner ist es wichtig, der Welt bewusst eine Liebe vor Augen zu führen, die um so größer ist, je tiefer die Meinungsverschiedenheiten unter den wahren Christen sind. Nicht alle Differenzen unter Christen sind gleichbedeutend. Einige sind nur Kleinigkeiten. Andere sind von überragender Bedeutung. Je ernster der Fehler ist, umso wichtiger ist es, auf die Heiligkeit Gottes hinzuweisen und das Falsche als falsch zu bezeichnen. Zugleich aber müssen wir, je größer die Meinungsverschiedenheiten sind, um so dringender vom Heiligen Geist die Kraft erbitten, diesen wahren Christen, denen wir entgegentreten müssen, doch Liebe erweisen zu können. Handelt es sich um Kleinigkeiten, fällt es uns nicht schwer, liebevoll zu bleiben. Ist aber die Auseinandersetzung wirklich bedeutend, ist es wichtig, für die Heiligkeit Gottes entsprechend einzustehen. Und umso wichtiger ist es, in dieser Lage der Welt zu zeigen, dass wir einander dennoch lieben.

Als natürliche Menschen reagieren wir genau umgekehrt: In den weniger wichtigen Fällen erzeigen wir den wahren Christen mehr Liebe, geht aber die Auseinandersetzung um wichtigere Fragen, neigen wir dazu, weniger Liebe zu zeigen. Das Gegenteil sollte der Fall sein: Wenn die Schwierigkeiten unter den Christen größer werden, müssen wir bewusst lieben und diese Liebe so zum Ausdruck bringen, dass die Welt sie sehen kann.

Wir müssen uns also fragen: Ist mein Streitpunkt mit meinem Bruder in Christus wirklich entscheidend wichtig? Wenn ja, ist es doppelt wichtig, mir Zeit zu nehmen und den Heiligen Geist und Christus auf den Knien zu bitten, sein Werk durch mich und meinen Kreis zu tun, damit ich und wir sogar in dieser grundlegenden Meinungsverschiedenheit mit einem Bruder in Christus oder mit einem anderen Kreis von wahren Christen, dennoch Liebe zeigen können.

Liebe um einen hohen Preis

Als drittes müssen wir inmitten des Dilemmas einen greifbaren Liebesbeweis erbringen, auch wenn er uns etwas kostet. Das Wort Liebe darf nicht nur eine Phrase sein. Mit anderen Worten: wir sollen alles tun, was zu tun ist, um jeden Preis, um diese Liebe zu beweisen. Wir dürfen nicht sagen: „lch liebe dich“, und dann — bumm, bumm, bumm!

Oft denken die Menschen, das Christentum sei etwas Weichliches, eine Art von verschwommener Liebe, die das Böse wie das Gute liebt. Das ist nicht der biblische Standpunkt. Mit der Liebe Gottes ist gleichzeitig seine Heiligkeit darzustellen. Wir dürfen deshalb nicht sagen, das Falsche sei recht, weder im Bereich der Lehre noch in dem des Wandels, in unserem eigenen Kreis oder in einem anderen. Überall ist das Falsche falsch, und wir sind in dieser Situation dafür verantwortlich, das Falsche auch falsch zu nennen. Und doch muss die sichtbare Liebe um jeden Preis dabei sein.

Die Bibel läßt uns keine andere Wahl. In 1 Korinther 6, 1—7 stehen diese Worte: Wie darf jemand von euch, der eine Beschwerde gegen einen anderen hat, sich bei den Ungerechten (das heißt den Ungeretteten) richten lassen, anstatt bei den Heiligen? Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? Wenn nun durch euch die Welt gerichtet werden soll, seid ihr dann unwürdig, über die allergeringsten Dinge zu entscheiden? Wisset ihr nicht, daß wir Engel richten werden? Warum denn nicht auch Dinge dieses Lebens? Wenn ihr nun über Dinge dieses Lebens Entscheidungen zu treffen habt, so setzet ihr solche zu Richtern, die bei der Gemeinde nichts gelten. Zur Beschämung sage ich‘s euch; demnach ist also nicht ein einziger Sachverständiger unter euch, der ein unparteiisches Urteil fällen könnte für seinen Bruder; sondern ein Bruder rechtet mit dem andern, und das vor Ungläubigen! Es ist überhaupt schon schlimm genug für euch, daß ihr Prozesse miteinander führet. Warum lasset ihr euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasset ihr euch nicht lieber übervorteilen?

