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Wie kam’s denn dazu? Kirchliche Entwicklungen in Württemberg seit 1945

Eigentlich war der Pietismus in Württemberg durch Pfarrer ins Leben gerufen worden. Wie kam es denn zu dem heute so starken Misstrauen zwischen Pfarrern und Pietisten? Durch mehr als zwei Jahrhunderte gab es in Württemberg den Pietismus nur vor Ort als Gemeinschaftsstunde; landesweite Verbände landeskirchlicher Gemeinschaften gab es erst seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie waren schwache Gebilde mit einem Mini-Stamm hauptamtlicher Mitarbeiter. Wie kam es denn dazu, dass gerade in Württemberg sich der Pietismus zu einer geachteten und auch gefürchteten Größe zusammenfand?

Eine ganze Generation lang war die württembergische Pfarrerschaft stark geprägt durch die Bibelauslegung von Adolf Schlatter und durch die Theologie von Karl Heim. Wie kam es denn bloß dazu, dass diese Prägung voll Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift so stark verlorenging?

Die Bekennende Kirche hatte eigentlich die konsistoriale Verwaltungskirche abschaffen wollen, auch das Ausbildungsmonopol der staatlichen Theologischen Fakultäten. Wie kam es denn dazu, dass die Verwaltungskirche immer stärker ausgebaut wurde? Wie kam es dazu, dass nur noch an Universitäten Ausgebildete eine Chance hatten, in den Pfarrdienst übernommen zu werden?

Aus den Wirren des Kirchenkampfes im Hitlerstaat war die Evangelische Landeskirche in Württemberg herausgekommen mit einer unüberbietbaren Treue zum Landesbischof, auch mit einer vertrauensvollen Loyalität gegenüber dem Oberkirchenrat. Wie kam es aber dann dazu, dass heute der Wille zum Leiten ebenso schwach erkennbar ist wie die Bereitschaft zum Sich-leiten-Lassen?

Solchen Fragen muss nachgegangen werden. Andernfalls werden kirchliche Vorgänge nur vordergründig beurteilt. Die Antworten können unterschiedlich ausfallen. Aus meiner Erfahrung und aus meiner Sicht jedoch möchte ich das Folgende beitragen – mit der Bitte um Korrektur, Ergänzung oder Widerspruch.

1945 – kein Zusammenbruch der Kirche

1945 endete das Deutsche Reich im „Zusammenbruch“. Für die Kirche jedoch war es kein Zusammenbruch. Sofort nach dem Einmarsch der Besatzungsmächte rief sonntäglich wieder die auf dem Kirchturm übrig gelassene Glocke zum Gottesdienst. Zwar gab es damals noch keine Rundfunksendungen, keine Tageszeitungen; die Schulen waren noch geschlossen. Aber die Kirche lebte. Auf Wunsch und mit Billigung der Besatzungsmächte wurde an Pfarrhäusern und kirchlichen Gebäuden „Off-Limits“-Hinweise angebracht. Kein kirchliches Gebäude wurde geplündert, kein Pfarrhaus musste geräumt werden. „Durch Güte“ von Pfarrhaus zu Pfarrhaus spedierte Briefe erreichten in erstaunlich kurzer Zeit ferne Ziele.

„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“

Eben noch hatten Gottesdienstbesucher zu fürchten, dass ihr Name auf „schwarze Listen“ käme. Nun aber waren mit einem Mal die Gottesdienste bis auf den letzten Emporenplatz der Kirchen besetzt.

Eben noch hatten Pfarrer zu fürchten, wegen eines einzigen missdeuteten Wortes als Volksverräter denunziert zu werden. Bald nach 1945 jedoch wurden Pfarrer von bisherigen Parteimitgliedern gebeten, ihnen Entlastungszeugnisse auszustellen.

Eben noch war bei Tag und Nacht das Firmament erfüllt vom Dröhnen alliierter Bomberströme. Aber schon bald nach 1945 leisteten die Kirchen der Siegermächte Hilfe zum Überleben und zum kirchlichen Wiederaufbau – angefangen von Trockenmilch für hungernde Kinder über Papier zum Bibeldruck bis hin zu ganzen Notkirchengebäuden.

Eben noch war der Staat mit seiner Verwaltung – hinunter bis zum letzten dörflichen Bürgermeister – eine Macht gewesen, welche die Kirche zu erdrücken schien. Nun aber wurde schon in den Anfängen staatlichen Neubeginns die „Verantwortung vor Gott“ bewusst in die neuen Landesverfassungen aufgenommen; Religionsunterricht war garantiert als „ordentliches Lehrfach“.

Wir waren damals benommen. Wir konnten das alles nicht recht registrieren, nicht recht bewerten. Erst später begriffen wir nach und nach: dass die zurückliegende Zeit, da Evangelische Jugendarbeit auf rein Religiöses beschränkt war, auch einen Gewinn darstellte; dass die unverhältnismäßig vielen zum Kriegsdienst eingezogenen Pfarrer damit auch aus dem Elfenbeinturm normaler Theologenexistenz herauskamen, ja dass viele dabei auch Leitungsverantwortung und Fähigkeit zu raschen Entschlüssen lernten; dass der Verkündigungsdienst von Laien, gerade auch von Frauen, nicht nur eine Notmaßnahme für sonst geistlich nicht versorgte Gemeinden sein durfte; dass die in württembergische Orte hineinbrandenden Ströme von Flüchtlingen und Neubürgern nicht nur Last, sondern auch Bereicherung des ganzen kirchlichen Lebens bedeuteten; dass die evangelisch-katholische Gastfreundschaft bei der Überlassung kirchlicher Räume nicht nur eine vorübergehende Bezeugung guten Willens sein durfte.

