- Gemeindenetzwerk - https://www.gemeindenetzwerk.de -

Glaube – Weisheit – Vernunft

„Salomo sprach: Gib deinem Diener ein hörendes Herz.“ (1. Könige 3,9)

„Gott gab Salomo große Weisheit, eine Weitschaft des Herzens.“ (1. Könige 5,9)

Gab gab Salomo gleichsam als weitere Frucht des „hörenden Herzens“ die Weitschaft des Herzens, nämlich Weisheit. „Ein hörendes Herz“ empfängt (je „zu seiner Zeit“, heißt es dann im Buch der Sprüche) eine Art Ermächtigung, um in den verwirrend widersprüchlichen Widerfahrungen des Lebens recht zu denken, richtig zu reden, gut zu handeln, – also ein Mündigwerden zu erlernbarer Weisheit, Klugheit, forschendem Verstand, Vernunft und Zucht, Mut zu bewusster Gestaltung erfolgreichen Lebens. Im Buch der Sprüche ist durch Jahrhunderte hindurch gesammelt solche „Weitschaft des Herzens“ in Sentenzen bewahrt. Wer im Irrgarten der Lebensfragen Rat sucht, findet ihn hier, um sich so zu entscheiden, dass man das Leben bestehen kann und nicht scheitern muss.

Das geheimnisvoll kühnste Wort solcher Weisheit spricht in der Ichform eines Geschöpfes selbst: „Durch mich regieren die Könige und setzen die Herren des Rates das Recht“ (Sprüche 8,15), der andringende Anruf der Weisheit an den Menschen. Weisheit nicht nur Gabe Gottes, sondern selbst ein Geschöpf Gottes.

Zur Weisheit geronnene Erfahrungen im Sprüchebuch helfen also zu einem auch rationalen Bestehen auf dem Weg durch unsere verwickelten Lebenswirklichkeiten. Diese sind oft paradox. Daher erscheinen auch viele Sentenzen im Sprüchebuch paradox. Es gilt, je nach Situation und Adressat im Dialog des Lebens und auf die rechten Zeiten achtend den Weg zu finden. Dann kann in den Widersprüchlichkeiten des Lebens eine von Gott geschaffene, verborgene Grundordnung erfasst werden. Solche gilt es zu entdecken, und Weisheit kann sie entdecken. Wer die rechten Regeln erkennt, die Israels Lehrer der Weisheit (längst vor Salomo und nach Salomo) benannt haben, kann in Grundordnungen hineinfinden, die Gott seiner Schöpfung eingestiftet hat.

Nun hat der große Strom der Weisheit auch Israels Erzählen seiner Geschichte durchdrungen und mitgestaltet, von seinen Geschichtsberichten bis in die Sammlung seiner Gebete hinein, besonders deutlich aber in den Erzählungen von dem geistigen Umbruch, der sich in der Zeit Davids und Salomos ereignet hat. Wir nennen das die Entfaltung eines spezifisch israelitischen aufgeklärten Humanismus. Hier erscheint Salomo als weisheitlich gebildeter König und Lehrer. Er war gleichsam der schlechthin weise König und Lehrer als Regent. Ihm war ganz offenkundig „Weitschaft des Herzens“ (1. Könige 5,9) verliehen. Ihm zuzuhören und von ihm zu lernen, kam sogar die Königin von Saba an seinen Hof (1. Könige 5,14; 10,1-13).