Was bedeutet das? Die Gemeinde soll nicht fünf gerade sein lassen; aber der Christ sollte lieber einen praktischen, finanziellen Verlust hinnehmen, um damit die Einheit der wahren Christen zu dokumentieren, anstatt andere wahre Christen vor Gericht zu verklagen; damit würde er nämlich die sichtbare Einheit vor den Augen der Welt zerstören. Eine solche Liebe kostet etwas, aber solche praktizierte Liebe ist sichtbar, Paulus spricht hier von einer Situation, die sichtbar und ganz real ist: In einer unvermeidlichen Auseinandersetzung mit seinem Bruder soll der Christ eine Liebe beweisen, die bereit ist, einen Verlust einzustecken — nicht nur einen finanziellen Verlust (obwohl für die meisten Christen die Liebe und Einheit aufzuhören scheint, wenn es um Geld geht), sondern jeden erdenklichen Verlust.Wie die besonderen Umstände auch aussehen mögen, in jedem einzelnen Fall sollen wir ganz praktisch unsere Liebe beweisen. Die Bibel ist ein Buch, das uns für jede Situation unseres Alltags etwas Handfestes zu sagen hat.

Viertens können wir unsere Liebe zeigen und beweisen, ohne am Fehler unseres Bruders mitschuldig zu werden, indem wir das Problem angehen mit dem Verlangen, es zu lösen und nicht nur die Oberhand zu behalten. Wir alle sind gern die Gewinner. Ja, keiner möchte lieber Recht behalten als gerade der Theologe. Die Geschichte der Theologie ist über weite Strecken hinweg gekennzeichnet durch das Verlangen, unbedingt der Sieger zu sein. Wir sollten uns jedoch vor Augen führen, dass wir bei unseren Meinungsverschiedenheiten um eine Lösung ringen müssen — eine Lösung, die Gott die Ehre gibt, die der Bibel entspricht, die aber gleichzeitig mit der Heiligkeit Gottes auch seine Liebe widerspiegelt. Welche Haltung nehmen wir ein, wenn wir uns mit unserem Bruder an einen Tisch setzen oder ein Gemeindekreis mit einem anderen zusammentrifft, um über Meinungsverschiedenheiten zu sprechen? Wollen wir unbedingt als Sieger da stehen? Wollen wir beweisen, dass wir dem anderer um eine Nasenlänge voraus sind? Wenn wir überhaupt Liebe üben wollen, dann müssen wir uns bei solchen Diskussionen um Lösungen bemühen und nicht um jeden Preis recht zu behalten versuchen.

Streitfragen — verschieden gelöst

Ein fünfter Weg, praktische, für die Welt sichtbare Liebe zu zeigen, liegt in der Einsicht, die wir uns und den andern immer wieder bewusst vor Augen halten müssen, daß es leicht ist, Kompromisse zu schließen und Unrecht Recht zu nennen, dass es aber ebenso leicht ist, unsere Pflicht zur Einheit in  Christus zu vergessen. Diese Einstellung sollte ständig zielbewusst gestärkt und in Wort und Schrift innerhalb unserer Kreise, wie auch unter den einzelnen Gemeindegliedern gefördert werden. Darüber muss unbedingt gesprochen und geschrieben werden, ehe sich unter wahren Christen Zwiespalt erhebt.

Wir halten Konferenzen über alle möglichen Themen. Wer hat aber je von einer Konferenz gehört, die von der Frage bestimmt war, wie wahre Christen durch ihr Handeln Gottes Heiligkeit und gleichzeitig Gottes Liebe vor den Augen der Welt darstellen können? Wer hat je von Predigten oder Schriften gehört, die eingehend darlegen, wie man nach zwei Grundsätzen leben kann, die einander auszuschließen scheinen:

(1) nach dem Grundsatz der Reinheit der sichtbaren Kirche in Bezug auf Lehre und Wandel und

(2) dem Grundsatz der sichtbaren Liebe und Einheit unter allen wahren Christen?