Wir waren aber auch zu benommen, um die deutsche Schuld am jüdischen Volk wirklich zu erkennen und wach als Schuld zu registrieren. Nein, einen „Zusammenbruch“ bedeutete das Jahr 1945 für die Kirche nicht, erst recht keine „Stunde Null“. Aber 1945 brachte einen tiefgreifenden Einschnitt. Wir waren trotz engagierten Weitermachens wie betäubt, wie aus einem schlimmen Traum noch nicht recht erwacht.

1945 und danach – keine gemeinsame Konzeption

Wie es nach einem eventuellen „Danach“ weitergehen könnte, das hatten vor 1945 nur wenige Kirchenleute bedacht. Zu ihnen gehörte etwa Dozent Pfarrer Dr. Helmut Thielicke. Er hatte eine Konzeption für mögliche „Evangelische Akademien“ entworfen. Aber mit 1945 sprossten eine Fülle von Konzeptionen aus dem Boden. Für die einen war die „Stunde der Evangelisation“ gekommen; die Männererweckung in den Kriegsgefangenenlagern ermutigte dazu. Die evangelische Jugendarbeit sah sich evangelistisch herausgefordert. Der ins Württembergische verschlagene Berliner Pfarrer Joachim Braun wurde beauftragt, Volksmission als kirchliche Arbeit aufzubauen.

Anderen ging’s jedoch mehr um „Moralische Aufrüstung“. Die einen stellten sich ein auf eine neue Stunde parochialer Gemeindearbeit. Anderen ging es mehr um die „Kirche in der Arbeitswelt“. Die einen setzten ökumenisch auf die „Una Sancta“, für andere lag die Zukunft im Konfessionalismus. Die einen rechneten damit, dass jetzt erst recht das „Jahrhundert der Kirche“ anbreche; andere – wie etwa Hans Asmussen – sagten ein neues Aufbrechen an von Säkularismus, Heidentum und politischem Messianismus, von fanatischer Sektiererei und von religiöser Verwirrung. „Jeder sah auf seinen Weg“.

Vor allem aber kam die konsistorial geprägte Kirche rasch wieder in die Gänge. Zwar war der württembergische Oberkirchenrat nur behelfsmässig im Großheppacher Mutterhaus untergebracht. Aber gleich nach dem Zusammenbruch gehörte zu seinen ersten Druckerzeugnissen, von Kurieren in großen Rucksäcken vor Ort geschleppt, eine in die Gesangbücher einzulegende neue Abendmahlsordnung. Sie war am Vorbild von Luthers „Deutscher Messe“ ausgerichtet. Zielstrebig begann die Herrschaft der Liturgiker und der Kirchenmusiker. Sie führte schließlich zum Einheitsgesangbuch von 1953, in dem das Erweckungslied fast völlig ausgemerzt war, als „englisches“ Liedgut diffamiert.

Was jedoch war aus der Konzeption „Gemeinde von Brüdern“ geworden? Zu ihr hatte sich die Synode von Barmen (1934) bekannt. Damals war bis in Rechtskonsequenzen hinein durchdacht und gefordert worden: Nie wieder konsistoriale Verwaltungskirche! Nie wieder geistlich unklare „Volks“kirche! Denn Kirche konkretisiert sich als Gemeinde vor Ort! Sie muss Kirche von Bekennern sein, die wirklich Christen sein wollen!

Darum auch weg vom Ausbildungsmonopol staatlicher Evangelischer Fakultäten! Mit der Gründung Kirchlicher Hochschulen hatte die Bekennende Kirche in schwerster Zeit gezeigt, wie kircheneigene Ausbildungsstätten aussehen können. Bonhoeffer war mit seinem Modell „Finkenwalde“ noch weitergegangen: Die Ausbildung künftiger Pfarrer müsse in geradezu klösterlichen Ausbildungsstätten erfolgen, die geprägt seien von gemeinsamem geistlichem Leben!

Ich sehe fünf Gründe, warum diese Konzeption nicht realisiert wurde:

  1. Es ist leichter, Trümmer wohnlich zu machen, als einen Neubau zu wagen. Der Staat musste beim Aufbau eines freiheitlich-demokratischen Staatswesens Neues wagen. Der kirchliche Neubau aber fand – so hat es Professor Dr. Joachim Mehlhausen 1998 vor der EKD-Synode formuliert – „auf einem Trümmergelände statt, das man – um im Bilde zu bleiben – nicht einfach planieren konnte. Auf diesem Trümmergelände gab es … alte Grundmauern, stehen gebliebene Gebäude und Grenzsteine“, nämlich traditionsreiche und bekenntnisbestimmte Landeskirchen sowie die drei konfessionellen Lager der Lutheraner, der Reformierten und der Unierten.
  2. Die Volkskirche erwies sich gerade 1945 als nicht ganz so erloschen, wie manche befürchtet hatten, unter der Asche fand sich noch viel Glut. In Kriegsgefangenencamps und in den Heimatgemeinden zwischen Flensburg und dem Bodensee gab es überaus stark besuchte Gottesdienste; es gab Hunger nach der Bibel, nach dem Abendmahl, nach Seelsorge und gemeinsamem Beten. Durfte man denn in einem solchen Augenblick darangehen, „zwischen Schafen und Böcken zu scheiden“, um anstelle von Volkskirche ein Netz von Freiwilligkeits- und Bekenntnisgemeinden zu bauen?

