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Die christliche Freiheit

Spätestens seit Joachim Gaucks Buch „Freiheit. Ein Plädoyer“ (2012) war der Freiheitsbegriff eine Zeitlang wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Als ehemaliger DDR-Bürger, der die dortigen Unfreiheiten kennengelernt hat, habe ich mich darüber gefreut. Ich kann es J. Gauck abnehmen, wenn er sagt, dass er sich „jene warme und tiefe Zuneigung zur Freiheit erhalten“ will und dass er „ihrer verändernden Kraft“ vertraut. Aber ich frage mich auch, was das für eine Freiheit ist, die er hier in solch hohen Tönen lobt, und in welcher Beziehung sie steht zur christlichen Freiheit, die Luther in seiner Freiheitsschrift als Inbegriff der christlichen Existenz ansieht.

Der moderne Freiheitsbegriff

Blicken wir deswegen zunächst auf die Entwicklung des modernen europäischen Freiheitsbegriffs. „Liberté, égalité, fraternité“ – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das waren die Leitthemen der Französischen Revolution, die bis heute an allen öffentlichen Gebäuden in Frankreich stehen (einschließlich vieler Kirchen), und die zweifellos die Quelle und der geistige Motor unserer Freiheitsvorstellungen geworden sind. In Artikel 1 der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (August 1789) heißt es „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“. Freiheit ist hier also das Ideal der allgemeinen Geltung der politisch-ökonomischen Menschen- und Bürgerrechte. Frei ist, wer weder politisch noch ökonomisch unterdrückt wird.

Dieser politische Freiheitsbegriff hat einen ungeahnten Siegeszug in Europa und den U.S.A. und darüber hinaus genommen. Friedrich Schiller hat ihn 1797 in seinem Gedicht „Die Worte des Glaubens“ glorifiziert: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei“. Beethoven hat ihm ein Denkmal gesetzt im Gefangenenchor seiner einzigen Oper Fidelio „O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben. Nur hier, nur hier ist Leben! Der Kerker eine Gruft“. (1805) Frankreich exportierte ihn in Gestalt der Freiheitsstatue in die U.S.A. (1886 eingeweiht).

Auch die kommunistische Bewegung schrieb sich zunächst die Freiheit im Sinn einer ausbeutungsfreien Staatsform auf die Fahnen. So heißt es in einem bekannten Arbeiterlied: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Licht empor! Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor.“ (1920) Doch in dem Maß, in dem die kommunistisch regierten Völker sich ihrer eigenen politischen Unfreiheiten bewusst wurden und die Ideale der Menschen- und Bürgerrechte erstrebten, wurde der Freiheitsbegriff für die kommunistischen Regierungen problematisch. Im Oktober 1989, nachdem die ersten Montagsdemonstrationen schon begonnen hatten, feierte die DDR-Führung noch mit Glanz und Gloria den 40. Jahrestag der DDR-Gründung, im Grunde ein gespenstischer Vorgang. Eine Karikatur zeigt die DDR-Herrscher auf der Rednerbühne, wie sie das alte Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ anstimmen und beim Wort Freiheit ins Stocken und Schwitzen kommen. Die Revolution, die im Namen politischer Freiheit begonnen hatte, begann nun ihre kommunistischen Kinder zu fressen. Im Westen lebten und leben indes die alten Ideale der Französischen Revolution ungebrochen weiter. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom Mai 1949 zehrt von ihnen. In Art. 2 heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit…Die Freiheit der Person ist unverletzlich“.

Kurze Analyse

Seit über 200 Jahren versteht man in der westlichen Welt unter Freiheit diese politisch-ökonomische und individuelle Freiheit. Dass das Menschsein aber noch von ganz anderen Zwängen wie z.B. Neid, Lüge, Egoismus, Tod und Teufel bedrängt wird, das ist aus dem öffentlichen Bewusstsein weithin verschwunden. Natürlich kann man den Siegeszug des politischen Freiheitsbegriffs verstehen und nachvollziehen. Die jahrhundertelange Willkürherrschaft des Königtums und der Kath. Kirche gerade in Frankreich hatte den Nährboden geliefert. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sich seit der Französischen Revolution in Europa und darüber hinaus ein einseitiges Menschenbild etabliert hat, das den Menschen im Wesentlichen nur von politischen Autokraten, wirtschaftlichen Ausbeutern und polizeilicher Willkür unterdrückt sieht. Offensichtlich ist es den christlichen Kirchen nicht gelungen, die noch viel schlimmeren Menschheitsunterdrücker Sünde, Tod und Teufel und das Befreiungspotential gegen sie im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. So wurde der reformatorische Freiheitsbegriff in den Stammländern der Reformation zu einem Fremdkörper.