Sind wir denn wirklich so naiv zu glauben, wir könnten uns bei notwendigen Auseinandersetzungen mit wahren Christen richtig verhalten, wenn vorher über diese Dinge nicht eingehend gepredigt und geschrieben worden ist? In den Augen der Welt wird eine sichtbare Liebe inmitten einer Streitfrage einen Unterschied zwischen den Differenzen bei Christen und den Differenzen bei anderen Menschen aufzeigen. Die Welt mag nicht verstehen, worüber die Christen geteilter Meinung sind, aber sie wird rasch den Unterschied zwischen unseren Auseinandersetzungen und denen in der Welt verstehen, wenn sie sieht, dass wir unsere Streitfragen mit offener und wahrnehmbarer Liebe auf praktischer Ebene begleiten.

Das ist ein himmelweiter Unterschied! Sehen wir nun, weshalb Jesus sagte, diese Tatsache werde die Aufmerksamkeit der Welt fesseln? Niemand kann von der Welt erwarten, lehrmäßige Unterschiede zu verstehen, besonders in unserer Zeit, wo die Existenz von wahrer Wahrheit und absoluten Werten selbst als Theorie undenkbar erscheint.

Wir können von der Welt kein Verständnis dafür erwarten, dass wir aufgrund der Heiligkeit Gottes eine andere Art von Auseinandersetzungen kennen, weil wir mit Gottes absoluten Maßstäben rechnen. Wenn sie aber Auseinandersetzungen unter wahren Christen sieht, die dabei dennoch eine sichtbare Einheit dokumentieren, dann wird der Weg gebahnt, auf dem die Welt die Wahrheit des Christentums wahrnehmen und den Anspruch Christi, dass der Vater den Sohn gesandt hat, verstehen kann.

Tatsächlich können wir bei Meinungsverschiedenheiten besser zeigen, was Jesus hier sagen will, als wenn wir keine Schwierigkeiten hätten. Es dürfte jedem einleuchten, dass wir deshalb nicht nach Differenzen unter Christen suchen sollen: Es gibt deren genug, ohne noch mehr zu suchen. Aber dennoch haben wir inmitten der Schwierigkeiten unsere große Chance. Wenn alles glatt läuft und wir als eine „freundliche Schar“ zusammenstehen, gibt es für die Welt nicht viel zu sehen. Wenn es aber zu einer wirklichen Auseinandersetzung kommt und wir kompromisslos an den Grundsätzen festhalten, gleichzeitig aber wahrnehmbare Liebe beweisen, dann kann die Welt hier etwas sehen, etwas, woraus sie schließen kann, dass hier wirklich Christen sind und Jesus tatsächlich vom Vater gesandt worden ist.

Praktizierte Liebe

Lassen Sie mich zwei eindrucksvolle Beispiele von solch wahrnehmbarer Liebe erwähnen. Das eine trug sich unmittelbar nach dem letzten Krieg innerhalb der Brüderbewegung in Deutschland zu. Um die Kirche in den Griff zu bekommen, befahl Hitler durch gesetzliche Gleichschaltung den Zusammenschluss aller religiösen Gruppen in Deutschland. Die Brüdergemeinde spaltete sich über dieser Frage. Die eine Hälfte beugte sich dem Diktat, und die andere Hälfte verweigerte den Gehorsam. Die Nachgiebigen hatten natürlich viel weniger Schwierigkeiten, aber der organisatorische Zusammenschluss mit liberalen Kreisen verwässerte allmählich ihre klare Lehre und ihr geistliches Leben. Auf der anderen Seite blieb die nicht gleichgeschaltete Gruppe geistlich bei Kräften, aber es gab kaum eine Familie ohne Todesopfer in deutschen Konzentrationslagern.

