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Zurück zu Luther – Die Evangelische Kirche in der Modernitätsfalle

Die evangelische Kirche unserer Zeit ist durch eine Inflation des Kreuzes gekennzeichnet. So hört man von ihren Repräsentanten und Pfarrern nur noch selten etwas über das Ärgernis und den Skandal des Wortes vom Kreuz, so wie es im Zentrum der Paulus-Briefe und damit des Neuen Testaments steht. Aber man bekommt am Sonntag sehr viel zu hören über die unzähligen kleinen Kreuze dieser Welt wie Hunger, Flüchtlingselend, Arbeitslosigkeit oder Klimakatastrophe. Zusammengehalten werden diese kleinen Kreuze durch die Dauerbereitschaft eines „Reden wir miteinander“.

Das hat schon der große dänische Protestant des 19. Jahrhunderts,  Kierkegaard, als Geschwätz bezeichnet. Der Pfarrer tritt immer häufiger als Gutmensch auf – und das heißt in der Sprache des Neuen Testaments: als Pharisäer. Dabei missbraucht er seine Predigt für einen sentimentalen Moralismus. Das hat Franz Overbeck schon Ende des 19. Jahrhunderts erkannt. Ich zitiere: „Nichts entvölkert unsere Kirchen so sehr, als dass man es in ihrem Gottesdienst so viel mit den persönlichen Ansichten ihrer Prediger zu tun hat.“

Angst vor den eigenen Dogmen

Die evangelische Kirche heute vermeidet Konflikte, indem sie immer weniger behauptet. Sie hat Angst vor den eigenen Dogmen und möchte um keinen Preis orthodox sein. Aber nicht orthodox sein zu wollen, ist für einen Glauben paradox. Denn Orthodoxie heißt nichts anderes als der richtige Glaube. Kennt die evangelische Kirche überhaupt noch den Unterschied zwischen Christentum und einem diffusen Humanismus? Sie ersetzt den Skandal des Gekreuzigten zunehmend durch einen neutralen Kult der Menschheit. Thomas Mann hat das schon vor hundert Jahren „Verrat am Kreuz“ genannt. Was dann noch bleibt, ist die Sentimentalität einer unrealistischen Menschenfreundlichkeit.

Betäubendes Wohlfühlchristentum

Dieses Wohlfühlchristentum befriedigt ein tiefes Bedürfnis nach Betäubung. Jeder kennt ja Marxens Formel von der Religion als „Opium des Volkes“. Genau in diesem Sinne hat dann auch Nietzsche von einem opiatischen Christentum gesprochen und es scharf der ursprünglichen christlichen Erschütterung entgegengesetzt. Gemeint ist bei Marx genauso wie bei Nietzsche: Nicht Religion selbst ist Opium, sondern die modernen Menschen machen aus Religion ein Opiat. Sie benutzen das Christentum als Droge, zur Beruhigung der Nerven. Jede Spur der christlichen Erschütterung ist sorgfältig getilgt. Man lässt sich zwar noch von der Jesus-Geschichte rühren, vor allem an Weihnachten. Aber vom Jüngsten Gericht will niemand mehr etwas hören. Aus Gott ist der liebe Gott geworden. Und aus Jesus ist ein guter Mensch geworden – gewissermaßen ein Integrationsbeauftragter höherer Ordnung. Aber wer den Lehrer und Sozialarbeiter Jesus lobt, will den Erlöser Christus verdrängen. Wenn Jesus nur ein Lehrer des richtigen moralischen Verhaltens gewesen wäre, hätte man ihn nicht gekreuzigt.

Dass die Christen Gott als Vater ansprechen, hat die moderne evangelische Kirche als Freibrief für Gefühlsseligkeit missverstanden. Jesus sagt zwar: Liebe Gott wie ich ihn liebe, nämlich als sein Sohn. Doch dieses Gotteskindschaftsbewusstsein hat in der modernen Welt die Sentimentalität der evangelischen Christen bis in pietistische Gefühlshöhen gesteigert. Und von deren winselndem Tonfall bemerkte schon der Soziologe Max Weber zu Recht, dass er „kraftvolle Männer so oft aus der Kirche gescheucht hat“. Deshalb hat Weber die evangelische Kirche immer wieder daran erinnert, dass auch der Vater des Gottessohns „kein zärtlicher moderner Papa“ ist, sondern eher ein strenger Hausvater. Doch dass Gott kein netter Papa ist und Jesus nicht sozial war, wagt die Kirche heute kaum mehr auszusprechen. Und man muss befürchten: Sie wagt es auch kaum mehr zu denken. Dabei würde es genügen, sich an Luthers schlichte Bestimmung des Wesenskerns der absoluten christlichen Religion zu erinnern, nämlich an Christus und das Kreuz zu glauben und Mildtätigkeit gegen die Armen zu zeigen.

