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Stellungnahme zur Kontroverse Ulrich Parzany – Michael Diener

Die Kontroverse

Der Gnadauer Präses und Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz Dr. Michael Diener hat im Dezember 2015 in der Online-Ausgabe der WELT seine Auffassung zu gelebter Homosexualität, zur Glaubenspraxis der landeskirchlichen Gemeinschaften, zur Mission und zu seiner eigenen religiösen Sozialisation geäußert. Kurze Zeit später konkretisierte er seine Positionen in der wöchentlichen Online-Medienzeitschrift proKompakt.M. Diener findet einerseits in der Bibel keinen Anhaltspunkt für kirchliche Segnungen homosexueller Beziehungen und deren Gleichsetzung mit der Ehe, andererseits spricht er von einem persönlichen Lernprozess, der ihn zur Anerkennung gegenteiliger Bibelauslegungen und homosexueller kirchlicher Amtsträger geführt habe. Er nennt diese Doppelanerkennung gegensätzlicher Auffassungen „plural“. Bestimmten pietistischen Christen wirft er eine „Abschottung“ gegenüber der Gesellschaft vor. Die pietistische Frömmigkeit, in welcher er selber sozialisiert wurde, sei „nicht für alle geeignet“. Die in Teilen der EKD verbreitete Ersetzung der Mission durch einen interreligiösen Dialog lehnt er ab; die „Erfahrung der Erlösung durch Jesus Christus“ soll auch Muslimen und Juden weitergegeben werden. Die Mitwirkung des EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm bei einem Münchner Islamforum unterstützt er.

Zwei Tage später reagierte der Evangelist Ulrich Parzany mit einem Offenen Brief an M. Diener und mit einer Stellungnahme „Wo gehen wir hin?“

Dieners Anerkennung gegensätzlicher Bibelauslegungen in puncto Homosexualität nennt Parzany eine Auslieferung der Heiligen Schrift an die „Beliebigkeit subjektiver Sichten“. Er zeigt sich davon überrascht, wie schnell M. Diener nach seiner Wahl in den EKD-Rat „die eigenen Leute wegen ihrer angeblichen Abschottung“ kritisiert und die „EKD-Linie“ lobt. Bei den Initiatoren der Initiative „Zeit zum Aufstehen“ (2014) nimmt er „mehr Beschwichtigung und Anpassung als Aufstehen, Bekenntnis und Widerstand wahr“. „Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die EKD aus Anlass des Reformationsjubiläums die Grundlagen des evangelischen Glaubens demontiert“. Parzany nennt zwei Beispiel für diese Demontage. Unter Bezugnahme auf den EKD-Grundlagentext „Rechtfertigung und Freiheit, 500 Jahre Reformation 2017“ (2014) wirft er der EKD vor: „Das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einzigen Retter für alle Menschen wird dem interreligiösen Dialog geopfert“. Eine weitere Demontage der Grundlagen des evangelischen Glaubens sieht er in der Bibelhaltung des Grundlagentextes. Der Rat der EKD hatte dort erklärt, dass man seit der historisch-kritischen Erforschung der biblischen Texte die Bibel nicht mehr wie zur Zeit der Reformatoren als ‚Wort Gottes‘ verstehen könne. Schließlich äußert Parzany, dass er mit Spannung darauf wartet, „welchen Weg die Initiatoren von ‚Zeit zum Aufstehen‘ weitergehen wollen“.

Die Kontroverse spiegelt die innere Zerrissenheit der evangelikalen Bewegung in Deutschland wider. Es ist gut, dass der seit langer Zeit schwelende Konflikt durch die kritischen Rückfragen Ulrich Parzanys wieder einmal an die Oberfläche kommt. Die einen – wie M. Diener und die Initiatoren von „Zeit zum Aufstehen“ –wollen die landeskirchlichen Evangelikalen mit der EKD und die EKD mit den Evangelikalen aussöhnen. Die anderen – wie U. Parzany – wollen in der Kirche „gegen Irrlehre und Gleichgültigkeit die Wahrheit der Heiligen Schrift bekennen und leben“ (Offener Brief) und „den Gemeinden, Gemeinschaften und einzelnen Christen klare Orientierung gemäß der Heiligen Schrift“ geben („Wo gehen wir hin?“).

Helmut Matthies hat weitblickend in idea Spektrum eine Klärung in der evangelikalen Bewegung angemahnt. Andernfalls, so seine Vermutung, könnte das von Parzany vorgeschlagene „Netzwerk Bibel und Bekenntnis“ eine Konkurrenz zur Evangelischen Allianz werden und den Gnadauer Verband in eine Zerreißprobe stürzen.

Kann es eine Aussöhnung zwischen gegensätzlicher Dogmatik und Ethik geben?

Stellt man sich die Frage, wie hoch die Erfolgsaussichten einer Aussöhnung zwischen der evangelikalen Bewegung und der EKD sind, wird man sehr skeptisch, wenn man die gegensätzlichen Positionen in der Dogmatik und Ethik ernst nimmt. Lassen sich „evangelikale und liberale Welt“ versöhnen? Zweifel sind angebracht.