Auch an den Evangelischen Fakultäten der Staatlichen Universitäten überrollte die Realität alle bisherigen Konzeptionen: Die Studienplätze reichten nicht aus für die vielen Heimkehrer und Kriegsversehrten, die in schrecklichen Kriegszeiten tiefe geistliche Erfahrungen gemacht hatten. Die Kirche war elementar darauf angewiesen, rasch wieder eine große Nachwuchsgeneration zu bekommen; denn gerade die Pfarrerschaft hatte im Krieg einen unvorstellbaren Blutzoll zahlen müssen.

  1. In jenen außerwürttembergischen Kirchen, in denen einst die Bekennende Kirche stark gewesen war, wurden nach 1945 deren beste Köpfe rasch zu Oberkirchenräten, Landessuperintendenten und Universitätsprofessoren berufen. Sie alle gehörten mit einem Mal zum „Establishment“. Sie sahen sich als „Erben von Barmen“, gerade indem sie die vom Joch nazistischer Bedrohung befreite Kirche wiederaufbauten. Aber auch in der von ihnen verantworteten konsistorial verfassten Kirche wollten sie nicht ganz auf die Erkenntnisse von Barmen verzichten. Vielmehr wurde die Fülle der neu entstehenden Ordnungen, Gesetze und Agenden so formuliert, als ob die realexistierende Volkskirche de facto eine Bekenntniskirche wäre. So heißt es etwa im § 1 des Württembergischen Pfarrergesetzes: „Alle Glieder der Kirche sind durch die Taufe berufen, der Welt das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen“. Eine Ausnahme bildete die damalige Kirchliche Wahlordnung. Sie machte zur Pflicht eine persönliche Anmeldung zur Wahl und eine Prüfung der so Angemeldeten durch den Kirchengemeinderat. Aber auch dies fiel bald immer häufiger aus und darum konsequent bald auch weg.
  2. Die radikale Barmen-Konzeption wurde entscheidend vom konsistorialkritischen Martin Niemöller vertreten. Viele aus dem kirchlichen Establishment sahen ihn zwar achtungsvoll als Märtyrer des Kirchenkampfes an, aber zugleich auch als liebenswerten Schwärmer und als fanatischen Haudegen. In Württemberg waren es Theologen wie Hermann Diem und Paul Schempp, die eintraten für „Verselbständigung der Gemeinden“ und für „Abwehr des weltlich-juristischen Verwaltungsapparates“. Während des Kirchenkampfes in den dreißiger Jahren hatten sie in fast rüder Weise Landesbischof und Oberkirchenrat beschimpft. Dadurch hatten sie sich um Sympathien weiter Kreise der Pfarrerschaft gebracht, erst recht aber des Oberkirchenrates und des Landesbischofs. Allein schon diese persönlichen Aversionen ließen es indiskutabel erscheinen, die radikale Barmen-Konzeption zur Grundlage der Neuordnung zu machen.
  3. Landesbischof D. Theophil Wurm suchte taktisch klug und in erstaunlicher Beharrlichkeit einen Weg, der „eine handlungsfähige große Volkskirche“ zum Ziel hatte. Sie sollte „einen deutlich sichtbaren Platz in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit“ (Mehlhausen) bekommen.

Das sofort im Sommer 1945 in Treysa begonnene Einigungswerk der Kirchen in Deutschland konkretisierte sich 1948 in der EKiD. Sie war zwar kein Dom, aber immerhin eine Baracke, zwar nicht Kirche, sondern eben nur Kirchenbund. Immerhin waren damit die Weichen gestellt, die schließlich konsequent hinführten zum Einzug der Kirchensteuer durch das Finanzamt, hinführten aber auch zu immer reichlicher sprudelnden Geldquellen. Aus den Trümmern entstand aufs Neue die alte Amts- und Verwaltungskirche, die sich aufs Engste liierte mit den Fakultäten. Es gab nur wenige, die vor diesem Weg warnten. Wilhelm Busch-Essen gehörte dazu. Er schrieb dem rheinischen Präses Held, einem Kampfgefährten aus dem Kirchenkampf: „Offensichtlich gibt es kirchliche Stellen, die vor einem Zuviel an Autorität gar keine Angst haben… Die totale Kirche ist nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes in der nächsten geistlichen Überfremdung, die ja bereits eingesetzt hat, verloren. Darum: Kehrt um von diesem Weg!“

Zäsuren haben ihre Chance. Auch die Zäsur von 1945 hätte eine Chance von kirchengeschichtlicher Bedeutung sein können. Aber die Chance hin zur Bekenntniskirche wurde nicht wahrgenommen. Vielmehr wurde die Stunde der Strukturen eingeläutet: der neuen Agenden, der neu zu schaffenden Dekanatsbezirke, der neuen Parochien, des Ausbaus der EKiD und ihrer Arbeitszweige.

Der hohe Preis für die „große Volkskirche“ Wurm’schen Ideals bestand, wie Mehlhausen überzeugend herausgearbeitet hat, in der „Konfliktgemeinschaft“, welche die EKiD darstellte. All die theologischen, strukturellen, ethischen und politischen Unterschiede innerhalb der EKD entzündeten sich sogar dort erst recht, wo sie unter dem Druck standen, ihr besonderes Profil zu Gunsten des gemeinsamen Erscheinungsbildes aufzugeben.

