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Muss die traditionelle Deutung der biblischen Sexualethik revidiert werden?

Montag 6. Februar 2017 von Prof. Dr. Armin Baum


Prof. Dr. Armin Baum

Die herkömmliche Deutung der biblischen Kernstellen zum Thema Homosexualität lautet, homosexueller Geschlechtsverkehr werde in der Bibel abgelehnt. Aber diese Interpretation ist seit langem nicht mehr unumstritten. Eine aktuelle und gründliche Neuinterpretation der biblischen Kernstellen stammt von James Brownson, Professor für Neues Testament am Western Theological Seminar in Holland/Michigan, USA. Brownson befürwortet gleichgeschlechtliche Beziehungen, sofern sie dauerhaft, treu und liebevoll gelebt werden. Gleichzeitig erkennt er die Wahrheit und Autorität der Heiligen Schrift an1. In seinem Buch „Bible, Gender, Sexuality“ will er zeigen, dass seine Befürwortung homosexuellen Geschlechtsverkehrs durch die Bibel gedeckt ist. Brownson arbeitet mit einer historischen Voraussetzung und einer Reihe exegetischer Argumente, vor allem zu den biblischen Schöpfungserzählungen und den Aussagen des Paulus im Römerbrief.

Homosexuelle Orientierung in der Antike

Brownsons historische Voraussetzung lautet, das Konzept einer homosexuellen Orientierung sei in der antiken Literatur nirgends nachweisbar. Er betont wiederholt, in der Antike habe man nicht gewusst, dass manche Menschen keinerlei heterosexuelle, sondern ausschließlich gleichgeschlechtliche Anziehung empfinden. Stattdessen sei homosexuelles Verhalten von seinen antiken Kritikern immer als Ausdruck von selbstsüchtiger, unersättlicher und ausbeuterischer Lust betrachtet worden. Auf Menschen mit homosexueller Orientierung seien die kritischen Aussagen des Paulus zur Homosexualität daher nicht anwendbar2.

Diese Aussagen Brownsons über die Antike treffen nicht zu. In der hellenistischen Welt war das Konzept einer homosexuellen Orientierung bzw. „konstitutioneller, auf Veranlagung beruhender Homosexualität“ geläufig3. Man kannte Männer, die niemals das Bedürfnis hatten, mit Frauen zu verkehren, und Frauen, die wie Männer nur mit Frauen verkehren wollten (Plato). Ebenso kannte man bisexuell veranlagte Männer, die sich stärker zu Männern als zu Frauen hingezogen fühlten (Sueton), und bisexuell veranlagte Frauen, die sich stärker zu Frauen als zu Männern hingezogen fühlten (Caelius Aurelianus). Auch zu den Ursachen homosexueller Orientierungen stellten zahlreiche antike Autoren Überlegungen an. Man zog einen Fehler des Menschenbildners Prometheus (Phaedrus), natürliche Vorgänge bei der Zeugung (Hippokrates), Vererbung (Caelius Aurelianus), die Stellung der Sterne (Julius Firmicus Maternus) und sexuellen Missbrauch im Kindesalter (Aristoteles) in Betracht.

Brownson arbeitet in seinem Buch demnach mit einer unhaltbaren historischen Voraussetzung. In seiner exegetischen Argumentation konzentriert er sich weitgehend auf die Schöpfungserzählungen in 1 Mose 1-2 und die Ausführungen des Paulus in Römer 1. Zwei seiner wichtigsten exegetischen Argumente beziehen sich auf 1 Mose 2,24 und Römer 1 ,24-27.

