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Predigt: Gebt ihr zu essen!

„Gebt ihr zu essen!“

Predigt am Sonntag, dem 18. November 2007 im ökumenischen Gottesdienst im Dom zu Riga anläßlich des nationalen Feiertages zum Gedächtnis der Proklamation der Republik Lettland am 18. November 1918

„Als Jesus zurückkam, nahm ihn das Volk auf, denn sie warteten alle auf ihn. Und siehe, da kam ein Mann mit Namen Jairus, der ein Vorsteher der Synagoge war, und fiel Jesus zu Füßen und bat ihn, in sein Haus zu kommen; denn er hatte eine einzige Tochter von etwa zwölf Jahren, die lag in den letzten Zügen… Als er noch redete, kam einer von den Leuten des Vorstehers der Synagoge und sprach: Deine Tochter ist gestorben; bemühe den Meister nicht mehr. Als aber Jesus das hörte, antwortete er ihm: Fürchte dich nicht; glaube nur, so wird sie gesund! Als er aber in das Haus kam, ließ er niemanden mit hineingehen als Petrus und Johannes und Jakobus und den Vater und die Mutter des Kindes. Sie weinten aber alle und klagten um sie. Er aber sprach: Weint nicht! Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft. Und sie verlachten ihn, denn sie wußten, daß sie gestorben war. Er aber nahm sie bei der Hand und rief: Kind, steh auf! Und ihr Geist kam wieder, und sie stand sogleich auf. Und er befahl, man solle ihr zu essen geben.“ (Lukas 8, 40-42; 49-55)

Die allergrößte Freude entsteht dann, wenn etwas anscheinend Unmögliches Wirklichkeit wird. Im Hause des Jairus gab es ein Fest. Ihre Tochter, ewiglich verloren, wurde vom Schlaf des Todes zu einem Leben voller Hoffnungen und Möglichkeiten auferweckt. Das war wie ein zweiter Geburtstag – nur größer und froher als der erste. Ihr Fest erinnert sehr an unseren 18. November, an den Tag, an dem wir der wundersamen Befreiung Lettlands von den Banden des Todes gedenken, und auf die Zukunft mit deren Hoffnungen und Möglichkeiten blicken. Auch vor 89 Jahren, als der Staat Lettland aus dem Nichts auferweckt wurde, gab es um ihn herum viele, die darüber lachten und sagten – ein hoffnungsloses Unterfangen. Ebenso gab es in den Tagen des nationalen Erwachens und der Wiederherstellung der staatlichen Eigenständigkeit viele ungläubige Lacher, die sagten: „Was bildet ihr euch ein? Meint ihr wirklich, daß Lettland als souveräner Staat weiterleben kann?“ Doch dann geschah es tatsächlich. Lettland erhob sich aus dem Nichts. Es erhob sich aus dem Grabe der sowjetischen Besatzung und Unterdrückung.

In diesem Jahr macht ein ganz besonderes Geschenk unseren Staatsfeiertag sehr schön – der Film „Die Wächter Rigas“. Dieser Film stellt sehr scharf dar, wie unmöglich, wie hoffnungslos im Jahr 1918 das Vorhaben der Gründung des Staates Lettland und dessen Verteidigung vor den Kräften der Feinde und der Gleichgültigkeit der Verbündeten erschien. Etwas Ähnliches können wir in den Filmen von Raits Valers sehen, die über die Zeiten des nationalen Erwachens berichten. Ja, das waren wirklich Wunder – ebenso wie die Auferweckung des gestorbenen Mädchens vom Tod. Dafür danken wir heute Gott. Ein jeder von uns möchte doch ganz bestimmt Augenzeuge eines Wunders sein. Viele möchten sicher auch sehen, wie ein Wunder geschieht. Aber erinnern wir uns doch, wer im Hause des Jairus an der Auferweckung des Mädchens teilnehmen durfte. Wir lesen: „Als er aber in das Haus kam, ließ er niemand mit hineingehen als Petrus und Johannes und Jakobus und den Vater und die Mutter des Kindes.“ Mitkommen durften diejenigen, die am meisten glaubten, hofften und liebten. In deren Gegenwart wurde die Tote lebendig gemacht. Draußen blieben die Lacher, Ungläubigen, die Mißgünstigen, die Selbstsüchtigen, die einfach Neugierigen und die Gleichgültigen. Ebenso war es 1918 und während der Freiheitskämpfe.