Als gewisses Korrektiv zur wiedererstarkten konsistorialen Kirche wurde durch Reinold von Thadden-Trieglaff 1949 der „Deutsche Evangelische Kirchentag“ ins Leben gerufen. Er war bewusst Laienbewegung und ebenso bewusst freies Werk. Der Kirchentag sollte geistliche Impulse in die Gesamtkirche hineingeben, zu welchen die Verwaltungskirche nicht fähig war. Aber nicht viel mehr als zehn Jahre später wurde auch der Kirchentag von jener „geistlichen Überfremdung“ erfasst, von der Wilhelm Busch warnend gesprochen hatte.

Die geistliche Überfremdung der Kirche nach 1945

Bis etwa 1951 standen im Vordergrund kirchlichen Lebens Einweihungen renovierter und neuerbauter Kirchen, Glockenweihen, Posaunentage und Evangelisationen, Gustav-Adolf-Feste und Jugendtage. Ein Höhepunkt gemeinsamen kirchlichen Lebens war der Stuttgarter Kirchentag (1952). In Straßenbahnen und auf dem Weg zum Cannstatter Wasen waren chorälesingende Teilnehmer zu finden. Mehr als hunderttausend Dauerteilnehmer ließen sich anziehen von dem, was die Kirche zu sagen hatte.

In dieser Kirche wollte der schwäbische Pietismus zuhause sein. Zwar hatten die pietistischen Gemeinschaften viel Jugend an örtliche evangelische Jugendgruppen und CVJMs verloren. Aber viele der Stundenleute freuten sich auch daran, dass auf diese Weise junge Menschen in den Glauben hineinfanden.

Der erste geistliche Aufbruch der Nachkriegszeit war jedoch schon damals im Abklingen. Die Emporen der Kirchen hatten sich nach und nach wieder geleert. Im angebrochenen Atomzeitalter hatten die Naturwissenschaften ihren Siegeszug angetreten. Naheliegend war darum die Frage: „Wie kann man denn einem modernen Ingenieur das biblische Evangelium so vermitteln, dass er nicht vor den Kopf gestoßen sein muss? Wie kann man ihn für das ‚Eigentliche‘ am Evangelium gewinnen?“

Rudolf Bultmann, der Marburger Neutestamentler, schien die Antwort zu haben. Sein schon 1941 in Alpirsbach gehaltener Vortrag, eine „Entmythologisierung“ des Neuen Testamentes fordernd, wirkte wie ein Funke, der in ein Pulverfass fällt. Das schien doch die Lösung zu sein: Man konnte das „Kerygma“ als Kern loslösen von allem überholten Weltbildhaften! Die „existentiale Interpretation“ meinte doch vermutlich nicht viel anderes als das, was früher mit Bekehrung, mit Umkehr und mit Einkehr samt dem Neu-Denken gemeint war!

Von Bonhoeffer, der erst nach und nach bekannt wurde, nahmen viele Theologen nichts so stark auf wie seine Parole von der nichtreligiösen Interpretation der biblischen Begriffe. Von Karl Barth, der damals noch viel gelesen wurde, holten sich viele Theologen nur das aus dem dialektisch aufgebauten Material, was in ihr neues theologisches Weltbild passte.

Es muss zu Ehren des von Landesbischof Martin Haug (1949 Nachfolger von Landesbischof Wurm) und zu Ehren des Oberkirchenrats gesagt sein: Sie haben erkannt, in welche Grundlagenkrise Bultmanns Programm die Kirche stürzte. Trotz allen gutgemeinten missionarischen Wollens lief es hinaus auf eine einschneidende Reduktion des Bekenntnisses und auf eine Abkehr von heilsgeschichtlichen Fakten hin zu einer religiösen Deutung von Mythen und Symbolen. Es war jedoch der Versuch von Haug und vom württembergischen Oberkirchenrat, der sehr bewusst von Haug geleitet wurde, die anstehenden Probleme wissenschaftlich aufzuarbeiten. Sie sollten nicht ausufern in einen emotional aufgeheizten Streit auf breiter Ebene. Eine solche wissenschaftliche Aufarbeitung sollte zum Ziel haben, die falsche Interpretation zu entlarven, die „entscheidende Züge“ der neutestamentlichen Botschaft letztlich „eliminiere“ und nicht eben nur „interpretiere“. Zu solch wissenschaftlicher, aber auch echt kritischer Aufarbeitung waren weder Pfarrerschaft noch die Tübinger Fakultät bereit. So kam es dazu, dass das Problem „durch die Decke ins Stockwerk der Gemeinde tropfte“ (Paul Deitenbeck). Der Streit eskalierte.

Die „Stillen im Lande“ melden sich zu Wort (1951 – 1961)

Nicht die Pietisten waren es, welche Kontroversen ins Kirchenvolk trugen. Vielmehr war das „andere Evangelium“ von manchen Kanzeln zu hören. Es wurde in Religionsstunden laut. Es war in Presseartikeln zu lesen. Es verschonte nicht einmal den Lehrbetrieb im Missionsseminar zu Liebenzell. Was die Gemeinschaftsleute bewegte, ist zusammengefasst in der Liedzeile: „Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruh’n?“ Das war ja keine pietistische, sondern eine gemein-kirchliche Sorge. Aus geistlicher Mitverantwortung für die Gemeindeglieder in Württemberg wandten sich Pietisten hilfesuchend an den Oberkirchenrat. Die im November 1950 verfasste Erklärung von Leitern landeskirchlicher Gemeinschaftsverbände „gegen die Lehren von Professor Dr. Bultmann“ wurden vom Oberkirchenrat „verständnisvoll“ akzeptiert.

