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Das Leben im Alter gestalten

Was heißt eigentlich alt? In der Geschichte der Menschen gehören wir zu dem kleinen Teil der Länder, die eine sehr hohe Lebenszeiterwartung verzeichnen. In der Antike galt als alt, wer über sechzig war. So war es in Israel, bei den Griechen und den Römern. In Athen und Sparta endete mit 60 die Wehrpflicht. In Rom endete die persönliche Steuerpflicht. Es begann das Greisenalter. Biblisch kennen wir die Hervorhebung „unser Leben währet 70 Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es 80 Jahre.“ Das waren schon die besonderen Ausnahmen.

Endlich Zeit haben!

In den gegenwärtigen Jahrzehnten sehen wir eine ältere Generation, die weit über die 60 hinaus lebt bis 90 plus. Dieser lange Zeitraum ruft hervor, nach einer Gliederung dieser dritten Lebensphase zu suchen. Da spricht man von den „jungen Alten“ und den „alten Alten“, von Hochbetagten, aber auch von der „Generation 55 plus“. Wer in Frankreich mit 60 in den Ruhestand geht, erreicht ab 60 nicht selten eine Spanne von Lebenszeit im Alter, die seiner Zeit im Beruf entspricht. Diese Jahrzehnte, insbesondere die Abschnitte am Anfang des Ruhestandes, rufen nach einer sinnvollen Gestaltung. Sie sind gekennzeichnet durch Verfügbarkeit über ein hohes Maß an Zeit. Viele Möglichkeiten tun sich da auf. Da ist Zeit für die Familie, da ist Zeit für sich selber und auch Zeit für ehren amtliche Mitarbeit jeglicher Art. Wenn die Zeit der vollen Beanspruchung im Beruf vorbei ist, die Jahrzehnte von Verantwortung, von Zuständigkeit und ganzem Krafteinsatz, dann zeigt sich der „Ruhestand“ als eine Phase voller neuer Möglichkeiten.

Auf die Signale des Körpers hören.

Inmitten dieser Lebensphase des Ruhestandes heißt es jedoch, die Kennzeichen des Alters zu registrieren, nicht auszuweichen oder zu verdrängen. Es gilt unübersehbar: Wir bauen ab. Die Kräfte lassen nach. Die Ruhezeiten werden länger. Der Körper sendet manche Signale, die auf das Alter hindeuten. Diese Veränderungen wollen angenommen sein, ohne sich zu zieren.

„Papa, jetzt bist du alt!“

In der Andacht zu meinem 75. Geburtstag, die meine drei Söhne gestaltet haben, legte einer den Weisheitsspruch (Sprüche 17, Vers 6) aus: „Der Alten Krone sind Kindeskinder und der Kinder Ehre sind ihre Väter.“ In der Auslegung fiel auch der bedeutungsschwere Satz: „Papa, jetzt bist du alt!“. Diese Direktheit ist gut und seelsorgerlich deutlich.

Wie man seine Kraft einsetzt.

Die Vorgänge des Älterwerdens sind allermeist gleitend und allmählich. Da ist es jedoch wichtig, inne zu werden, dass man sich mitten im Alter befindet. Viel Positives schließt das Alter ein. Es eröffnet sich die Chance, die vielen Erfahrungen der aktiven Jahre zu verarbeiten, Wichtiges vom Kleinklein zu unterscheiden, etwas Weisheit herauszufiltern. Es bleibt die Tatsache, „man ist von gestern“. Die Enkel leben in einer anderen Welt, unter deren Einflüssen, mit anderen Selbstverständlichkeiten. Die Jahre des Alters können genutzt werden, um das „Gestern“ zu reflektieren, ohne zu denken, es ließe sich einfach fortsetzen – das wäre doch das Allerbeste. Jedoch welche Kontinuität ist wirklich wertvoll? Woher bezieht der Einzelne, eine christliche Glaubensgemeinschaft, noch weiter gefasst: eine Gesellschaft ihr inneres Gleichgewicht? Die vielzitierten Werte kommen ins Spiel; eine Reflexionsphase in der dritten Lebensphase. Bei der Einteilung von verfügbarer Kraft, von ehrenamtlicher Mitarbeit und auch der Beträge, die an Glaubenswerke übersandt werden, verfolgen meine Frau und ich ganz grob drei Wesensmerkmale des christlichen Glaubens: Was dient der Ehre Gottes? Wo wird der weltweite Sendungsauftrag des Auferstandenen ausgeführt? Und wo wird die christliche Nächstenliebe konkret ausgeübt?