Als Salomo noch vor dem Bau des Tempels anlässlich eines Opfers in Gibeon, einem Landheiligtum, Gott begegnete, wurde ihm freigestellt: „Erbitte, was ich dir geben soll“, und Salomo antwortete Gott: „Gib deinem Diener ein hörendes Herz, um zu richten dein Volk und zu unterscheiden, was gut und böse ist“ (1. Könige 3, 5.9.). „Ein hörendes Herz“ erbat der König, ein gehorsames, ein „gehörsames“ Herz. Im Duktus der entscheidenden Worte im Alten Testament ist das nichts anderes als die Bitte um den rechten Glauben: das rechte „Hören“ auf älteste grundlegende Worte Gottes in der Erwählung der israelitischen Stämme zum Volk Gottes, Worte in den Berufungen der Erzväter, in der Bundesstiftung am Sinai unter Moses, Grundworte der Verpflichtung auf die Bundesordnungen sakralen Rechtes im jährlich erneuerten Bundesfest seit Josua, also längst erzählend bewahrt und bewahrheitet in den Geschichten von Führung und Errettung, von Wundern und Warnungen, von Gericht und Umkehr, von Gnade in allem. Auf diese Offenbarungsworte und Verpflichtungen gilt es zu hören und auf nichts anderes, und Salomo bittet um die göttliche Hilfe, auf diese Überlieferungen zu hören. Dazu ist er willens. Gott alleine kann „das hörende Herz“ geben. Salomo bittet. Und Salomo empfängt. Das war das erste.

Was er aber in Gibeon erbeten hat für sich persönlich (1. Könige 3,5.9) wiederholt hernach der König als Bitte für sein ganzes Volk. In sieben großen Bitten im Tempelweihgebet wiederholt er die Bitte um ein „hörendes Herz“ für ganz Israel (1. Könige 8)! Die siebenfachen „wenn… dann… Bitten“ sind Bitten um das Hörende, zur Umkehr willige, zum Gehorsam und Lob Gottes bereite Herz, und sie greifen direkt auf älteste Bestimmungen zurück, die im Glauben gelten und längst gottesdienstlich beheimatet und bekannt und rezitiert wurden (wie sie sich dann etwa im „Bundesbuch“ (2. Mose 20, 18-23,33) finden oder verstreut im Urtext des 5. Mosebuches oder im „Heiligkeitsgesetz“ (3. Mose 17-26), wo ja nur gesammelt ist, was immer galt vor Salomo und nach Salomo. Das alles ist gemeint, was ein „hörendes Herz“ in ältesten Gottesdiensten Israels Jahr um Jahr gehört und angenommen und bekannt hat und was dann die Weisheit schlicht umfassend „Gottesfurcht“ (im Sprüchebuch) nennt. Nur diese Gottesfurcht, das Ja zum offenbarten Gotteswillen, ist Quellgrund und Voraussetzung aller rechten Weisheit und Erkenntnis. „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis. Die Toren verachten Weisheit und Zucht“ (Sprüche 1,7). Ehrfurcht aus Liebe zu dem Bundesgott und seiner liebenden Erwählung (das Thema des gesamten 5. Mosebuches 6,5; 10,12; Matthäus 22,27-39).

Und nun erzählt Israel weiter und die Schule exilischer Geschichtsschreibung (Theologen nennen es die „deuteronomistische Geschichtsschreibung“) berichtet, wie zwar „das hörende Herz“ die „Weitschaft des Herzens“ erlaubt, wie aber die Gabe zur Verirrung führt, wenn „das hörende Herz“ versagt und verdrängt wird. Der gleiche Salomo legte den Keim der Zerstörung in Gottes Werk und Bau, weil er selbst „das einst hörende Herz“ des Anfangs preisgab um der zeitgeschichtlichen Mode und der politischen Zweckmäßigkeit willen. Bei all seiner „Weisheit“ öffnete er dem Abfall vom alten Gottesrecht und Gotteswillen Tür und Tor. „Und Salomo tat, was dem Herrn missfiel“ (1. Könige 11,1-10). „Da wurde der Herr zornig über Salomo, dass er sein Herz von dem Gott Israels abgewandt hatte, der ihm zweimal erschienen war und ihm geboten hatte, dass er nicht anderen Göttern diene“ (1. Könige 11,9).

Wenn wir auf die Stimme im Alten Testament hören, werden wir zugleich aufmerksam gemacht auf die Stimme Jesu und die neutestamentlichen Tröstungen wie Warnungen in den Briefen der Apostel. Auch hier geht es um das rechte „Hören“ und „weise werden“. „Wer Ohren hat zu hören“ sagt Jesus wiederholt, und für Paulus ist ja das laufend von ihm zitierte Alte Testament das unerlässliche Präludium seiner Christusverkündigung. Allein in den ersten drei Evangelien wimmelt es in der Predigt Jesu von Vernunftschlüssen und Erfahrungssätzen. Paulus führt für sich und seine Leser ohne weiteres einleuchtend die geschlechtliche Perversion auf die Verkennung des Selbstzeugnisses der Schöpfung zurück (Römer 1,22ff). Der Satz von den Früchten der Trübsal – Geduld, Bewährung, Hoffnung – ist ein Erfahrungssatz (Römer 5,3f). „Weisheit ist nie ein neutrales Sachwissen; es ist ein Wissen, zu dem man sich bekennt, das man lebt und hinter dem ein Vertrauen steht“ (Gerhard von Rad).