„Ein Fleisch“ werden (1 Mose 2,24)

In 1 Mose 2,24 heißt es, dass Mann und Frau, wenn sie einen (Ehe-) Bund eingehen, „ein Fleisch“ werden. Auch an den übrigen biblischen Belegstellen, in denen diese Formulierung vorkommt, wird nur von Mann und Frau gesagt, dass sie „ein Fleisch“ werden (Mt 19,5-6 par Mk 10,8; 1 Kor 6,16; Eph 5,31). Das „Ein-Fleisch-Werden“ ist in der Bibel für heterosexuelle Beziehungen reserviert. Daneben bedienen sich die biblischen Erzähler auch der sogenannten Verwandtschaftsformel: In der Bibel kann ein Mensch einen mit ihm verwandten Menschen als „mein Bein und Fleisch“ (vgl. 1 Mose 2,23; 29,14; Ri 9,2; 2 Sam 5,1; 29,13-14) oder als „mein Fleisch“ (vgl. 1 Mose 37,27; Jes 58,7; Neh 5,5) bezeichnen. Solche Verwandtschaftsbeziehungen gibt es selbstverständlich auch zwischen Menschen desselben Geschlechts.

Brownson ist der Ansicht, der Sprachgebrauch der Bibel lasse erkennen, dass auch das „Ein-Fleisch-Werden“ homosexueller Partner legitim sei. Denn im Kern gehe es auch beim „Ein-Fleisch-Sein“ um eine Verwandtschaftsbeziehung („mein Bein und Fleisch“). Darum könnten nach biblischem Verständnis auch gleichgeschlechtliche Paare, wenn sie eine langfristige und liebevolle Beziehung eingehen, Geschlechtsverkehr haben4. Dabei wird vollständig ignoriert, dass die Formulierungen „du bist mein Fleisch“ und „wir werden ein Fleisch“ in der Bibel nirgends austauschbar sind, sondern durchgehend klar unterschieden werden. Brownsons Legitimierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften beruht darauf, dass er eine Grundregel exegetischer Arbeit missachtet.

„Unnatürlicher“ Geschlechtsverkehr (Römer 1,24-27)

In Römer 1,24-27 stellt Paulus – in Anlehnung an die Schöpfungserzählung in 1 Mose 1,26-28 – fest: Frauen haben „den natürlichen Verkehr in den gegen die Natur verwandelt“ und Männer haben „den natürlichen Verkehr mit den Frauen verlassen“ und gleichgeschlechtlichen Verkehr ausgeübt. Mit dem hier von Paulus verwendeten Wort „Natur“ bezeichnete man in der Antike „alles, was von seinem Ursprung oder von der Beobachtung seiner Beschaffenheit her als vorgegeben erscheint“ 5. Die Formulierungen „natürlich“ bzw. „der Natur entsprechend“ und „unnatürlich“ bzw. „gegen die Natur“ wurden vor allem in sexualethischen Zusammenhängen verwendet6. In Römer 1,26-27 hat Paulus diese weitverbreitete antike Ausdrucksweise übernommen und behauptet: Heterosexueller Geschlechtsverkehr ist „der Natur (= der körperlichen Gestalt) gemäß“ bzw. „natürlich“ und homosexueller Geschlechtsverkehr ist „gegen die Natur (= die körperliche Gestalt)“ bzw. „unnatürlich“.

In seiner Neuinterpretation der Stelle vertritt Brownson die Meinung, mit „Natur“ habe Paulus in Römer 1,26-27 nicht die natürliche körperliche Beschaffenheit von Mann und Frau gemeint, sondern insgesamt gleich drei andere Sachverhalte7 (was für sich genommen sprachwissenschaftlich bereits äußerst fragwürdig ist): Erstens bezeichne „Natur“ in Röm 1 das gemäßigte sexuelle Verlangen und Verhalten des Menschen. „Unnatürlich“ sei ein unersättliches und selbstsüchtiges Verlangen und Verhalten homosexuell verkehrender Menschen. Daher sei nur unersättlicher Geschlechtsverkehr „gegen die Natur“, nicht der gleichgeschlechtliche Geschlechtsverkehr an sich gemeint. Einen gemäßigten und liebevollen homosexuellen Geschlechtsverkehr habe Paulus nicht als „unnatürlich“ bezeichnet. Diese Deutung ist mit dem antiken Sprachgebrauch unvereinbar. Dass der gleichgeschlechtliche Geschlechtsverkehr „unnatürlich“ ist, bedeutet in der antiken Literatur nirgends, dass er „unersättlich“ oder „lieblos“ ist, sondern regelmäßig, dass er nicht der körperlichen Struktur der Beteiligten entspricht.

