Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Der west-östliche Wertestreit

Dienstag 13. Oktober 2015 von Dr. Dieter Müller


Dr. Dieter Müller

Die tiefe gegenwärtige Beziehungskrise zwischen Rußland und dem Westen hat ihren Grund nicht nur in Macht-, sondern auch in Wertefragen. Völkerrecht haben beide gebrochen – der Westen und Rußland. Das Vertrauen der Bürger zur Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft ist nicht zuletzt durch vielfältige Vertrags- und Rechtsbrüche beschädigt. Machtgewinn – auch im Streit der Werte – wollen beide. Gelenkte Demokratien sind in unterschiedlichem Umfang beide. Der Westen exportiert seine Werte ökonomisch über die Strahlkraft des luxuriöseren Konsumangebots und seiner Freiheitsverheißung. Rußland verteidigt sich mit seiner militärischen Stärke und der Identität stiftenden Kraft eines traditionellen, erneut religiös verwurzelten Menschenbildes. Im Westen bemühen sich machtvolle zivilgesellschaftliche Gruppen das traditionelle, in der Natur verwurzelte, Mann und Frau differenzierende Menschenbild im Namen der Menschenwürde und der Freiheit aufzulösen zugunsten des exzessiv individualistischen Konzepts der Geschlechtervielfalt und versuchen, dies links-liberale Gleichstellungs-Konstrukt weltweit mit missionarischer Inbrunst zu verbreiten.

Rußland dagegen interpretiert die Menschenrechte traditionell wie sie 1948 formuliert waren und wehrt sich vehement gegen die westliche Auslegung, die seine überwiegende Mehrheit als dekadent und pervers empfindet. Auf dem russischen Volkskongress 2006 hat sich die orthodoxe Kirche scharf von dem westlichen Konzept der Menschenrechte abgegrenzt. Der für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats zuständige Metropolit Kirill formulierte: „Orthodoxe Gläubige können nicht schweigen, wenn ihnen fremde Normen aufgezwungen werden, die den Grundlagen des orthodoxen Glaubens widersprechen.“ Dieser Abwehr dienen das staatliche Verbot homosexueller Propaganda oder das Gesetz, das sämtliche NGOs mit Auslandskontakten zwingt, sich gesondert registrieren und einer strengen Finanzkontrolle unterziehen zu lassen.

Der Westen hat sich weithin an Homosexualität gewöhnt und nimmt sie politisch korrekt erzogen hin. In Rußland dagegen wird sie in der Mehrheit der Bevölkerung als unnatürlich abgelehnt. Im Westen sind die Kirchen in ethischen Fragen an den Rand gedrängt und zur Anpassung verleitet. In Rußland hat die Orthodoxe Kirche sehr wohl einen erheblichen ethischen Einfluß, dies um so mehr, als der Staat sie wieder als Normen-Spender nutzt. Der Westen neigt dazu, Identitäten zu verflüssigen. Das gilt für Nationen, Familien, Ehen und Geschlechter. Rußland sucht seine nationale Identität neu durch die traditionellen Institutionen zu festigen. Zwar sind in Rußland wie etwa in Deutschland Staat und Kirche dem Gesetz nach getrennt, dennoch stellt die „Russische Orthodoxe Kirche heute einen der wichtigsten Faktoren, wenn nicht den Kern des nationalen und kulturellen Identitätsfindungsprozesses Russlands dar“ (Jutta Scherrer). Sie wurde „gleichsam zum Zement der zu rekonstruierenden nationalen Identität.“

Nicht nur Rußland, auch der Westen zeigt beunruhigende Tendenzen von Entdemokratisierung. Die Konstruktion des europäischen Projektes leidet unter einem beträchtlichen Demokratiedefizit. Die Gender-Ideologie verbreitet sich klamm-heimlich durch Verwaltungshandeln, das nirgends demokratisch legitimiert wurde. Eine westliche Gesellschaft, die das zivilreligiöse Entstehen einer neuen politisch-korrekten Werte- und Gesinnungsdiktatur unter dem Menschenbild der Gender-Theorie zuließe, würde ihren Widerspruch zum Natürlichen – christlich formuliert zur Erhaltung der Schöpfung – und die daraus resultierenden Spannungen und Verwerfungen nicht unbeschadet überstehen. Es könnte sein, daß die russische Gesellschaft mit ihrer Fundierung in der orthodox-christlichen Spiritualität und ihren Identität stiftenden Institutionen (Nation, Familie, Ehe) sich am Ende als die robustere erweist.

Pastor i. R. Dr. Dieter Müller, Kiel

Quelle: Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, 36. Jahrgang, Nr. 1/2015

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 13. Oktober 2015 um 9:54 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.