Schon Anfang 1951 stieß Julius Beck nach. Dieser Rektor und Landeskirchentagsabgeordnete sammelte einen Kreis von Repräsentanten württembergischer Gemeinschaftsverbände zur „kirchlich-theologischen Arbeitsgemeinschaft“; sie wurde zur Keimzelle dessen, was heute die Ludwig-Hofacker-Vereinigung ist. In dieser Arbeitsgemeinschaft entstand das holzschnittartig formulierte Flugblatt „Es geht um die Bibel!“ mit seinem immer wiederkehrenden Protest: „Erledigt ist also …!“ In Tübingen wurde dies Flugblatt der Lächerlichkeit preisgegeben. Jedoch der Oberkirchenrat nahm das Anliegen ernst und beauftragte die Tübinger Fakultät mit einem Gutachten. Es erschien dann unter der bezeichnenden Überschrift „Für und wider die Theologie Rudolf Bultmanns“. Ein solches „Ja/Aber“ hatte Landesbischof Haug nicht im Sinn gehabt. Er ließ darum seine Enttäuschung über die Tübinger Fakultät spüren, ja er spielte auch mit dem Gedanken, seinen von Tübingen verliehenen Ehrendoktor zurückzugeben.

Die „kirchlich-theologische Arbeitsgemeinschaft“ bestand aus Theologen und Laien, aus Schlüsselpersonen sowohl des älteren als auch des neueren schwäbischen Pietismus, sowie aus Repräsentanten des kirchlichen Lebens, die gar nicht eigentliche „Pietisten“ waren. Es gab Namen, die pars pro toto für das gemeinsame Anliegen standen: Rektor Julius Beck, Fabrikant Hans-Karl Riedel, Missionslehrer Reinhard Hildenbrand, Studiendirektor Emil Schäf, Pfarrer Fritz Grünzweig, Studienrat Dr. Paul Müller, Evangelist Fritz Hubmer, Verleger Friedrich Hänssler, Pfarrer Schick, Gomaringen, Pfarrer Joachim Braun, Tübingen, Landesjugendwart Karl Wezel, Walddorf, Missionsdirektor Lienhard Pflaum, Bad Liebenzell, Rundfunkpfarrer Alfred Ringwald, Tübingen, Pfarrer Walter Tlach, Oberingenieur Fritz Liebrich. Dies gar nicht selbstverständliche Zusammenrücken war das eigentlich Neue. In der Folge führte es auch zu einem engeren Zusammenrücken der württembergischen „Gnadauer“.

Es war jedoch nicht nur ein berechtigtes „Anti“, das die Mitglieder der „Kirchlich-theologischen Arbeitsgemeinschaft für biblisches Christentum“ zusammenband. Mit ihren Erklärungen und „Offenen Briefen“ (Oktober 1952 und Neujahr 1961) wollten sie die Kirchenleitung in Oberkirchenrat und Landeskirchentag (Synode) auf ihre Lehrverantwortung hinweisen. Viel wichtiger jedoch war der Arbeitsgemeinschaft das „Pro“: Im Oktober 1953 wurde die Arbeitshilfe „Geistliche Kriterien zur Wahl der Kirchengemeinderäte und des Landeskirchentags“ veröffentlicht. Im September 1954 gab Studiendirektor Emil Schäf, der Leiter der Arbeitsgemeinschaft, auf eigene Kosten im Stuttgarter Sonntagsblatt Beiträge heraus unter der Überschrift „Lebendige Gemeinde“. Dabei ging es ihm um ein zweites kirchliches Aufbaugymnasium, um Aktivierung von Hausbesuchskreisen, um Belebung der Laienarbeit, um Rüstzeiten für Pfarrer, um ein duales Ausbildungssystem bei der Pfarrerausbildung.

Am 31. Mai 1956 fand auf Anregung von Walter Tlach die erste Fronleichnamskonferenz als Gemeinschaftsfest ohne Kirchenpolitik statt. All diese Anliegen wurden deutlich verstärkt, als 1965 der Korntaler Pfarrer Fritz Grünzweig zum Leiter der „Arbeitsgemeinschaft“ berufen wurde. Grünzweig trat dafür ein, dass sie mit dem neuen Namen „Ludwig-Hofacker-Kreis“ das glaubensweckende und glaubensstärkende Anliegen auch nach außen hin signalisiere. Hinein in die Fülle der unterschiedlichen und oft genug auch gegensätzlichen Nachkriegskonzeptionen hatten mit einem Mal bekennende Christen ein vorwärtsweisendes volkskirchliches Konzept eingebracht. Die Stillen im Lande hatten sich unüberhörbar zu Wort gemeldet.