Ebenso war es während der Zeit des nationalen Erwachens. Das Unmögliche wurde möglich und Wunder geschahen, an denen diejenigen teilhaben durften, die so glaubten, hofften und liebten, wie es Jesus sagte – niemand hat größere Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde. Am Jahrestag der Proklamation der Republik Lettland danken wir für die Menschen, die es vermochten, so selbstlos zu glauben, zu hoffen und zu lieben, daß Gott durch sie das Wunder tun und Lettland zu einem Leben voller Hoffnungen und Möglichkeiten erbauen konnte. Der 18. November ist stets mit Patriotismus verbunden. Patriotismus ist zu allererst die Bereitschaft, selbstlos zu hoffen und zu lieben.

In diesem Jahr begehen wir das Fest in einer aufregenden Zeit, und denken dabei weniger an die ruhmreichen Siege der Vergangenheit, als daß wir unsere Blicke auf unsere Gegenwart und Zukunft richten. So mancher meint, daß es heute eines neuen Wunders bedarf, eines neuen Aufwachens, einer neuen Auferstehung wie in den Jahren 1918 und 1991. Doch blicken wir noch einmal auf das Geschehen im Hause des Jairus. Jesus tut das, was nur er allein tun kann. Er zerbricht die Macht des Todes und schenkt dem Mädchen das Leben. Doch gleich danach befiehlt er: „Gebt ihr zu essen!“

Diesen Befehl können wir auch als Gottes Auftrag an uns gegenüber der auferweckten Prinzessin Lettland annehmen. Gott hat das Seine getan. Er hat dieses Land auferweckt zu einem freien und unabhängigen Staat. Jetzt seid ihr an der Reihe. Gebt ihr ihm zu essen. Das Zu Essen Geben erschöpft sich nicht in einigen Kampagnen oder Aktionen. Zu Essen Geben bedeutet, mit dem zu versorgen, was am Leben erhält, Kraft gibt, wachsen läßt – Tag für Tag, drei Mal täglich, bis zum Ende des Lebens. Zuerst geht es dabei selbstverständlich um die Nahrung und Bekleidung. Das sind die alltäglichen Bedürfnisse des Menschen. Es stimmt froh, daß wir an unserem Staatsfeiertag stolz sagen können, daß wir eine stark wachsende Wirtschaft haben und das stärkste Wachstum bei der Gesamtproduktion sowie andere Anzeichen, die zu deuten einem Nichtfachmann kaum möglich sind. Wir tun gut daran, wenn wir sie wahrnehmen und anläßlich eines Festes allen danken, die sie bewirkt haben. Doch der Mensch lebt nicht von Zahlen allein. Tag für Tag lebt er sein einmal geschenktes und sich nicht wiederholendes und nicht mehr wiederkehrendes Leben. Und dann sieht die Landschaft am Feiertag ganz anders aus.

Wir können uns freuen über die wachsenden Prozentzahlen bei der Gesamtproduktion, aber wir können uns nicht darüber freuen, wenn jemand durch fleißige und ehrliche Arbeit nicht mehr eines würdigen Lebens und ruhiger Tage im Alter gewiß sein kann. Wir können uns freuen, wenn Letten mit der eigenen Yacht in den Urlaub nach Ägypten oder Thailand segeln oder die ganze Welt bereisen können, aber wir können uns nicht freuen, wenn sich viele keine Fahrkarte für die Heimfahrt mit dem Bus, die in diesem Jahr wieder teurer wird, leisten können. Wir können uns freuen, wenn wir unsere Beamten gut bezahlen können, wir können uns aber nicht darüber freuen, wenn ein Lehrer oder eine Krankenschwester 10 Mal (!) weniger verdient. Wir können uns über jedes lettische Kind freuen, das eine der besten Schulen Europas besucht, aber wir können uns nicht über Kinder freuen, die im Lettland des 21. Jahrhunderts Analphabeten bleiben und an Tuberkulose oder an AIDS erkranken. Solange es noch Dinge gibt, über die man sich in gleichem Maße freuen oder nicht freuen kann, nagt Lettland weiterhin am Hungertuch. Christus sagt: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Das ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern viel mehr ein ethischer Begriff. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Prozentzahlen bei der Gesamtproduktion als um Gerechtigkeit und um die Fähigkeit, unseren Mitmenschen anzuhören, uns in sein Leben hineinzudenken und etwas zu tun. Der 18. November ist die beste Gelegenheit dafür, uns selbst zu fragen, ob ich das weiterhin noch vermag. Patriotismus ist zuerst der Wunsch, zu denen zu gehören, die hören, verstehen, und die das Vernommene auf sich selbst beziehen.

