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Genozid in Nahost. Erklärung auf der Vatikansynode

Der Vertreter der Weltweiten Evangelischen Allianz auf der Vatikansynode, Thomas Schirrmacher, hat aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Vatikansynode an die Weltchristenheit appelliert, mehr Solidarität mit diskriminierten und verfolgten Christen im Nahen Osten und weltweit zu zeigen. Zugleich gab er eine Erklärung dazu ab, warum er von einem Genozid (Völkermord) an Christen, Jeziden und Mandäern spricht.

Genozid in Nahost. Erklärung auf der Vatikansynode

Die Morde an Christen, Jeziden und Mandäern und die systematische Verfolgung, Vergewaltigung, Versklavung dieser ethnoreligiösen Gruppen in Syrien und im Irak erfüllen eindeutig und zweifelsfrei den Tatbestand des Genozids. Es geht dabei nicht um irgendeine Überdramatisierung, sondern um die simple Anwendung der Völkermorddefinition der UN.

Artikel II der Völkermorddefinition der UN von 1948 lautet: „In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“

Inwiefern sollte das nicht auf die Verfolgung von Christen, Jeziden und Mandäern zutreffen? Ein Element würde genügen, aber vier davon (a, b, c und e) sind hinlänglich belegt, ja es gibt zu jedem Belege aus Propagandafilmen des Islamischen Staates. Lediglich d) ist zwar vorhanden, aber nicht so einfach zu beweisen.

Es ist darauf hinzuweisen, dass dieser Völkermord sowohl angekündigt und geplant ist, als auch tatsächlich den Ankündigungen entsprechend umgesetzt wird.

Wenn es sich aber um Völkermord handelt, warum reden dann immer noch so viele Kirchenführer, Wissenschaftler und Politiker um den heißen Brei herum?

Nun aber zu möglichen Gegenargumenten.

Frage: Sind nicht in Syrien und Irak alle Menschen vom Bürgerkrieg betroffen und fast alle können Opfer des IS werden?

Für einen Genozid ist es unerheblich, dass es auch andere Opfer gibt oder dass es auch Opfer unter der Mehrheitsbevölkerung gibt. Der Genozid an den Juden und an den Roma und Sinti wurde begleitet vom Krieg gegen viele Staaten und Völker und nicht zuletzt auch vom Nazi-Terror gegen das deutsche Volk als Ganzes. Trotzdem bleibt der Völkermord an Juden und an Roma und Sinti Völkermord.

Frage: Bekämpft der IS nicht auch Schiiten oder auch Sunniten, die mit ihrer Version des Islam nicht übereinstimmen?

Wenn man davon ausgeht, dass der IS auch die Schiiten als umrissene Bevölkerungsgruppe oder auch andersdenkende Sunniten als ebenso abgefallen töten und beseitigen will, dann muss man das zusätzlich auch als Völkermord bezeichnen. Daran aber, dass nicht-islamische ethnoreligiöse Minderheiten Ziel eines Völkermords des IS sind, ändert das nichts!

Ich bin mir bewusst, dass die Feststellung, dass es sich um Genozid/Völkermord handelt, im Völkerrecht auch rechtliche Konsequenzen hat. Aber das ist dann ein weiterer, wenn auch notwendiger Schritt, den ich lieber Fachleuten überlasse.

Prof. Dr. Thomas Schirrmacher, Bonn, 17.10.2015

Quelle: Bonner Querschnitte, 378 – Nr. 42/2015