Die Schriftfrage

Wie soll es z.B. in der Schriftfrage zu einer Aussöhnung kommen? Der Rat der EKD hält nach wie vor an der historisch-kritischen Bibelinterpretation fest. Damit werden die menschliche Erfahrung und der menschliche Verstand zum letzten Auslegungskriterium erhoben. Nach Ernst Troeltsch, einem der einflussreichsten Theoretiker der Bibelkritik, kann die historisch-kritische Methode analogieloses Geschehen nicht akzeptieren. Die großen analogielosen biblischen Geschichtswunder wie z.B. die Jungfrauengeburt Jesu, sein Leben als menschgewordener Sohn Gottes, sein stellvertretender Sühnetod und seine leibhafte Auferstehung müssen folglich uminterpretiert werden (wie es ja auch in unzähligen Predigten und kirchlichen Blättern laufend geschieht). Die biblischen Texte können in dieser kritischen Perspektive nicht mehr als ‚Gottes Wort‘ verstanden werden. Damit ist das reformatorische sola scriptura, dass also die Heilige Schrift die alleinige Autorität für Glauben und Leben der Kirche ist, grundsätzlich aufgegeben.

Natürlich darf der Einzelne für sich persönlich noch an der Autorität der Bibel in einzelnen Stücken oder als Ganzes festhalten, aber eine verbindliche Glaubens- und Bekenntnisgrundlage für die gesamte Kirche kann die Bibel unter dieser Voraussetzung nicht mehr sein. Das ist die innere Lage in den EKD-Kirchen seit langem. Die Konsequenz für die Verkündiger liegt auf der Hand. Ihnen wird eine gespaltene Bibelhaltung zugemutet. Persönlich dürfen sie glauben, was sie wollen, aber in ihrem Dienst wird von ihnen erwartet, dass sie die historisch-kritische Auslegungen akzeptieren. M. Diener gibt dafür ein anschauliches Beispiel, wenn er für sich persönlich an der Verbindlichkeit der biblischen Ablehnung homosexueller Praxis festhält, aber gleichzeitig auch ein entgegengesetztes Bibelverständnis anerkennt.

Wer mit den Reformatoren die Bibel als Wort Gottes ansieht, ist in der derzeitigen EKD ein Randsiedler. Er findet keine Synode, die ihn in seiner Bibelhaltung bestärkt. Und nach kirchlichen Amtsträgern oberhalb der Ebene der Pfarrerschaft, die ihn offen unterstützen, muss er lange suchen. Deswegen kann man U. Parzany nur zustimmen, wenn er die Überwindung der historisch-kritischen Bibelauslegung fordert. Eine Einigung bzw. Aussöhnung zwischen der reformatorischen und historisch-kritischen Bibelhaltung ist prinzipiell nicht möglich. Wer die Bibel als Gottes Wort ernst nimmt, dem bezeugt sich ihre Wahrheit immer wieder neu im Gewissen. Er wird sich deswegen mit ihrer historisch-kritischen Uminterpretation niemals aussöhnen.

Die Ethik

Ähnlich sieht es im Bereich der Ethik aus. Wer die Bibel als Wort Gottes ernst nimmt, der nimmt auch die ethischen Weisungen der Apostel ernst. Wenn der Epheserbrief im 5. Kapitel die Gemeinde auffordert, als „Kinder des Lichts“ zu leben und die „unfruchtbaren Werke der Finsternis“ abzulegen, und wenn es dort konkret heißt, dass Christen sich jeglicher Unzucht enthalten, alle Habgier überwinden und alles böse Gerede unterlassen sollen, dann kann man und will man als reformatorischer Christ nicht dahinter zurück. Man lässt es sich vom Apostel sagen, dass diese Verhaltensmuster „verdorben und verkehrt“ sind (Phil 2,15) und vom Reich Gottes ausschließen (1 Kor 6,9f). Stattdessen will man als „Alternativer“ (d.h. „anders Geborener“) nicht mehr für sich selbst, sondern für Christus leben (2 Kor 5,15), die Ehe in Ehren halten (Hebr 13,4), sich in die Danksagung einüben (Eph 5,20) und mit Weisheit reden (Kol 3,16). So üben sich Christen in einen alternativen Lebensstil ein.

Die auf der Basis der historisch-kritischen Auslegungsmethode entwickelte EKD-Ethik sieht anders aus. Da wird die Abtreibung in die Verfügung der schwangeren Frau gelegt („Rosenheimer Erklärung“ 1991), da wird dem Berliner Antiabtreibungs-„Marsch für das Leben“ von der derzeitigen Präses der EKD-Synode der Zutritt zum Berliner Dom verwehrt, da wird Homosexuellen, „denen das Charisma sexueller Enthaltsamkeit nicht gegeben ist“, zu einer „ethisch verantworteten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft“ geraten (EKD Texte 57, 1996), da wird das evangelische Pfarrhaus für gleichgeschlechtliche Partnerschaften geöffnet (VELKD-Bischofskonferenz 2004), da wird die Stiftung der Ehe durch Gott bestritten (EKD-Familienschrift 2013).