Christentum ohne Happy End?

Neben den Wohlfühlchristen des Wohlstandsalltags gibt es aber auch intellektuelle Esoteriker eines Christentums ohne Happy End, also ohne Auferstehung. Als Soziologe fragt Niklas Luhmann nach der Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft. Sie hat mit dem Problem umzugehen, dass keineswegs nur die Sünder leiden und dass die Welt, so wie sie ist, Zweifel an Gott rechtfertigt. Die Argumente gegen Gott, die sich hier leicht und in Fülle einstellen, können aber gerade von der christlichen Religion abgefangen werden. Dass das sinnlose Leiden dennoch Sinn hat, beweist das Christentum nämlich dadurch, dass sein Gott selbst leidet. Und sein letztes Wort ist eben die Frage: warum? Das ist der harte Kern der Passionsgeschichte: Gott selbst leidet und fragt, warum. Danach kommt nichts mehr. Nach dem Johannesevangelium lautet ja das letzte Wort von Jesus am Kreuz: Es ist vollbracht. Und das hat der evangelische Theologe Rudolf Bultmann so gedeutet, dass – ich zitiere – „mit dem Kreuz Jesu Werk abgeschlossen ist und keiner Ergänzung durch eine körperliche Auferstehung bedarf“. Auch für den Soziologen Luhmann kann die christliche Theologie ihre Aufgabe in der modernen Gesellschaft nur erfüllen, „wenn sie auch dann noch in Jesus ihren Gott zu erkennen vermag – ohne happy end, ohne Auferstehung, ohne ewiges Leben“.

Kreuz und Auferstehung gehören zusammen

Sowohl die Wohlfühlchristen als auch die intellektuellen Esoteriker hängen also einem halbierten Christentum an. Die einen hören gerne die Weihnachtsgeschichte und die Geschichten vom Leben Jesu, wollen aber nichts vom Karfreitag wissen. Die anderen wollen nur an den Karfreitag glauben, aber nichts von Ostern wissen. Es gibt aber keinen christlichen Glauben ohne Kreuz und Auferstehung. Das hat Papst Benedikt XVI., mit dem Luther sicher gerne diskutiert hätte, richtig gesehen. Sehr gut nennt er in seinem Jesus-Buch die Auferstehung einen ontologischen Sprung. Mit ihm beginnt eine neue Schöpfung. Gott greift hier nicht nur mit seinem Wort, sondern unmittelbar materiell in die Geschichtswelt ein. Das ist, ähnlich wie die Jungfrauengeburt, für das moderne Denken natürlich unerträglich. Für die alten Griechen war das Wort vom Kreuz ein Ärgernis, und für die Juden war es ein Skandal. Für die modernen Menschen aber ist die Auferstehung das Ärgernis, das sie mit ihrer Vernunft nicht vereinbaren können. Das leere Grab passt nicht ins moderne Weltbild.

Mehr als eine Zivilreligion

Mein Ruf „Zurück zu Luther!“ richtet sich aber nicht nur gegen die Wohlfühlchristen und die intellektuellen Esoteriker. Er richtet sich auch gegen die Reduktion des christlichen Glaubens auf die Funktionserfordernisse einer so genannten Zivilreligion. Was ist Zivilreligion? So nennt man die Schwundstufe eines Christentums, das nicht mehr in seinem Wahrheitsanspruch, sondern nur noch wegen seiner ethisch und politisch stabilisierenden Funktion ernst genommen wird.

Im Begriff der Zivilreligion fragt der Staat heute selbst nach den integrierenden Werten der modernen Gesellschaft. Man kennt diese Frage aus den Sonntagspredigten und Weihnachtsansprachen der Politiker. Die Zivilreligion fasst dann die Restbestände der religiösen Institutionen zusammen: die Kirchen, in denen wir getauft werden und heiraten; die Grundgesetze, die ohne göttliche Abkunft leer wären; die Schwüre bei Gott, mit denen Staatsoberhäupter ihr Amt übernehmen. Man könnte die „Grundwerte“ als das Dogma der Zivilreligion bezeichnen. Sie verdecken eine Paradoxie. Das hat der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde klar gesehen. Er schreibt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Deshalb ist heute so viel von Verfassungspatriotismus die Rede. Man will die Bibel durch die Verfassung ersetzen.