Die Knechtung durch Sünde, Tod und Teufel

Die Inhalte der gesellschaftlichen Diskussionen heute bestätigen diese Analyse. Die Großmächte Sünde, Tod und Teufel sind aus dem Blick geraten und die politischen und ökonomischen Unfreiheiten und individuellen Benachteiligungen haben ihren Platz eingenommen. Sie sind heute das zentrale gesellschaftliche Kampfgebiet. Man merkt das schon an den Nachrichten. Streiks, Tarifverhandlungen, Streitigkeiten um Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit nehmen den meisten Platz ein. Was jedoch Sünde, Tod und Teufel mit dem Menschen machen, tritt in den Hintergrund. Und wenn es diskutiert wird, dann hilflos, resignativ und defensiv. Dabei sind doch gerade die Folgen dieser Zwangsherrschaften viel schlimmer als Einschränkungen auf dem Gehaltskonto. Werfen wir einen Blick auf diese Folgen und wie wir in unserer Gesellschaft damit umgehen.

So sehr heute die Realität von Sünde, Tod und Teufel vergessen ist, so sehr ist auch die reformatorische Botschaft von der Befreiung aus ihrer Zwangsherrschaft vergessen. Desto dankbarer dürfen wir für Luthers Freiheitsschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ von 1520 sein. Sie ist im Grunde nicht nur eine Reformationsschrift unter anderen, sondern ein Gottesgeschenk an die Menschheit. Welch eine großartige Botschaft, dass es eine Befreiung von Sünde, Tod und Teufel gibt! Diese Schrift ist nicht nur „das Gründungsmanifest des modernen Europa“, wie sie Klaus-Rüdiger Mai in seinem Buch „Gehört Luther zu Deutschland?“ nennt, sie ist auch epochal für die christliche Glaubensgeschichte, weil sie das ursprüngliche Evangelium, das die Apostel verkündigt haben, wieder auf den Leuchter gehoben hat. Wie kam Luther zu seinen Einsichten?

Luthers Kampf gegen Sünde, Tod und Teufel

Um geistlich kompetent über die Freiheit von den Großmächten Sünde, Tod und Teufel reden zu können, muss man selber gegen sie gekämpft und gesiegt haben. Hier kann Luther mitreden.

Was die Sünde betrifft, verdanken wir Luther eine einmalige Tiefenschau, die aus seinen inneren Kämpfen aus der Mönchszeit herkommt. In Erfurt hat er mit Selbstkasteiung und einer völlig überzogenen Beichtpraxis verzweifelt und vergeblich gegen die Sünde angekämpft. Sein Beichtvater Johann von Staupitz tadelte ihn öfters wegen der „Puppensünden“, die Luther vorbrachte. Eine wirkliche Vergebungsgewissheit hat er dabei nicht gehabt.

Aber diese Zeit prägte seine Sündenerkenntnis. Niemand vor ihm hat die Sünde so fundamental definiert wie er. Der Mensch lebt in einer Dauerübertretung des 1. Gebots, weil er nicht sein ganzes Vertrauen auf Gott setzt. „In allem, was er tut und lässt, sucht er mehr seinen Nutzen, Willen und Ehre, als Gottes und seines Nächsten. Darum sind alle seine Werke, alle seine Worte, alle seine Gedanken, all sein Leben böse und nicht göttlich“ (Von den guten Werken, 1520). „Der Mensch ist so sehr in sich verkrümmt, dass er nicht nur die leiblichen, sondern auch die geistlichen Güter sich selbst zudreht und sich in allem sucht“ (Römerbriefvorlesung 1515/16). Von sich aus kommt der Mensch aus dieser Lage nicht heraus. Er ist so sehr verdorben, dass er nicht einmal das Gute wollen kann. Nur wenn Gott nach ihm greift und seinen Willen lenkt, kann sich die Lage ändern.