Brownson meint, „Natur“ bezeichne in Römer 1,26-27 zweitens soziale Normen oder Konventionen. Speziell meine Paulus die weit verbreitete Überzeugung, die passive Rolle im homosexuellen Verkehr, in der ein Mann als Frau behandelt wird, sei erniedrigend. Sie verletzte die gesellschaftlichen Hierarchien und Geschlechterrollen. Als „unnatürlich“ habe Paulus daher nur einen homosexuellen Geschlechtsverkehr bezeichnet, der gegen anerkannte soziale Normen verstößt. Diese Neuinterpretation ist weder sprachlich noch historisch haltbar. Denn die dem Menschen vorgegebene „Natur“ wird in der antiken Literatur regelmäßig von den umweltbedingten und auf Vereinbarungen beruhenden Sitten, Konventionen und Gesetzen unterschieden. Die variablen Konventionen wurden im Namen der unveränderbaren Natur in Frage gestellt8. Daher kann „Natur“ in Römer 1 nicht soziale Normen oder Konventionen bezeichnen.

Außerdem hat man in der Antike auf die Frage, welche Art von homosexuellem Verkehr entehrend ist, nicht nur eine, sondern mindestens zwei verschiedene Antworten gegeben9. Während viele pagane Autoren (wie Plato oder Cicero) nur die Rolle des passiven Partners (der anal penetriert wurde) für entehrend hielten, betrachteten andere die passive und die aktive (penetrierende) Rolle als entehrend. Aus alttestamentlicher, frühjüdischer (Philo, Josephus) und stoischer (Musonius Rufus) Perspektive handelte jeder schändlich, der homosexuellen Geschlechtsverkehr ausübte, ob als aktiver oder passiver Partner. Paulus war ein jüdischer Theologe, der aus dem Alten Testament schöpfte und sich in seinem Denken nicht unerheblich mit der stoischen Philosophie seiner Zeit berührte. Auch nach Römer 1,26-27 verhält sich nicht nur der passive Partner entehrend, sondern jeder, der irgendeine Form homosexuellen Geschlechtsverkehrs ausübt und damit gegen Gottes Schöpfung bzw. gegen die Natur verstößt.

Schließlich ist Brownson der Ansicht, „Natur“ beziehe sich in Römer 1,26-72 drittens auf eine Fortpflanzungspflicht des Menschen. Als „unnatürlich“ habe Paulus den gleichgeschlechtlichen Verkehr bezeichnet, weil er nicht der Fortpflanzung und Erhaltung der Menschheit dient. Diese Deutung verträgt sich jedoch nicht mit der Sexualethik des Apostels Paulus. Paulus hat aus dem biblischen Auftrag zur Fruchtbarkeit und Vermehrung (1 Mose 1,28) keine Fortpflanzungspflicht abgeleitet und Fortpflanzung keineswegs zum Kriterium für ein dem Willen Gottes gemäßes Leben gemacht. Vielmehr hielt er es für legitim und sogar wünschenswert, unverheiratet zu bleiben und auf das Zeugen von Nachkommen zu verzichten (1 Kor 7,8). Dadurch unterschied Paulus sich gerade von jüdischen Zeitgenosse n, die den Vermehrungsauftrag in 1 Mose 1,28 absolut setzten und es für die Pflicht jedes Menschen hielten, zu heiraten und Nachkommen zu zeugen10. Mit „Natur“ kann in Römer 1,26-27 demnach auch keine Fortpflanzungspflicht gemeint sein.

Brownson kann seine Neuinterpretation von Römer 1 nur durchführen, indem er offensichtliche sprachliche, historische und theologische Sachverhalte übergeht.