„Das hörende Herz“ setzt die Vernunft frei. Wird diese aber „autonom“, also ohne im Glauben gegründet zu sein, irrt sie sich und verführt. „Autonome Vernunft“, mag sie noch so menschenfreundlich bemüht sein, kann faktisch einen „modernen Humanismus“ begründen, der zugleich menschenzerstörend und in sich selbst widersprüchlich bleibt. Darum steht im Sprüchebuch dem Weisen „der Tor“, „der törichte Mensch“ gegenüber, der ja nicht einfach dumm ist, sondern durchaus intelligent sein mag. Er verirrt sich, denn das Herz des Toren ist nicht richtig (Sprüche 15,7). Der weise Salomo wurde zum Tor in all seiner Weisheit, als er das „Hören“ des Glaubens, nämlich die erste Ehrfurcht vor Gott, verdrängte. „Timor Domini initium sapientieae“ zitierte einst der Chefarzt der Inneren Medizin im Kantonsspital St. Gallen anlässlich der Visite am Krankenbett, umringt von jungen Ärzten. Diese schwiegen betroffen.

Der Glaube setzt die ratio frei. Aber die ratio ersetzt nicht den Glauben. „Die Vernunft wird ohne den Glauben nicht heil, aber der Glaube wird ohne Vernunft nicht menschlich“ (Benedikt XVI.). Solche Erkenntnis bringt „das hörende Herz“ ein.

Ein hörendes Herz kann z.B. so sagen:

„Hast du mich in der Welt gewollt
auf eine solche Weise,
dass ich dein(e) Diener(in) heißen sollt
zu deines Namens Preise,
und bin ich, wie ich etwa bin,
nicht ohne Gnad und Gabe,
so gib mir auch in meinen Sinn,
was ich zu machen haben.“
(N.L.v. Zinzendorf)

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matthäus 7,15-20): Das ist ein Vernunftschluss und Erfahrungssatz Jesu selbst, Weisheit aus erster Quelle. Was einem oberflächlich Zuhörenden banal erscheint, es birgt im Munde Jesu ein existenziell zu entdeckendes Geheimnis, nämlich die Wahrheit des Glaubens in der Nachfolge Christi.

Anmerkung:

Die schöne Bezeichnung im hebräischen Urtext „róchab leb“ (1. Könige 5,9) wäre genau zu übersetzen mit unserem medizinischen Terminus „Herzerweiterung“. Der Begriff „Weitschaft“ will nur bezeichnen, „dass das hörende Herz der Gottesfurcht“ (im Sprüchebuch) hier in der Bitte Salomos eben befreit wird zur Wahrnehmung von Grundordnungen und Grundaussagen, die der Schöpfer seiner Schöpfung eingestiftet hat. Der biblischen „Weisheit“ als Gottesgabe werden sie erfahrbar. Solche im Glauben befreite „Klugheit“ (im Sprüchebuch) als Wahrnehmung der ratio in einer auf Gott hin stets offenen Wirklichkeit ist etwas ganz Anderes als heute generell gottlos bestimmende Vernunft; wie figura täglich zeigt entartet diese zur Zerstörung wahren Menschenbildes und verantwortlicher Gemeinschaft. Salomos autonom gewordene, säkularen Notwendigkeiten sich ausliefernde Vernunft steht beispielhaft für heutige autonome sogenannte Wirtschaftlichkeit im gesteuerten gesellschaftlichen Diskurs („Lebenswirklichkeiten“ statt „Schöpfungsordnungen“).

Pfarrer i. R. Eduard Haller, St. Gallen