Können wir uns die emotionale Spannung vorstellen? Der Krieg ist vorbei, und diese Christen stehen sich wieder gegenüber. Sie vertraten dieselbe Lehre und hatten für mehr als eine Generation zusammengearbeitet. Was sollte nun geschehen? Da ist ein Mann, der den Tod seines Vaters im Konzentrationslager beklagt und der die anderen sieht, die solchen Prüfungen entgangen sind. Doch auch auf der anderen Seite gibt es viele gefühlsmäßige Vorbehalte.

Schritt um Schritt kamen diese Brüder nun zu der Überzeugung, dass es so einfach nicht weitergehen konnte. Es wurde ein Zeitpunkt für ein Treffen der Ältesten aus beiden Gruppen an einem stillen Ort angesetzt. Ich fragte den Mann, der mir das erzählte: „Was haben Sie nun getan?“ Er antwortete: „Das will ich Ihnen sagen. Wir kamen zusammen, und einige Tage lang prüfte ein jeder sein eignes Herz.“ Hier bestand eine wirkliche Uneinigkeit; die Gefühle waren zutiefst aufgewühlt. „Mein Vater kam ins Konzentrationslager; meine Mutter ist verschleppt worden.“ Solche Erfahrungen sind nicht nur kleine Kieselsteine im Fluß der Ereignisse; sie reichen in die tiefsten Quellen menschlicher Empfindungen hinab. Diese Menschen aber verstanden das Gebot Christi in ihrer Lage, und so verharrten sie mehrere Tage hindurch in Selbstprüfung und dachten über die eigenen Fehler und über die Gebote Christi nach. Dann kamen sie wieder zusammen.

Ich fragte den Mann: „Was geschah nun?“ „Wir waren einfach wieder eins“, antwortete er. Genau das meint Jesus, davon bin ich überzeugt. Der Vater hat den Sohn gesandt!

Getrennt, und doch eins

Der Grundsatz, von dem wir sprechen, ist allgemeingültig, überall und jederzeit zutreffend. So möchte ich nun ein zweites Beispiel geben — eine andere Anwendung desselben Grundsatzes. Ich habe jahrelang Ausschau gehalten, um zu sehen, ob je einmal zwei Gruppen von wiedergeborenen Christen, für die eine Zusammenarbeit aus guten Gründen nicht möglich ist, sich ohne bittere gegenseitige Vorwürfe trennen könnten. Lange Zeit habe ich auf das Ereignis gehofft, dass zwei Gruppen die eine organisatorische Einheit nicht mehr aufrechterhalten können, der außenstehenden Welt den Beweis der weiterbestehenden Liebe zueinander bieten würden. Theoretisch sollte natürlich jede örtliche Gemeinde ihren Dienst in allen Schichten der Gesellschaft ausüben können. In der Praxis müssen wir aber zugeben, dass dies in gewissen Situationen sehr schwierig ist. Die Bedürfnisse der verschiedenen Gesellschaftsschichten sind doch sehr unterschiedlich.

Vor kurzem ist ein Problem dieser Art in einer Gemeinde einer großen Stadt im mittleren Westen der Vereinigten Staaten entstanden. In diese Gemeinde kam eine Reihe von Leuten, die sich in ihrem Lebensstil bewusst modern gaben. Mit der Zeit kam der Pastor zur Überzeugung, dass er in Amt und Predigt nicht beiden Teilen dienen konnte. Manchen mag das gelingen, er fand es jedoch unmöglich, allen Gruppen seiner Gemeinde — sowohl den „Langhaarigen“ und ihren avantgardistischen Begleitern, als auch den Leuten aus der umliegenden Nachbarschaft — gerecht zu werden. Das Beispiel sichtbarer Liebe, das ich nun beschreiben will, darf nicht als in der heutigen Zeit selbstverständlich betrachtet werden. In unserer Generation kann sich die Lieblosigkeit nur zu leicht in beiden Richtungen zeigen: Menschen der bürgerlichen Mittelschicht können sehr wohl den langhaarigen Christen gegenüber distanziert und lieblos sein, genauso wie auch diese langhaarigen Christen mit den kurzhaarigen unfreundlich umgehen können. Nach einem längeren Versuch der Zusammenarbeit versammelten sich die Ältesten und kamen überein, zwei Gemeinden zu organisieren. Es wurde ausdrücklich unterstrichen, dass die Trennung nicht wegen verschiedener Lehrauffassungen stattfand; die Teilung erfolgte aus reiner Zweckmäßigkeit. Ein Mitglied des Ältestenrates begab sich zu der neuen Gruppe. In Beratungen des ganzen Ältestenrates wurde ein ordnungsgemäßer Übergang ausgearbeitet. Nun bestehen zwei Kirchen nebeneinander, die in tatsächlicher Liebe miteinander verkehren. Hier wurde die organisatorische Einheit aufgegeben, um der wahren Liebe und Einheit Raum zu schaffen, und zwar einer Liebe und Einheit, die die Welt zu sehen vermag. Der Vater hat den Sohn gesandt!