Der Tod eines Menschen war für Luther niemals nur ein rein biologisches Geschehen, sondern immer „ein unendlicher und ewiger Jammer und Zorn“, weil er durch „Gottes Zorn angetan und auferlegt“ sei. Das wissen allerdings nur Christen, betont der Reformator. Sie wissen aber auch, dass Gott sie durch den Tod von sich selber und von der Sünde frei macht, und so kann Luther beten „Hilf uns den Tod nicht fürchten, sondern begehren“ (Kurze Erklärung des Vaterunsers, 1519). Seinen eigenen Tod sah er nüchtern und ohne Wehleid. Zwei Tage vor dem Tod in Eisleben (18.2.1546) sagte er: „Wenn ich wieder heim gen Wittenberg komme, so will ich mich alsdann in den Sarg legen und den Maden einen feisten Doktor zu essen geben.“ So kann nur jemand reden, der mit dem Tod gekämpft und ihn innerlich überwunden hat.

Der Teufel ist in Luthers Augen der große Widersacher Gottes. Er hasst Christus und wirkt Blindheit gegenüber dem Wort Gottes, der Sünde und dem Gericht. Er ist der Fürst dieser Welt, aber Gott behält die Oberregie über ihn. Ein Kampf gegen den Teufel ist mit menschlichen Mitteln zwecklos. Gegen ihn hilft nur das Wort Gottes, so wie es Christus selber getan hat, als Satan ihn versuchte. So kommt Luther schließlich zu seinem triumphalen Fazit: „Ein Wörtlein kann ihn fällen“.

Die epochale Bedeutung der Freiheitsschrift

Um noch einmal auf den heute üblichen Freiheitsbegriff einzugehen, also auf die politischen, ökonomischen und individuellen Freiheiten: Zweifellos war die Reformation auch hier ein Wegbereiter. In seiner Adelsschrift von 1520 schreibt Luther den politischen Herrschern ihre Regierungspflichten ins Stammbuch. In der Schrift „Von Kaufhandlung und Wucher“ (1524) warnt er die Kaufleute und die Reichen vor wirtschaftlicher Ausbeutung anderer. Und auch die neuzeitlichen Individualrechte wie Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit sind in der Freiheitsschrift zumindest mit angelegt, wenn er den Christen definiert als einen Menschen, der sich aus Liebe um das Wohl seines Nächsten kümmert. Als Christen sollten wir all diese Freiheiten nicht geringschätzen. Als Ex-DDR-Bürger weiß ich wovon ich rede.

Aber die epochale Bedeutung der Freiheitsschrift liegt in der Wiederentdeckung des biblischen Freiheitsbegriffs und Menschenbildes. Es ist die Erkenntnis, dass der Christ im Glauben an Christus frei ist von der Macht der Sünde, des Todes und des Teufels, und es ist die Vergewisserung und der Zuspruch, dass der Christ damit befreit ist zu einem Leben in Liebe und Hingabe an seinen Nächsten.

Luther hat die Freiheitsschrift im Oktober 1520 in 12 Tagen geschrieben. Sie war eigentlich gedacht als letzter Versuch, eine Verständigungsbrücke zu Papst Leo X. zu schlagen. So erklärt sich der sehr devote und trotzdem erstaunlich selbstbewusste Begleitbrief. Luther hat die Schrift zugleich lateinisch und deutsch geschrieben. Sie war also von Anfang an auch gedacht als allgemeine christliche Unterweisung.

Wichtige Leitgedanken und Fazit der Freiheitsschrift

Der Traktat „Die Freiheit eines Christenmenschen“ ist keine evangelistische Schrift. Luther wendet sich an Christen, er setzt den christlichen Glauben voraus. Er will beschreiben, wer ein Christ ist und wie der Christ die Freiheit verstehen soll, die Christus erworben hat. Er will ein kurzes Manifest des Christentums verfassen. Dementsprechend heißt es im Begleitbrief an den Papst: „Es ist ein kleines Büchle, wenn das Papier angesehen wird, aber dennoch ist die ganze Summe eines christlichen Lebens darin begriffen, wenn der Sinn verstanden wird“.

Die Schrift ist zweigeteilt. Luther stellt sich damit in eine Linie mit Paulus, der seine Briefe ebenfalls zweigeteilt verfasst hat. Im ersten Teil wird der Glaube erklärt und gestärkt, im zweiten Teil wird zur tätigen Nächstenliebe ermahnt. Die beiden Teile werden gleich am Anfang mit einer paradox klingenden Doppelüberschrift eingeführt. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“. „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“.