Gebt ihr zu essen… Oft sehnt sich jemand mehr als nach Brot nach klaren und verständlichen Prinzipien. Weshalb hat der Film „Die Wächter Rigas“ die Herzen der Menschen so bewegt? Weil sie in ihm das entdeckten, wonach sie sich täglich sehnen – klare Motive, selbstlosen Mut, eine, wenn auch gelegentlich recht grobe, so doch ehrliche und selbstlose Liebe des Vaterlandes. Eine der eindrucksvollsten Episoden ist ein kurzer Dialog, bei dem Niedra in einem ganz kritischen Augenblick (den späteren Staatspräsidenten) Ulmanis auffordert: „Denk an dich, Kārlis!“, Ulmanis aber ihm die Gegenfrage stellt: „Meinst du wirklich, daß die dort auf der Brücke im Kugelhagel an sich denken?“ Bei dem Aufbau eines Staates steht man oft vor viel komplizierteren Aufgaben als vor heldenhaften militärischen Operationen. Doch ist es äußerst wichtig, daß das Volk selbst bei den kompliziertesten und verborgensten Dingen, die am schwersten zu begreifen sind, die gleichen klaren und ungeheuchelten selbstlosen Motive spürt, mit denen sich die Wächter Rigas den Bermont-Verbänden entgegenstellten. Auch hier ist die Anordnung Jesu „Gebt ihr zu essen“ mehr eine ethische Frage als eine professionelle Weisung.

Wenn wir von den Motiven sprechen, dann begegnen wir im Evangelium einem anderen sehr bezeichnenden Geschehen. Einmal fragte Jesus seine Jünger: „Worüber redet ihr da miteinander?“ Sie schwiegen betroffen, denn eben hatten sie miteinander darum gestritten, wer von ihnen der Größte sei und auf welchem Stuhl ein jeder im Reiche Gottes sitzen würde. Zwei von ihnen versuchten sogar, sich, ohne daß es die anderen merkten, die Berechtigung zu erschleichen, zur Linken und zur Rechten Jesu sitzen zu dürfen. Jesus aber sprach: „Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch, sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht.“

Auch in Lettland ist heute die Frage wieder aktuell, wer auf welchem Stuhl sitzen soll. Dabei sollten wir uns deutlich machen, welches die Grundlage der Macht ist. Vielleicht sagen wir – die Demokratie oder die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Doch die Mehrheit der Stimmen ist in Christi Augen nicht die Grundlage der Macht. Die Stimmenmehrheit ist nur der gesetzliche Weg, auf dem jemand zu einem Amt kommt. Die Grundlage der Macht liegt im Wunsch und in der Bereitschaft, zu dienen. Groß zu werden im Dienen. Wer unter euch groß sein will, der sei euer aller Knecht. Unser Volk gedenkt in Dankbarkeit derer, die dadurch groß waren, daß sie nicht über uns herrschten, sondern uns dienten. Die Gespräche darüber, wer auf welchem Stuhl sitzen sollte, müßten ein Wettstreit um die Berechtigung sein, sich selbst zu verleugnen und zum Diener aller zu werden. Das Wort „Minister“ können wir mit „Diener“ übersetzen und das Wort „Premierminister“ mit „erster Diener“ oder „Diener der Diener“. Die Macht wird erst durch die Motivation zu dienen legitimiert. Das aber ist weniger eine Frage der Politik oder Demokratie als eine Frage der Ethik.