Bekennende gestalten Kirche mit

Auch in anderen Landeskirchen der Bundesrepublik und Westberlins gab es „Bekennende Gruppen“, die sich gegen theologische Fehlentwicklungen zu Wort meldeten. Beileibe waren sie nicht alle „evangelikal“, also bewusst dem Evangelium verpflichtet und dabei ebenso bewusst missionarisch. Erst recht waren sie nicht alle pietistisch. Sie alle jedoch hatten den Eindruck, dass ihre Heimat-Landeskirchen sich in die falsche Richtung bewegten. Überall drängten starke kirchliche Kräfte, die meist mehrheitlich die Landessynoden prägten, auf umfassende Reformen. Es ging nicht mehr nur um eine den Erfordernissen der Zeit und des sogenannten „modernen Menschen“ angepasste Theologie. Sondern es ging um neue Arbeitszweige, neue Methoden, neue Strukturen. Weil die „Welt anders geworden“ sei, müsse auch die Kirche anders werden.

Im Rückblick auf jene Jahre zwischen 1965 und 1975 konstatierte Landesbischof Haug: „Theologie und Kirche sind mit dem ‚Genossen Trend‘ marschiert!“ Dabei ließen sie sich nicht beirren durch die Zwischenrufe der „Bekennenden Gruppen“. Darum ist es kein Wunder, dass es um die „Bekennenden Gemeinschaften“ und um die dort zentrale „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘ “ bald stiller wurde – trotz des zuerst stürmischen Aufbruchs mit den Hauptdaten der Bekenntniskundgebung Dortmund 1966 und der „Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission“ (1970). Es ermüdet, wenn man scheinbar erfolglos zum Protestieren verurteilt ist, ohne mitgestalten zu können.

Einzig in Württemberg öffnete sich eine Tür zur Mitgestaltung für Christen, die für Bibel und Bekenntnis eintraten. Zwar gehörte damals um 1965 die Parole „mehr Demokratie in der Kirche“ auch zum gängigen Trend. Aber im Unterschied zu allen anderen Landeskirchen wurde das schwäbische Kirchenparlament in Urwahl berufen. Um alles wirklich demokratisch zugehen zu lassen, wurde damals festgelegt, dass sich um jeden Synodalsitz mindestens drei Kandidaten streiten müssen. Dieser Prozedur, die auch oft turbulente Wahlveranstaltungen einschloss, unterzogen sich nicht wenige Frauen und Männer aus CVJMs, ECs, landeskirchlichen Gemeinschaften und biblisch geprägten Kirchengemeinden.

Als dann Synodalpräsident Oskar Klumpp wegen der gewünschten Effektivität der Synodalarbeit eine Gruppenbildung befürwortete, fand es sich, dass über ein Drittel der Gewählten sich zum Gesprächskreis „Bibel und Bekenntnis“ (Vorläufer der heutigen Synodalgruppe „Lebendige Gemeinde“) halten wollte; ein weiteres starkes Drittel gehörte dem Gesprächskreis „Evangelium und Kirche“ an. Nur eine Minderheit vertrat als „Offener Gesprächskreis“ Parolen der radikalen Neuerer.

In der Landessynode ließ sich nach 1965 zuerst die Arbeit hoffnungsvoll an. Weithin gab es theologische Verständigungen und ad-hoc-Koalitionen von „Bibel und Bekenntnis“ mit der Gruppe „Evangelium und Kirche“. Sie war damals geprägt von Theologen wie Maisch, Class, von Keler, Spambalg. In einem „Wort an die Gemeinden“ stellte die Synode ihr Bekenntnis zur leibhaftigen Auferstehung Jesu heraus (Reichenau 1967). Trotzdem ließ es sich gerade in Württemberg nicht vermeiden, dass sich Konflikte aufschaukelten. Im Gegenteil!

Konflikte schaukeln sich auf

Die Entwicklung in Württemberg stand in weltweiten Zusammenhängen. Bischof Dr. Lesslie Newbigin schrieb im Rückblick auf den Umbruch im Weltkirchenrat: „Wir hatten es mit anderen Geistern zu tun. Der Zeitgeist war einfach zu stark!“ Nicht einmal die Synode, erst recht nicht der Oberkirchenrat waren in der Lage, das Steuer herumzureißen. Alle Versuche klar-geistlichen Leitens provozierten erst recht den Widerstand.

Darum kamen auch alle synodalen Versuche, Öl beruhigend auf die stürmischen Wogen zu gießen, zu spät. Sie wurden auch kaum mehr ernsthaft von solchen wahrgenommen, die anders dachten. Vielmehr standen die Zeichen auf Sturm. Was über die synodale Urwahl nicht erreicht worden war, sollte nun durch revolutionäre Umwälzung erzielt werden. Wo die Synoden nicht Revolutionäres aufzunehmen bereit waren, wollte die kirchliche außersynodale Opposition nachhelfen. Vergebens rief Altbischof Haug den bei der württembergischen Dekan-Konferenz Versammelten zu: „Das Schiff der Kirche muss hinein ins Wasser der Welt. Aber das Wasser der Welt darf nicht ins Schiff der Kirche hineinkommen! Aber ihr habt schon so viel Wasser hineingelassen, ja hineingepumpt, dass das Schiff der Kirche seinen Kurs nicht mehr halten kann. Schließt die Luken! Prüft die Geister, ob sie von Gott sind!“