Den biblischen Zehnten geben.

Diese Wesensmerkmale unseres Glaubens haben persönliche Bezüge, und weit darüber hinaus geht es um die Unterstützung von Glaubenswerken, deren Reichweite einen großen Radius umfasst. Eingefügt sei hier, dass bei einem zurückhaltenden Haushaltsbudget es keinerlei Anstrengungen braucht, den biblischen Zehnten vom Netto zu geben – und in manchen Jahren auch deutlich darüber.

Kranke mit Öl salben.

Wer aus einem Verkündigungsdienst kommt, wird je nach Kraft und Konzentration weiter dem Evangelium dienen, in Referaten und Vorträgen zu den Quellen des Glaubens hinführen. Immer mehr aber werden wir Älteren zu Christen, die häufig die Versammlungen des Dreieinigen Gottes aufsuchen, die „Gemeinschaft der Heiligen“, wie sie im Glaubensbekenntnis bezeugt wird. Der Zuspruch von Gnade und Vergebung wird wichtig, das Heilige Mahl gibt seine Glaubensbestärkung als „Medizin der Unsterblichkeit“, wie ein griechischer Kirchenvater formulierte. Die „jungen Alten“ haben eine Aufgabe an den Hochbetagten in Besuch und Seelsorge einschließlich des Gebetes und des Segens für den besuchten Mitchristen. Von Christen, die den Jakobusbrief gelesen haben, wird manchmal auch ein eigener Besuch erbeten, bei dem der Kranke unter Gebet und Segen mit Öl gesalbt wird.

Kundige Großmütter können Mut machen zu mehr Kindern.

Das Schenken und Verteilen von christlichen Schriften stellt eine weitere Weise dar, den Inhalten unseres Glaubens zu dienen. Gerade die kleinen Schriften haben hier ihre Bedeutung. Es ist gut, einen Vorrat zu Hause zu haben für verschiedene Gelegenheiten. Da ich selber ein paar solcher Texte geschrieben habe, wollte ich einem Konfirmanden einige davon schenken. Mein Ansinnen war, er könnte da ein Stück hineinlesen. Jedoch mit einem freundlichen Lächeln hörte ich seine Frage: „Opa, was schreibst du denn da so?“. Ich war leicht verdattert. Denn hier begegneten sich ein Großvater der Bücher und ein Enkel mit Smartphone. Er erwartete von mir, eine SMS zu dem, was mir wichtig erschien, niederzuschreiben. Die Zeit für Enkel, wenn einem welche geschenkt sind, bringt eine Quelle von Beobachtungen hervor, von Stunden, die beglücken und wohltun. Dazu auch Zeiten, zu denen bei jungen Familien eine echte Mithilfe erforderlich ist. Solche Unterstützung, vor allem von kundigen Großmüttern, macht jungen Ehepaaren auch Mut, mehrere Kinder zu haben.

„So Gott will und ich lebe“.

Es bleibt noch genug Zeit für eigene Interessen, für Muße und die mögliche sportliche Bewegung. Auch Zeit für Ausstellungen, Museen und Konzerte. Die vielen Möglichkeiten wollen immer wieder zusammen komponiert werden. Schließlich auch ein gewisses Maß an ehrenamtlicher Mitarbeit in christlichen Gremien. Sie ist sichtlich erwünscht, braucht aber auch die Selbstprüfung, wenn man sich zurückzieht. Wenn dann in einem Leitungskreis oder in einem Kuratorium die Jahresplanung für das nächste Jahr in den Kalender eingetragen wird, sage ich dann leise zu mir: „So Gott will und ich lebe.“

Landesbischof i. R. Heinrich Herrmanns, Memmingen