In diesem Jahr ist am 18. November die Zeit gekommen, von unseren Leitern ganz besonders auf dem Gebiet der Ethik Rechenschaft zu fordern. Und das ist recht. Das ist nicht nur das Recht, sondern sogar auch die Pflicht des Volkes. Sicher ist es nicht richtig, wenn wir nach dem Prinzip verfahren, daß man über den Leiter nur Schlechtes oder überhaupt nichts sagt. Es ist schwer, Gerechtigkeit zu fordern, wenn wir selbst nicht gerecht sein wollen. Und wir würden einen Fehler begehen, wenn wir meinten, daß die Worte Christi „gebt ihr zu essen“ nur die Leitenden beträfe. Sie betreffen alle und alles. Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem jungen Mann. Er sagte, daß es heutzutage schon eine große Sache wäre, ein Mädchen zu finden, das dich nicht mit deinen engsten Freunden betrügt, sondern das weiter entfernt und nicht öfter als einmal im Monat tut. Das könnte uns sehr privat und nur den Einzelnen betreffend erscheinen, und nichts mit dem Fragenkomplex zu tun haben, der uns am Staatsfeiertag beschäftigt. Und trotzdem hängt das alles miteinander zusammen. Betrug ist Betrug in der engsten Gemeinschaft ebenso wie im Geschäftsleben oder in der Politik. Wer bereit ist, einmal zu betrügen, der wird ganz sicher auch vor dem nächsten Betrug nicht zurückschrecken.

Als ich die Schilderung der Umwelt durch den jungen Mann hörte, überkam mich das Gefühl, daß wir noch gar nicht begriffen haben, wie weit sich unsere Zivilisation von den einst geltenden Vorstellungen über Ehre und Sitte entfernt hat. Der Zerfall der Moral kam überhaupt nicht spontan, sondern war ein zielbewußt geleiteter und gewollter Vorgang. Ist es nicht ein Widerspruch in sich, wenn irgendwelche Leute, gesellschaftliche Organisationen oder Medien, die sich sehr darum gemüht haben, die Normen der geltenden Moral aus dem Denken der Gesellschaft, aus den staatlichen Gesetzen und noch mehr aus dem Bewußtsein und Handeln der Menschen zu entfernen, plötzlich auf anderen Gebieten Moral fordern? Selbst wenn diese Forderungen berechtigt sein sollten, sind sie nicht konsequent und können keine Frucht bringen. Eine sittliche Politik kann nur aus einer sittlichen Gesellschaft herauswachsen. Es ist nicht möglich, das eine zu schaffen, ohne daß man das andere berücksichtigt. Und das ist nur mit Gottes Hilfe und mit gemeinsamen Anstrengungen zu bewirken.

Christus sprach: „Ich habe sie vom Tod auferweckt. Jetzt seid ihr dran und müsst ihr zu essen geben.“ Unser Lettland zu speisen, zu stärken, am Leben zu erhalten, ist viel mehr ein geistlicher, seelischer, ethischer als ein wirtschaftlicher oder juristischer Auftrag. Der Bericht über das Fest im Hause des Jairus beginnt mit den Worten: „Als Jesus zurückkam, nahm ihn das Volk auf, denn sie warteten alle auf ihn.“ Damit beginnt die Auferstehung und ein Leben voller Hoffnungen und Möglichkeiten. Was schenken wir Lettland heute an seinem Geburtstag? Wie feiern wir das Fest seiner Auferweckung? Das wertvollste Geschenk wäre das ernsthafte Gespräch eines jeden von uns mit Christus, bei dem wir ihm in die Augen blicken und dabei unser eigenes Gewissen und unsere Motive erforschen. Dabei werden wir auf Dinge stoßen, über die wir mit ihm am liebsten nicht reden mögen. Doch gerade über sie mit ihm zu sprechen, ist das Wichtigste. „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“ sagt er. „Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.“

Was ist das für eine Tür. an die Jesus anklopft? Sie verschließt unser Herz ganz fest, und hinter ihr verbirgt sich in der Finsternis alles, was wir niemandem zeigen möchten, nicht einmal uns selbst. Wenn wir sie für Christus auftun und es ihm gestatten, daß er unsere Herzenskammer reinigt, durchlüftet und hell macht, dann kann das eigentliche Fest der Geburt und Auferstehung beginnen, und das Mahl, bei dem nicht nur unsere Seele gespeist wird, sondern auch Lettland. „Gebt ihr zu essen“ heißt eigentlich – gebt euch und anderen – Großen und Kleinen, Jungen und Alten, Starken und Schwachen, Reichen und Armen – der Gesellschaft und dem Volk die Möglichkeit, in einem ernsthaften und offenen Gespräch des Herzens Christus zu begegnen.

Gott segne Lettland!

(Anmerkung des Übersetzers: Mit diesen Worten beginnt die lettische Nationalhymne.)

Aus Svētdienas Rīts, Zeitung der Evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands, Nr. 43 vom 24.November 2007
(Übersetzung Johannes Baumann)