Aus innerster Überzeugung möchte ich noch einmal betonen, dass wir im Ringen um die rechte Verkündigung des Evangeliums in diesem zwanzigste Jahrhundert unsere Botschaft unbedingt durch unsere wahrnehmbare Liebe glaubwürdig machen müssen. Diese entscheidende Apologetik dürfen wir nicht vernachlässigen! Die Welt beobachtet uns mit vollem Recht, um zu sehen, wie wir als wahre Christen handeln, wenn Meinungsverschiedenheiten auftreten, und sie sollte sehen können, dass wir einander lieben. Unsere Liebe muss eine Form annehmen, die die Welt beobachten kann; sie muss sichtbar sein.

Das eine wahre Kennzeichen

Noch einmal wollen wir die Bibelworte betrachten, die das Kennzeichen des Christen so deutlich beschreiben: Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet; dass, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. (Johannes 13, 34.35)

Auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; auf dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. (Johannes 17,21)

Was wollen wir nun festhalten? Vorab, dass wir Christen aufgerufen sind, so wie der Samariter den halbtot geschlagenen Menschen mit Liebe umgab, alle Menschen als unsere Nächsten zu lieben, ja, sie zu lieben wie uns selbst. Des Weiteren sind wir geheißen, allen wahren christlichen Brüdern auch inmitten von Meinungsverschiedenheiten — großen oder kleinen — Liebe zu erweisen; sie auch dann zu lieben, wenn es uns etwas kostet, sie auch in Zeiten höchster Spannungen und Gefühlskrisen zu lieben und sie so zu lieben, dass die Welt es sehen kann. Wir sind, kurz gefasst, aufgefordert, in all unserem Verhalten Gottes Heiligkeit und Gottes Liebe zu beweisen, sonst betrüben wir den Heiligen Geist.

Liebe — und die durch sie bezeugte Einheit — ist das den Christen von Christus gegebene Kennzeichen, das sie der Welt vorweisen sollen. Nur durch dieses Kennzeichen kann die Welt erkennen, dass die Christen wirklich Christen sind und dass Jesus vom Vater gesandt worden ist.

Klage

(von Evangeline Paterson)

Weinet, weinet für alle
Die stehn im Werk des Herrn
Mit kühnem Blick
Und einem stolzen Herzen.

Ihre Stimme erhebt sich
In den Straßen, und ihr Ruf erklingt.
Sie zerbrechen das geknickte Rohr
Durch ihre große Kraft, und zertreten
Den glimmenden Docht.

Weinet nicht für die Geschmähten
(Denn ihr Gott wird ihren Schrei hören
Und der Herr wird ihnen Heil bringen)
Doch weinet, weinet für die Schmäher.

Denn wenn der Tag des Herrn
Gekommen ist und die Täler singen
Und die Hügel in die Hände klatschen
Und das Licht scheint
Dann werden ihre Augen sehen
An einem wüsten Ort
Die glimmende Glut.

Der bittere Rauch steigt
Auf in ihre Nase
Zerstochen sind ihre Füße
Von den Spitzen gebrochener Rohrhalme
Holz, Stroh und Stoppeln,
Kein Gras wächst mehr
Und alle Vögel sind entflogen.

Weinet, weinet für alle
Die verwüstet haben
Im Namen des Herrn.

Francis Schaeffer, Das Kennzeichen des Christen, Das Haus der Bibel, Basel 1971