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Botschaft zum Reformationsfest 2005

Botschaft zum Reformationsfest 2005

Was bedeutet für uns die Reformation? Gewöhnlich stehen uns die Ereignisse vor Augen, die mit einem unbeugsamen Mut, einer großer Begeisterung und einem festen Glauben verbunden sind, für den die Menschen bereit waren, ihr Leben hinzugeben. Dabei erinnern wir uns zuerst an die Worte Luthers „hier stehe ich, ich kann nicht anders“, seine leidenschaftlichen Dispute und seine polemischen Schriften. Wir erinnern uns an die Unruhen jener Zeit, Luthers Zorn über die „Schwärmer“ und Bilderstürmer, an die Einflüsse der weltlichen Mächte, an seine Internierung auf der Wartburg, an seine Exkommunikation und das Verbrennen der päpstlichen Bulle. Wir erinnern uns auch an seine unermüdliche Arbeit, an die Übersetzung der Bibel und der Gottesdienstordnung in die Sprache des Volkes, an die Verfassung des Katechismus und vieler theologischer Schriften. Deshalb bringt das Reformationsfest viele unserer Gläubigen in die Stimmung heldenhafter Kämpfe und mancher Erfolge, wie sie vielleicht auch die Patrioten Lettlands empfinden mögen, wenn wir an unserem Nationalfeiertag und an anderen Gedenktagen am Ufer der Düna Kerzen anzünden und uns vornehmen, genau so zu handeln wie die Helden der Befreiungskämpfe.

Und dennoch, mag das alles so bedeutend und heroisch gewesen sein, so sind diese Ereignisse unserer Geschichte nicht die Reformation, sondern sie erinnern nur an die Situation um sie herum. Nach meinem Empfinden ist die Reformation ihrem tiefsten Wesen nach ein Fest der Gnade und bedingungslosen Liebe. Das Reformationsfest ist ein Tag, an dem wir der Freigiebigkeit unseres Herrn Jesus Christus gedenken, mit der er die am Kreuz erkämpfte und mit seinem Blut erkaufte Gerechtigkeit dem Sünder schenkt, der an ihn glaubt. Daran mußte ich ganz besonders soeben beim Lesen des Buches von Bischof Bo Giertz „Gottes Hammer“ denken. Eine der eindrucksvollsten Episoden darin ist ein Gespräch zwischen zwei Leuten vom Lande – zwischen Katharina und dem sterbenden Johannes. Groß ist die Verzweiflung des Johannes angesichts des ihm bevorstehenden Todes. Man sagt, daß vor einem sterbenden Menschen sein ganzes Leben blitzartig vorüberziehen würde. Für Johannes ist diese Erfahrung eine harte Predigt des Gesetzes. Bei vielen Perioden seines Lebens entdeckt er sein hartes Herz und sein sündhaftes Wesen. Er erkennt, wie verpfuscht seine guten Werke und die Leistungen seines Glaubens und wie unvollkommen seine Sündenbekenntnisse waren. Der gut gebildete Pastor, der ein intensives humanistisches und philosophisches Studium absolviert hatte, konnte ihn auch nicht damit trösten, daß er sagte, daß Johannes eine bessere und gerechtere Seele hätte als jeder andere, dem er in seinem Leben begegnet wäre. Was hat der Vergleich mit anderen Menschen überhaupt für eine Bedeutung? Gott wird Johannes nach seinen Werken und nicht nach den Werken anderer Menschen richten. Johannes hat im streng pietistischen Geist und im Geist der Erweckungsbewegung gelebt und hat nur die Flammen der Hölle vor Augen. Katharina, die in diesem Buch die klassische lutherische Tradition verkörpert, versucht Johannes zu trösten. „Du hast recht, du bist ein großer Sünder. Aber Jesus der Heiland ist größer.“ Ein Wort folgt dem anderen, und diese Bauersfrau bringt Frieden in die verzweifelte und von Angst gequälte Seele, so daß er, bevor er seinen letzten Gang antritt, noch die Absolution und das Sakrament des Abendmahles empfangen kann. Was hat sie gesagt? Welche Worte einer geheimen Weisheit hat sie ausgesprochen? Sie hat ihn nur auf das reine und „einfache“ Evangelium hingewiesen: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Alle haben gesündigt und allen mangelt es an der göttlichen Herrlichkeit. Doch Gott hat sie ohne ihr Verdienst gerecht gemacht und ihnen das Heil in Jesus Christus geschenkt“. Wenn wir diese Worte hören, dann erscheint alles so einfach, doch in der Stunde des Todes kann wirklich nichts anderes die durch die Last des Gesetzes und der Gewissensqualen verängstigte Seele zur Ruhe bringen.

Ich meine, daß gerade das die Reformation ausmacht. Nichts anderes – weder fromme Traditionen, noch gutes Bestreben, weder die Heldentaten der Heiligen, noch philosophische Erkenntnisse, weder die kirchliche Hierarchie, noch die die Sinne verwirrenden Lehren dürfen das Evangelium in den Schatten stellen und es vor den hungernden Seelen verbergen. Man kann es nicht durch ein Liebessurogat und durch billige Gnade ersetzen, die man mit anderen Namen bekleidet – wie Inklusivität und Toleranz. Es darf auch nicht durch konfessionelle Gesetzlichkeit und lutherisches Zelotentum, nicht durch Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Erbe oder durch unsere eigene menschliche Schwäche, durch Sünde oder durch die Mängel unseres inneren geistlichen Lebens verdunkelt werden. Wenn wir uns am Reformationsfest zu lutherischen Heldentaten aufgerufen fühlen, dann lasst uns dabei nicht die äußeren Umstände, sondern lieber das Wesentliche beachten – wie die Seele des Menschen die heilige Krise durch die Strenge des Gesetzes erfährt und Frieden findet im klaren, reinen und „einfachen“ Evangelium. Wir sind Erben der Reformation dann, wenn wir die Liebe Christi predigen, bekennen und sie durch unser Leben sichtbar machen.

Natürlich ist es viel leichter, sich mit der Situation der damaligen Zeit zu befassen und die Konflikte und Kämpfe zu glorifizieren. Doch, wie Luther das in seinen Kirchenpostillen schreibt, müssen wir die Heiligen nicht durch ihre Werke erkennen, um diesen nachzustreben, sondern durch ihren Gehorsam gegenüber Gott. Ich denke, daß er dasselbe im Bezug auf seine eigene Person und die der anderen Reformatoren sagen würde. Wenn wir von Spaltungen sprechen, die ja die Reformation begleitet hatten, dann denke ich, daß deren Ursache bei der menschlichen Schwäche der Kirche lag, die es nicht vermochte, Fragen der Lehre zu lösen und dabei die Einheit zu erhalten. Die Folgen dieses Unvermögens sind für beide Teile der Kirche – sowohl für die lutherische wie auch für die römisch katholische Kirche – in gleicher Weise tragisch. Ich glaube daran, daß es Gottes Wille und unsere Pflicht als Christen ist, einen Weg zu suchen, der zur Einheit des Leibes Christi führt. Wir dürfen sie nicht dadurch suchen, daß wir mit unserer Überzeugung und Identität Handel betreiben, sondern miteinander ehrlich, mit Würde, Demut und brüderlicher und schwesterlicher Liebe auf die Quelle der Einheit zuschreiten – auf Jesus Christus und Sein Evangelium. Gott helfe uns dazu!

(Übersetzung aus der lettischen Kirchenzeitung Svetdienas Rits Nr. 39/05 vom 29.10.05)