Stattdessen kam die 68er-Revolution. In Tübingen war das Stift vornedran mit dabei. Durch aufgebrachte Stiftler wurde sogar Landesbischof Dr. Erich Eichele am Predigen in der Stiftskirche gehindert. Damalige Tübinger Stiftler störten auch Jugendevangelisationen auf dem flachen Land. Die Vikarsversammlung württembergischer Theologen stellte in der „Esslinger Vikarserklärung“ (1969) fest: „Für uns ist die Bibel eben ‚ein Gesprächspartner unter anderen‘.“ Als Gegenreaktion rief der damalige Esslinger Dekan Kurt Hennig spontan die „Evangelische Sammlung“ ins Leben. Ihr gehörten vor allem Theologen an. Das machte deutlich: Die Pfarrerschaft ist keineswegs durchweg der modernistischen Theologie verschrieben! Aber sie tut schwer damit, sich unter vermeintlich pietistischen Bannern zu sammeln. Diese Erkenntnis führte dann auch dazu, in der Wahlvorbereitungsphase für die Kirchenwahl 1971 unter dem Namen „Lebendige Gemeinde“ einen weit über den Pietismus hinausgehenden Kreis solcher zu fassen, die für eine missionarisch werbende Kirche in lebendigen Gemeinden auf dem Boden von Bibel und Bekenntnis eintraten.

In rauhe See geriet auch der Stuttgarter Kirchentag 1969. Die ohnehin aufgepeitschten Wogen wurden aufgeschaukelt durch den plötzlichen Rücktritt von Synodalpräsident Oskar Klumpp. Er hatte behauptet, pietistische Verhandlungspartner hätten ihm den Glauben abgesprochen. Das stimmte zwar nicht. Sogar Landesbischof Dr. Eichele dementierte diese Behauptung. Aber das Stichwort war gefallen. Es entsprach dem simplen Klischee von den unduldsamen Pietisten, die anderen Leuten den Glauben absprechen. Bis heute taucht dieses Klischee als Kampfbegriff auf, um ernstgemeinte und sachbezogene Vorschläge aus den Reihen der „Lebendigen Gemeinde“ zu diskreditieren.

Umso erstaunlicher war dann das Ergebnis der Synodalwahl 1971: Die Gruppe „Lebendige Gemeinde“, vom damaligen Stiftskirchenpfarrer Theo Sorg angeführt, errang die absolute Mehrheit der 90 Synodalsitze. Eine Zeitung berichtete davon unter der Schlagzeile: „Erdrutschsieg der Pietisten!“ Eine andere Zeitung machte es noch deftiger: „Pietcong vor den Toren!“ So wurde der Pietismus schreckenerregend in die Nähe der subversiven Guerillataktik des Vietcong gebracht.

Solche Deutungen waren zerstörerisch. Es wurde zum pietistischen Sonderanliegen deklassiert, was doch gemeinkirchliches Grundanliegen war, nämlich dass Kirche wirklich Kirche Jesu Christi sein und bleiben muss. Es war unangemessen und unzutreffend, den Gesprächskreis „Lebendige Gemeinde“ als „pietistisch“ zu titulieren; denn es geht diesem Gesprächskreis bis heute um das umfassend kirchliche Anliegen, dass die Kirche bei ihrem Grundbekenntnis bleibt, so wie es in der Verfassung der Kirche ausgesprochen ist. Dazuhin hat der Begriff „pietistisch“ in der Öffentlichkeit den negativen Beigeschmack, den ihm schwäbische Tagesmedien beizulegen nicht müde werden. Sie bezeichnen unzutreffend das als „pietistisch“, was ihnen als eng, muffig und geistlos vorkommt.

Aber das war erst der Anfang. Konsequent konzentrierte ab 1971 das revolutionäre Potential der württembergischen Kirche seine Angriffe auf die, wie sie sagten, „pietistische Mehrheit“ der Synode. Der Gipfel des Widerstandes wurde erreicht, als 1976 mehr als zweihundert Pfarrer erklärten: Die von der Synode beschlossene „Anleitung zum Konfirmandenunterricht“ werden wir nicht übernehmen! Die Revolutionäre, die der Synodalmehrheit permanent „Machtmissbrauch“ vorgeworfen hatten, übten nun selbst außersynodalen Machtmissbrauch aus. Da der Oberkirchenrat schon damals nicht daran dachte, angesichts des Ungehorsams irgendwelche disziplinarrechtlichen Konsequenzen zu ziehen, wurde offenkundig: Man darf ungestraft, ja unbehelligt klare Beschlüsse des legislativen kirchlichen Organs unterlaufen.

Die Diffamierungskampagne ging noch weiter: Die bekennenden Christen in Württemberg hatten bewusst darauf verzichtet, für ihre besonderen Anliegen Synodalrückendeckung und landeskirchliche Gelder in Anspruch zu nehmen. Vielmehr bauten sie eigene „freie Werke“ auf für das, was ihnen notwendig zu sein schien; dazu benützten sie eigene Opfer und Spenden. Also für das Tübinger Albrecht-Bengel-Haus, die Hofacker-Konferenzen und Stuttgarter Gemeindetage, die Hilfsorganisation „Hilfe für Brüder“ samt „Christliche Fachkräfte“, die Abendbibelschulen, Publikationen und Vortragsreihen. So wollten die bekennenden Christen ihre pastoralen Anliegen und Gaben in die Gesamtkirche zum Nutzen aller einbringen – eben nicht via synodale „Macht-politik“. Aber genau das wurde ihnen durch württembergische Theologen unterstellt: „Jetzt bauen sie mit den ‚Parallelstrukturen‘ ihre eigene Kirche auf!“ Wieder einmal wurde das Schreckgespenst pietistischer Kirchenspalterei an die Wand gemalt.