Es geht in der Zivilreligion also um das Glaubensminimum, das wir zur Geltung bringen müssen, damit die moderne Gesellschaft funktioniert. Und zwar müssen wir dieses Glaubensminimum nicht nur gegenüber den Andersgläubigen, sondern auch gegenüber den Ungläubigen zur Geltung bringen. Man kann es auch so sagen: Zivilreligion ist der Glaubensinhalt, den man zwar nicht glauben muss, aber dem man doch Geltung verschaffen muss.

Evangelische Kirche in der Modernitätsfalle

Als Zivilreligion hat der Protestantismus die großen Themen wie Kreuz, Erlösung und Gnade aufgegeben und durch einen diffusen Humanismus ersetzt. Damit ist er in die Modernitätsfalle geraten. Die evangelische Kirche leidet nämlich nicht daran, dass sie mit der Kulturentwicklung nicht mitkäme. Im Gegenteil. Franz Overbecks Studie über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie endet mit der scharfen These, „dass die Theologie stets modern gewesen ist, und eben darum auch stets die natürliche Verräterin des Christentums war“. Die evangelische Kirche leidet also an ihrer eigenen Realitätsgerechtigkeit. Ihr fehlt der Mut zur Unzeitgemäßheit. So heißt es bei Karl Barth in aller wünschenswerten Deutlichkeit: „Gerade das Unhandliche, Unbrauchbare des Paulinismus, gerade das Weltfremde, Unpraktische, Unpopuläre des Protestantismus ist sein bestes Teil.“ Er hat diese These schon 1922 formuliert. Und der gerade zitierte Satz von Franz Overbeck, dem Freund Nietzsches, stammt sogar aus dem Jahre 1873. Sie haben leider nichts von ihrer Aktualität verloren.

Gerade weil sie so modern und „aufgeklärt“ ist, kann die evangelische Kirche nicht mehr das Heil versprechen und eine neue Welt prophezeien. Schon Nietzsche hat das in aller Deutlichkeit gesehen: „Je mehr man sich von den Dogmen loslöste, umso mehr suchte man gleichsam die Rechtfertigung dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe.“ Das goldene Kalb, um das heute getanzt wird, ist der Götze „Mensch“. Das müsste für einen Theologen genauso evident sein wie für einen Psychoanalytiker. Man liebt die Menschheit, um Gott verdrängen zu können. Und hier gewinnt die christliche Lehre vom Antichristen eine brennende Aktualität. So wie der Antichrist am Ende der Tage kommen wird, um Christus zu imitieren, so erscheint in der Moderne der Götze Mensch als teuflischer Nachahmer des Menschensohns.

Vom Seelenheil zum Sozialheil

Seit es das Christentum gibt, ist Gott der große Störfaktor in der Gesellschaft. Kein Wunder also, dass man ihn immer wieder fälschen, verdrängen, ersetzen wollte. In der Moderne ist Gott erst durch die Gesellschaft und dann durch das Individuum ersetzt worden. Mit dem Untergang des Kommunismus schien zwar die atheistische Religion, die den Glauben an die Erlösung durch Gesellschaft gepredigt hat, ruiniert zu sein, aber in der Rede von der sozialen Gerechtigkeit hält sich dieser Glaube doch noch am Leben. Unsere Ehrfurchtssperre vor diesem Begriff ist heute so mächtig wie nie zuvor. Die Religion der sozialen Gerechtigkeit herrscht fast uneingeschränkt über die Seelen der modernen Menschen. Was sie verdrängt, wird klar, wenn man sich an die große Frage erinnert, auf die nur die Religion eine Antwort geben kann. Sie lautet: Was darf ich hoffen? Als Antwort auf diese Frage hat die gerechte Gesellschaft den gnädigen Gott verdrängt.

Vergötzung des Individuums

Zum Kult des Sozialen fügt sich heute passgenau der Kult des Individuums. Man muss heute nur die Zauberwörter „Selbstverwirklichung“ und „soziale Gerechtigkeit“ aussprechen, um die moderne Massendemokratie in politische Trance zu versetzen. Mit diesen Zauberwörtern kann man alle Widerworte zum Schweigen bringen. „Das Ich und das Soziale sind die beiden Götzen“, hat Simone Weil einmal sehr schön gesagt. Das ist ein Urteil von unglaublicher Hellsichtigkeit und Aktualität.

Das moderne Individuum entstand schon vor 500 Jahren auf der Suche nach dem eigenen Heil – und genau das wird durch Luthers Leben und Werk markiert. Aber in der Zwischenzeit hat das moderne Individuum den Weg vom Seelenheil zum Sozialheil zurückgelegt. Und zugleich versenkt es sich in sich selbst, weil es das eigene Heil nicht mehr von außen erwartet.