Dann wird die doppelte Natur des Christen beschrieben. Wir würden heute eher sagen „seine zwei Seiten“. Er ist einerseits ein geistlicher Mensch, weil er im Glauben an Christus durch den Heiligen Geist ein neuer Mensch geworden ist. Als geistlicher Mensch ist er ein freier Herr über alles. Und er ist andererseits nach wie vor ein leiblicher Mensch, weil der neue Mensch im natürlichen Leib wohnt. Weil im natürlichen Leib die Egoismen und Begierden angelegt sind, muss er unter die Regie des neuen, inneren Menschen kommen. So wird er in die Lage versetzt, Taten der Liebe zu tun.

Der neue, innere Mensch lebt allein von Gottes Wort. Die biblische Bezugsstelle ist das Jesuswort in Mt 4,4 „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allen Worten, die aus dem Mund Gottes kommen“. Er kann alles entbehren und ist daher nicht von den äußeren Lebensbedingungen abhängig, sondern nur vom Reden Gottes durch die Heilige Schrift. Das Wort Gottes führt den inneren Menschen zur Sündenerkenntnis und zieht ihn zu Christus hin, wo er Vergebung findet. Es vollzieht sich ein „fröhlicher Wechsel“, bei dem Christus der Bräutigam dem gläubigen Christen alle Sünden abnimmt und ihm statt dessen vollen Anteil an all seinen Gütern gibt.

Ein weiterer Kerngedanke ist das Anteilbekommen am Königtum und Priestertum Christi, eine ganz großartige Passage. Im königlichen Stand müssen dem Christen alle Dinge zum Besten dienen. Insofern ist der Christ Herr über Sünde, Tod und Teufel. Er kann triumphieren über alle Widerwärtigkeiten seines Lebens, weil er nicht mehr von ihnen abhängig ist. Neid und Missgunst anderer Menschen können ihm ebenso wenig schaden wie eigene Schwächen und Fehler. Mir steht ein Christ vor Augen, der als Kind im 2. Weltkrieg bei einem Bombenangriff verschüttet wurde und seitdem stottert. Er wurde oft gehänselt, aber im Glauben hat er seinen Frieden gefunden. Er erzählte bei einer Kirchenvorsteherfreizeit aus seinem Leben. Er war einfacher Textilarbeiter. Bei einer Betriebsversammlung ging es um Entlassungen. Jeder durfte sich äußern, aber keiner sagte etwas aus Angst, er könnte der nächste sein. Nach einem langen Schweigen meldete er sich, der Stotterer. Er bekam das Mikrofon. Er sagte nicht viel, aber er rief die Belegschaft zu christlicher Solidarität auf, getreu dem Apostelwort „Einer trage die Last des anderen“. Das ist geistliches Königtum, wenn ein Christ ungeachtet persönlicher Nachteile aus Glauben und Liebe das tut, was sein Gewissen ihm sagt. Der biblische Bezug hierzu ist Röm 8,28.

Im priesterlichen Stand, so führt Luther weiter aus, dürfen die Christen vor den lebendigen Gott treten und für andere bitten, und sie dürfen sich dessen gewiss sein, dass Gott ihre Gebete erhört, so wie es Ps 145,19 sagt.

Damit der innere Mensch wachsen und stark werden kann, muss Christus so gepredigt werden, dass der Glaube entsteht, wächst und erhalten wird, und das heißt, dass sowohl die große geistliche Freiheit als auch die Liebestat gepredigt wird, zu der Christus befreit hat. Ein hochaktueller Aufruf an alle, die das Amt der Wortverkündigung haben!

Als äußerer Mensch ist der Christ ein soziales Wesen und als solches eingebunden in viele Verpflichtungen. Er muss lernen, seinen Leib zu regieren, nicht nach seiner egoistischen Lust zu leben, sondern in Liebe seinem Nächsten zu dienen. So wird der Christ ein williger Diener und dem anderen wie ein Christus. Er hilft ihm in jeglicher Hinsicht, leiblich und geistlich.

Die Freiheitsschrift schließt mit dem berühmten Satz: „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe“.

Der Apostel Paulus war wiederentdeckt, die großartige Befreiungstat Christi war wieder ans Licht gekommen.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius, Walsrode