Eine hermeneutische Alternative

Nach Brownson stimmt unser modernes Urteil darüber, was „natürlich“ und „unnatürlich“ ist, nur noch teilweise mit dem von Paulus formulierten Urteil überein: Zwar lehnen auch wir unersättlichen und selbstsüchtigen Sex ab. Aber wir halten es nicht mehr für erniedrigend, wenn im gleichgeschlechtlichen Verkehr ein Mann die weibliche Rolle einnimmt. Und die Entwicklung verlässlicher Verhütungsmittel hat den Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung gelockert. Daher könnten moderne Christen das Verständnis von „Natur“, das der Apostel Paulus in seinem antiken Denkrahmen vertreten hat, nicht unverändert übernehmen, sondern müssten es im Licht ihrer modernen Überzeugungen revidieren und neu definieren, was „natürlich“ ist. Auch wenn der Begriff „natürlich“ heute ähnlich schwer zu fassen sei wie zur Zeit des Paulus11.

An dieser Stelle zeigt sich ein hermeneutisches Problem, das sich für Brownson daraus ergibt, dass er gleichgeschlechtliche Partnerschaften befürwortet und gleichzeitig die sexualethischen Aussagen der Heiligen Schrift als wahr und verbindlich gelten lassen möchte. Er kann es nicht vermeiden, sich von ethischen Grundüberzeugungen des Apostels Paulus zu distanzieren.

Der Abstand zu Paulus wird noch wesentlich größer, wenn man berücksichtigt, dass sich Brownsons Neuinterpretationen der biblischen Kernstellen zum Thema nicht halten lassen. Daraus ergibt sich eine klare hermeneutische Alternative, der kein Bibelausleger ausweichen kann: Wer den sexualethischen Aussagen der Heiligen Schrift folgen will, muss homosexuellen Geschlechtsverkehr grundsätzlich – mit allen notwendigen Differenzierungen – für verkehrt halten (und von dort aus weiterdenken). Wer homosexuellen Geschlechtsverkehr – unter bestimmten Bedingungen – befürworten will, muss dies im Widerspruch zu den Aussagen der Heiligen Schrift tun. Einen dritten Weg scheint es nicht zu geben.

Prof. Dr. Armin D. Baum, Freie Theologische Hochschule Gießen

Quelle: Homosexualität – Biblische Leitlinien, ethische Ãœberzeugungen, seelsorgerliche Perspektiven, Brunnen-Verlag, Gießen 2016, 176 Seiten, 14,99 Euro, ISBN: 978-3-7655-2060-0 (www.brunnen-verlag.de)
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1 Brownson (2013), S. 266. [Bibliograhpie: J. V. Brownson, Bible, Gender, Sexuality. Reframing the Church’s Debate on Same-Sex Relationships. Grand Rapids: Eerdmans, 2013]
2 Brownson (2013), S. 155-156, 165-167, 170-172, 255.
3 Hoheisel (1994), S. 338. [Bibliographie: K. Hoheisel, Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum 16 (1994) 289-36 4] Dokumentiert sind die wichtigsten Belegstellen bei Hubbard (2003). [Bibliographie: T. K. Hubbard, Homosexuality in Greece and Rome. A Source Book of Basic Documents. Berkeley: University of California, 2003]
4 Brownson (2013), S. 106-108.
5 Köster (1973), S. 248 [ Bibliographie: H. Köster, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 9 (1973) 246-271].
6 Köster (1973), S. 256.
7 Brownson (2013), S. 244-246.
8 Köster (1973), S. 254-255.
9 Hoheisel (1994), S. 316-319, 321-324, 334-337.
10 Strack/Billerbeck (1978), II, 372-373. [Bibliographie: H. L. Strack/P. Billerbeck, Kommentar aus Talmud und Midrasch. Bd. 2. München: Beck, 71978]
11 Brownson (2013), S. 246-247.

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 6. Februar 2017 um 14:29 und abgelegt unter Ehe u. Familie, Sexualethik, Theologie.