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Der Staat hat die Eltern entrechtet

Der Staat hat die Eltern entrechtet

Im ganzen Land werden plötzlich mißhandelte und vernachlässigte Kinder entdeckt. Der Vorwurf, der Staat habe versagt, ist wahr: Er macht die Eltern zu Arbeitsmaschinen und verwaltet die lästigen Kinder am liebsten selbst. Das ist erstens falsch und zweitens funktioniert es nicht.

Die Nachricht von dem toten Kind in Bremen scheint eine Lawine ausgelöst zu haben. Seither werden landauf, landab in Kellern, Kühlschränken und Kinderzimmern vernachlässigte und mißhandelte, geschlagene und verhungerte Kinder entdeckt. Und jedes Mal steht der Schuldige fest: der Staat, vertreten durch die Polizei, das Jugendamt, die verantwortliche Behörde oder die unverantwortliche Senatorin. Sie alle, heißt es dann regelmäßig, hätten versagt.

Natürlich hat der Staat versagt. Aber doch nicht erst seit gestern oder vorgestern, und auch nicht nur durch Unterlassen. Versagt hat er, als er, im Widerspruch zu der Verfassung, auf den Gedanken kam, den Eltern ihr natürliches Recht zu bestreiten und sie von der „zuvörderst ihnen“ obliegenden Pflicht zu befreien, die Kinder, die sie in die Welt gesetzt haben, auch zu versorgen und zu erziehen.

Keine Rechte ohne Pflichten, der Wahlspruch von New Labor in England, gilt auch in umgekehrter Reihenfolge. Dann heißt er: Keine Pflichten ohne Rechte. Als sich der Staat dazu erbot, den Eltern das Erziehungsgeschäft abzunehmen, hat er gegen diese Regel verstoßen – doch das ist eine Vorstellung, die bei den Staatsfrommen, die auf der Linken und der Rechten in der Mehrheit sind, schlecht ankommt.

Sie wollen die Botschaft, die sie mit ihrem lauten Ruf nach Betreuung stillschweigend verbreiten, nicht wahrhaben. Die lautet: Kinder sind lästig! Wenn sie sich denn schon nicht vermeiden lassen, sollten sie von den Eltern so schnell wie möglich in einer Krippe abgeliefert, an eine Tagesstätte weitergereicht oder in einer Ganztagsschule geparkt werden. Auf keinen Fall sich selbst drum kümmern, denn das bedeutet den Verzicht auf „Karriere“! In dieser Frage ist der West-Staat, wie wir ihn seit der Vereinigung kennen, der legitime Nachfolger der Ost-Partei: Er hat immer Recht, weiß alles besser und muß die Bürger deshalb von der ärgsten Last, der Last der Freiheit, befreien.

Alle politischen Kräfte unter Einschluß der FDP sind sich darin einig, daß das Land, um zu überleben, in ein großes Arbeitshaus verwandelt werden muß. Wenn die Leute dazu genötigt sind, ganztags und außer Hause zu arbeiten, haben sie für das, was früher die Privatsphäre ausmachte, immer weniger Zeit; die überlassen sie dann zwangsläufig dem Staat. Die Staatsvertreter sehen das mit Freude, denn damit steigt ihre Aussicht auf Machtgewinn. Und weil die Macht die Währung ist, in der sie rechnen, betrachten sie die schleichende Enteignung als Geschäft.

Gewiß vermögen die Vielen, wie es bei Aristoteles heißt, mehr als jeder Einzelne allein. Aber doch nur so lange, wie der Staat sie läßt. Das tut er aber nicht. Der Staat, vertreten durch seine Ämter und Behörden, mischt sich ein, will mitgestalten und, wie die Floskel lautet, aktivieren: Als ob in einem Land, das den bei weitem größten Teil seines kollektiven Reichtums darauf verwendet, Renten zu bezahlen, Krankheiten zu kurieren, Arbeitslosigkeit zu verwalten und Pflege zu gewähren, die Rede vom „aktivierenden“ Staat nicht ein Witz wäre, den nur noch bekennende Linke ernst nehmen. Tatsächlich aktiviert ein solcher Staat zu gar nichts mehr; er lähmt, entmutigt, tötet ab.

Eine eher kläglich als üppig bemessene Grundversorgung, bestehend aus sozialen Dienstleistungen, aus Fernsehunterhaltung und Energiezufuhr, sicherstellen und zumessen, das kann der Staat und soll er auch. Aber schon bei der Bildung ist er, wie nicht erst die Pisa-Studien bewiesen haben, drastisch überfordert, bei der Erziehung erst recht. Alles, was über ein sozialistisch kalkuliertes Mittelmaß hinausreicht, ist den Behörden unzugänglich und eben deshalb auch suspekt. Exzellenz ist eine Sache, die von der Staatsmacht beschädigt oder unterdrückt, aber nicht gezüchtet werden kann. Der Staat lebt auch hier von Voraussetzungen, die er nicht garantieren, geschweige denn schaffen kann.

Erziehung, sagt Fontane, sei Innensache, „Sache des Hauses, und vieles, ja das Beste kann man nur aus der Hand der Eltern empfangen“. Doch Eltern kommen in den Programmschriften der Parteien, Gewerkschaften und Verbände nur noch ausnahmsweise vor; und wenn, dann bloß als Risikofaktoren, die so schnell wie möglich durch den Eingriff von oben an den Rand zu schieben oder zu ersetzen sind.

Das tote Kind aus Bremen hat gezeigt, daß, wie und mit was für Folgen Eltern versagen können. Daß, wie und mit was für Folgen der Staat versagt, hat der Fall aber auch gezeigt. Schließlich war es der Staat, der die Existenz von Kindern zum Merkmal einer neuen Unterschicht gemacht und Millionen von ihnen in die Armut getrieben hat. In Deutschland nennt man das sozial.

DIE WELT 20.10.06