Längst hat unsere Alltagskultur eine mittelalterliche Sünde mit einem positiven Vorzeichen versehen. Es ist die Sünde der grübelnden Versenkung in sich selbst. Und die meisten Menschen suchen heute gerade hierin den Heilsweg. Der Soziologe Ulrich Beck hat es so formuliert: „Die Entscheidungen der Lebensführung werden ‚vergottet‘.“ Das Individuum ist nun sein eigener Willkürgott.

Der Kult der Selbstberauschung

Und damit beginnt die Religion der Einmaligkeit. Ihre Varianten sind bekannt: Ich erlöse mich selbst, indem ich mir in einer Religionsboutique einen europäisch verschlankten Buddhismus kaufe. Oder ich errege mich selbst mit Hilfe von Drogen. Oder ich fordere mich selbst heraus, indem ich nur an einem Gummiseil befestigt von der Brücke springe. Oder ich beschäftige mich mit mir selbst, indem ich meine eigenen Leiden und Beschädigungen studiere – am besten gleich in einer Selbsterfahrungsgruppe. Diese Suche nach dem Heil im eigenen Selbst nimmt also ganz handfeste Formen an, sei es, dass man für permanente Fitness sorgt, sei es, dass man sich an den körpereigenen Endorphinen berauscht, ja, Urin trinkt; hierher gehören auch alle Formen der Selbstmedikation.

Es gibt wohl keinen Zweifel, dass es sich hier um religiöse Exerzitien handelt. Das Kultzentrum dieser Übungen ist das „Selbst“ jedes einzelnen. Man berauscht sich an sich selbst. Das Ich nimmt sich selbst als Droge. Selbstverwirklichung ist das Opium aller Ichs. Es gibt deshalb wohl keine Formel der christlichen Theologie, die heute aktueller wäre als Fénelons Wort vom Götzendienst des Ich. Wer sich selbst sucht, findet sich – das ist seine Strafe. Und er findet sich in der Hölle wieder. Um aus dieser Sackgasse des inneren Götzendienstes herauszufinden, braucht der Mensch die Beziehung auf den ganz Anderen. Er braucht die Öffnung zur Transzendenz.

Das Wesentliche kommt von außen

Dass der Mensch im Mittelpunkt stehen will, ist für Luther das entscheidende Problem. Von dieser falschen Selbstsicherheit befreit uns nur die Erkenntnis, Sünder zu sein. Denn durch das Sündenbewusstsein wird der Mensch auf Gott zentriert, statt auf sich selbst. In Glauben und Liebe zeige ich mich als bedürftig. Ich stehe nicht im Mittelpunkt, ich bin nicht souverän. Das Ich ist nicht mein Zentrum. Ich habe Hilfe nötig. Genau das wird durch den Begriff Existenz zum Ausdruck gebracht: Das Wesentliche kommt von außen. Existieren heißt endlich sein, abhängig sein, angewiesen sein auf Hilfe von außen. Gewissheit finden wir also nur außerhalb unserer selbst. Das ist mit der Öffnung zur Transzendenz gemeint.

Prof. Dr. Norbert Bolz, Berlin

© CA-Confessio Augustana Magazin 2/2016 (www.freimund-verlag.de [1])

Buchempfehlung: Norbert Bolz, Zurück zu Luther, 1. Aufl. 2016, ca. 141 Seiten
ISBN: 978-3-7705-6086-8

buchempfehlungen_zurueck-zu-luther-bolzAlles, was man von Luthers Lehre wissen muss, wird von Norbert Bolz knapp und klar dargeboten. Luther werden keine Widersprüche nachgewiesen und es wird auch nicht auf die Zeitbedingtheit seiner Aussagen verwiesen. Vielmehr geht es um die zentralen Bestandstücke von Luthers Lehre. Und diese Lehre ist einfach. Deshalb wird auch dieses Buch über ihn für jeden verständlich sein.

Norbert Bolz bringt Luther gegen den sentimentalen Humanismus unserer Zeit in Stellung. Es gibt nämlich keinen schärferen Kritiker des Gutmenschentums als Luther. Der große dänische Protestant des 19. Jahrhunderts, Søren Kierkegaard, spricht in diesem Zusammenhang von christlicher Abhärtung. Er trifft den entscheidenden Punkt, wenn er sagt, Luther lehre einen Glauben für Erwachsene. Und genau das tut der evangelischen Kirche heute Not.