Außerhalb von Württemberg sprach man über die „unselige Zerrissenheit“ der fraktionierten Landessynode. Dabei wurde übersehen: Noch schlimmer als die Fraktionierung der Synode war die außersynodale Spannung zwischen der synodalen Mehrheit und der außersynodalen revolutionären Gruppe in der Pfarrerschaft. Nicht selten schien es sogar so, als ob die sonst so individualistisch gewordene Pfarrerschaft geeint würde durch gemeinsame Aversion gegenüber einer „pietistisch gegängelten Kirche“. Bekennende Gruppen und Pfarrerschaft machten sich immer mehr gegenseitig das Leben schwer.

In dieses Netz des Kirchenpolitischen wurde auch die Kirchenleitung verfangen. Das Übergewicht des synodalen und auch außersynodalen Kirchenpolitischen hat für Landesbischof und Oberkirchenrat den Weg schwieriger gemacht. Der Oberkirchenrat tut sich schwer damit, einen notwendigen Gesetzesentwurf vorzulegen, wenn er angesichts der derzeitigen Koalitionsmehrheitsverhältnisse in der Synode zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. Wenn der Oberkirchenrat weise Personalvorschläge für Leitungsaufgaben macht, welche Verantwortung für die Gesamtkirche zeigen, muss er damit rechnen, dass sie von der derzeitigen Mehrheit im Landeskirchenausschuss zunichtegemacht werden. Das Kräftespiel im Bischofswahlgremium, aus Synode samt Oberkirchenrat gebildet, lässt seit Jahren nur noch unter größten Mühen die Wahl eines Bischofs zu. Das Oberkirchenratskollegium hat sich darauf eingestellt, dass der Landesbischof weniger ein eigenes und unabhängiges Verfassungsorgan sein soll, sondern vielmehr der Sprecher der jeweiligen Kollegialmehrheit. Als Bischöfe wie Hans von Keler und Theo Sorg dann und wann ein Ausbrechen versuchten, wurden sie hart ausgebremst.

Dazu kommt das andere, was zur Ohnmacht des Oberkirchenrats führt. Schon vor Jahren hat Landesbischof Haug zum Thema „Kirchenleitung“ geschrieben: „Es fehlt den Leitenden das Wollen zu bewusstem Leiten; den Visitierten fehlt die Bereitschaft, sich korrigieren und leiten zu lassen!“ Das ist die andere Ohnmacht der kirchenleitenden Persönlichkeiten, die sie Tag um Tag zu spüren bekommen.

Wie geht es weiter?

Der Dienst der Ludwig-Hofacker-Vereinigung wird erst recht noch gebraucht werden. Um uns herum sehnt sich eine Welt nach „Erlösung“. Viele der modernen Schriftsteller reden davon. Sie decken hellsichtig auf, was an verborgenen Sehnsüchten in den Seelen der Menschen schlummert: Sehnsucht nach Erlösung von Krankheit, Scheitern und Not. Aber auch nach Erlösung von Nichtigem, vom Bösen, von Schuld, von Gier, von Selbstsucht, von dem Hin- und Hergerissensein zwischen Selbstanklagen und Selbstbestätigung, ja – von der Gottesferne. Wir wollen in der Ludwig-Hofacker-Vereinigung Leute sein, die selbst ganz dringend Erlösung brauchen und darum auch glaubhaft vom Erlöser Jesus Christus reden können. So, dass man uns abspürt: Für uns gibt es nichts Wichtigeres!

Weltweit nimmt das Interesse ab an großen Kirchenorganisationen. Aber die konkret am Ort um das Wort vom Erlöser Jesus sich sammelnde Gemeinde hat Zukunft. Die Ludwig-Hofacker-Vereinigung hat bewusst darauf verzichtet, eine besondere Organisation zu sein, ein Super-Gemeinschaftsverband, so etwas wie eine Kirche. Die Hofacker-Bewegung wollte vielmehr Mut machen zu „lebendigen Gemeinden“ vor Ort. Zu „württembergischen“ lebendigen Gemeinden, nicht zu irgendeinem Abklatsch anderer Konzepte! Das wird in Zukunft erst recht wichtig werden. Gemeinden sind nun einmal keine Verfügungsmasse, die man aus Verwaltungs- oder Finanzgründen hin- und herschieben darf.

Um der Menschen willen dürfen die großen missionarischen Möglichkeiten der Volkskirche nicht rasch aufgegeben werden. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, wie heute Gemeinde Jesu in der Volkskirche bewahrt und neu gewollt werden kann. Es muss das getan werden, was Verheissung hat: Menschen zu Jesus und zu seiner Gemeinde zu rufen, und das auf dem Fundament von Bibel und Bekenntnis.

Wer auch immer sich darum bemüht, wird oft verlachter Aussenseiter bleiben. Denn auch in Zukunft wird mit mancher „anti-evangelikaler“ Aversion zu rechnen sein. Ihr Aufschaukeln habe ich darzustellen versucht. Doch hält das „Laufen im Kampf, der uns verordnet ist“ erstaunlich munter. Sogar das Anstrampeln gegen heftigen Gegenwind. Noch munterer soll uns jedoch erhalten das gespannte Warten auf die Zeit, da der Herr die Gefangenen seines Volkes wirklich erlösen wird. Da werden wir dann sein wir Träumende.

Prälat Rolf Scheffbuch (1931-2012)

Quelle: Lebendige Gemeinde 12/1998