Es erübrigt sich fast die Frage, ob eine dem Neuen Testament verpflichtete Ethik und eine solche zeit- und weltangepasste EKD-Ethik miteinander zu versöhnen sind. Sie sind es nicht. Entsprechende gutgemeinte Versuche wurden und werden zwar immer wieder gemacht. Sie können aber nicht überzeugen. Wiederum gibt M. Diener ein anschauliches Beispiel. Er sagt im WELT-online-Artikel einerseits, dass er für kirchliche Segnungs-und Trauungsgottesdienste bei Homosexuellen „keinen Anhaltspunkt in der Bibel“ sieht, und andererseits, dass er gelernt habe, Pfarrerinnen und Pfarrer anzuerkennen, „die ihre Homosexualität geistlich für sich geklärt haben und sich von Gott nicht zur Aufgabe dieser Prägung aufgefordert sehen“.

Wie bei der Bibelhaltung muss man auch hier von einer gespaltenen Ethik sprechen. Es ist weder logisch noch geistlich überzeugend, für sich persönlich die apostolische Ethik zu akzeptieren und gleichzeitig in der Öffentlichkeit ein dieser Ethik entgegengesetztes Leben anzuerkennen. Wer die neutestamentliche Ehe- und Sexualethik und die Warnungen vor Unzucht in jeglicher Form wirklich ernst nimmt, der wird versuchen, Menschen eine Brücke zu einem neuen Leben im Vertrauen auf Jesus Christus zu bauen, ohne sie in ihrer bisherigen Lebensweise zu bestärken.

Wie kann es weitergehen?

Reformatorisch gesinnte Christen finden in der derzeitigen EKD keine geistliche Heimat mehr, weder mit ihrer Bibelhaltung noch mit ihrer Ethik. Sie sind Randsiedler geworden, die vielleicht – wenn sie Glück haben – noch in ihrer Ortsgemeinde, aber kaum noch in ihrer Landeskirche geistlichen Rückhalt bekommen. Viele finden aber auch in ihrer Ortsgemeinde kein geistliches Zuhause mehr und emigrieren innerlich und äußerlich.

Manche haben in den landeskirchlichen Gemeinschaften und deren Häusern geistliche Nahrung gesucht und gefunden. Wenn nun die Initiatoren von „Zeit zum Aufstehen“ zusammen mit M. Diener eine „Aussöhnung“ zwischen evangelikaler Bewegung und EKD versuchen, dann werden diese Christen einen solchen in ihren Augen aussichtslosen Weg schwerlich mitgehen. Sie würden, wenn dieser Weg tatsächlich weiter beschritten wird, ein zweites Mal ihre geistliche Heimat verlieren und wären dann in einem doppelten Sinn Randsiedler.

Was können sie tun? In jedem Fall wäre eine stärkere bundesweite Vernetzung der bibel- und bekenntnisgebundenen Christen wünschenswert, denn als doppelte Randsiedler brauchen sie in besonderem Maß gegenseitige geistliche Stärkung, um standfest zu bleiben, um sich selber aus einer gespaltenen Schrifthaltung und Ethik zu lösen und um andere angefochtene Christen vor einem Abgleiten in die offizielle EKD-Dogmatik und –Ethik zu bewahren.

Angesichts der fortgeschrittenen Welt- und Zeitanpassung innerhalb der EKD und der damit verbundenen Glaubensverführung sollten es die reformatorisch gesinnten Christen aber nicht nur bei der gegenseitigen Stärkung und Information belassen. Als Teil der evangelischen Kirche brauchen sie ein kirchliches Organ, das sie in der EKD vertritt, und das kann nur eine von ihnen berufene Synode sein. Diese könnte dann auch denjenigen, die aus Gewissensgründen die evangelische Kirche verlassen haben, wieder eine geistliche Heimat bieten.

Evangelische Christen in den skandinavischen Ländern und in den USA, die ebenfalls unter dem Abfall von Bibel und Bekenntnis in ihren Kirchen gelitten haben, sind in den letzten Jahren bereits diesen Weg gegangen. Die Zeit ist auch in Deutschland dafür reif.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius

Quellenangaben:

www.welt.de/politik/deutschland/article149946122 [1] (M. Diener)
www.gemeindenetzwerk.de/?p=13006 [2] (U. Parzany)

Aus: AUFBRUCH – Informationen des Gemeindehilfsbundes, Januar 2016. Der „Aufbruch“ kann bei der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes bestellt und zum kostenlosen Bezug abonniert werden (Mühlenstr. 42, 29664 Walsrode, Tel. und Fax: 05161/911330, Email: info@gemeindehilfsbund.de)