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EU-Parlament und die Griechenfrage: Langeweile am Rand des Abgrunds?

Seit Monaten zieht das griechische Schuldendrama inner- und außerhalb der Europäischen Union größte Aufmerksamkeit auf sich. Im vermutlich letzten Akt zeigt sich: Es ist ein politisches Drama. Denn an die Regeln der EU und des Euro halten sich schon lange die meisten Staaten nicht mehr. Diese Regeln wären indirekt ein Exit-Procedere: Wer sich nicht an sie hält, steigt automatisch und stufenweise aus. Im Moment wären demnach nur noch drei Staaten Vollmitglied des Euro, Griechenland aber längst draußen. Das ist freilich auch Interpretations-, mithin auch Verhandlungsmaterie. Eine Lehre aber lässt sich aus dem Griechendrama bereits ziehen:  Wenn es darauf ankommt, entscheiden die Staats-und Regierungschefs und nicht die EU-Verträge. Gerade der Fall Griechenland zeigt mit Wucht, wie sehr die Souveränität der einzelnen Nationalstaaten das beherrschende Prinzip der EU inklusive Euro-Raum geblieben ist. Besonders deutlich lässt sich das am Europa-Parlament beobachten. Es spielt im Griechendrama keine nennenswerte Rolle. Selten ist das Demokratiedefizit der EU so klar zutage getreten.

Schon Ende Mai, als die Griechenfrage bereits Schlagzeilen in den Medien produzierte, titelte die Brüsseler Insider-Zeitung „Politico“: „Das Parlament langweilt sich“ (The Parliament is bored [1]). Seine Beamten grübelten, mit welchen Themen sie die Plenarsitzungen ausfüllen sollen. Die von den Europa-Korrespondenten beschriebene Langeweile ist allerdings objektiv damit erklärbar, dass die EU-Kommission sehr viel weniger Gesetzesinitiativen vorlegt. Das hat vornehmlich vier Gründe. Erstens: Die Reformkräfte gewannen bei den EU-Wahlen 2014 so stark hinzu, dass sie nun als Alternative ernst genommen werden, und der Leitspruch der Barroso-Jahre „Mehr Europa ist die Lösung“ nicht mehr widerspruchslos hingenommen wird. Kommissions-Präsident Juncker hat sich außerdem zu einem neuen Ansatz europäischen Regierens verpflichtet: „Weniger und besser“. Zweitens: Es bleibt kaum noch ein Bereich übrig, den Brüssel noch nicht reguliert hätte. Drittens: Die meisten bestehenden EU-Direktiven verpflichten die Kommission durch Überprüfungsklauseln zu gründlichen Evaluierungen, bevor neue Gesetzinitiativen auf den Weg gebracht werden. Diese Expertenarbeit braucht Zeit. Viertens: Die Juncker-Kommission wird erst Ende Juni eine ganze Reihe von Generaldirektoren neu ernennen. Sie sind die eigentlichen Chefs im Tagesgeschäft der Brüsseler EU-Behörde.

Deshalb schlagen die Europa-Abgeordneten seit Wochen die Zeit mit Initiativberichten tot. Initiativberichte sind formaljuristisch bedeutungslos. Aber sie beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung und können von Interessengruppen leicht manipuliert werden. Wer achtet schon auf den feinen Unterschied zwischen Legislativ- und Initiativ-Entschließung? Weltfremde Initiativberichte sind auch deswegen nicht ungefährlich, weil sie die Europa-Abgeordneten daran gewöhnen, manchen abstrusen Forderungen zuzustimmen. Wenn ähnlich skurrile Formulierungen dann auf einmal in einem Gesetzentwurf stehen, fällt es nicht mehr auf. 1719 unverbindliche politische Stellungnahmen hat das EU-Parlament in der vergangenen Legislaturperiode (2009-2014) verabschiedet, und nur 1071 Gesetzesakte.

Einige Beschlussvorlagen zur Annahme im Plenum werden immer weltfremder und ideologischer. Beispiel: Bereits in der vergangenen Legislaturperiode brachte die portugiesische Sozialistin Edite Estrela einen (Legislativ-) Bericht zur Überarbeitung der Direktive über EU-Mindeststandards für den Mutterschaftsurlaub ein. Das EU-Parlament überspannte jedoch die ideologisch motivierten Forderungen so sehr, dass die EU-Mutterschutzdirektive jetzt komplett abgeschafft wird. Die inter-institutionellen Verhandlungen wurden „sine die“ vertagt. Kurz vor dem Ende der vergangenen Legislaturperiode verabschiedete das EU-Parlament dagegen mit Unterstützung der christdemokratischen EVP-Fraktion einen EU-Fahrplan zur Bekämpfung von Homophobie und Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität (2013/2183(INI) [2]). Darin gibt das EU-Parlament genaue Hinweise und Empfehlungen, wie gleichgeschlechtliche Lebensweisen und die Genderideologie durch die Mitgliedsstaaten und ihre Behörden akzeptabel gemacht werden sollen, und zwar auch im Schulsystem und in Politikbereichen, für die die EU gar keine Zuständigkeit besitzt. Kurz vor dem EU-Wahlkampf 2014 kam der zweite „Estrela-Bericht“, der diesmal dem Thema Abtreibung gewidmet war. Der in Deutschland (und anderen EU-Mitgliedsstaaten) noch immer gültige Straftatbestand „Abtreibung“ sollte zum Menschenrecht erhoben werden. Dieser Bericht führte zu einem Aufstand der Familienverbände und einem deutlichen Kopfschütteln bei vielen Beobachtern in ganz Europa. Edite Estrela verlor die Abstimmung und wurde von ihrer eigenen Partei in Portugal für die Europawahlen nicht mehr aufgestellt. Auf Estrela aber folgte Tarabella: Der wallonische Sozialdemokrat legte Ende 2014 seine eigenen Gedanken zum Jahresbericht über die Gendergleichstellung in der EU vor. Wieder ungläubiges Kopfschütteln – aber Zustimmung im Plenum.

In der Plenarsitzung dieses Monats legte die bayrische SPD-Europa-Abgeordnete Noichl jetzt mit ihrem Bericht über „die Strategie der EU für die Gleichstellung von Frauen und Männern nach 2015“ nach. Frau Noichl behauptet in ihrem Bericht, daß Ehe und Mutterschaft gesundheitsgefährdend seien und verlangt daher Quoten für das Ehe- und Familienleben  („Regelungen für die ausgewogene Aufteilung der Verantwortlichkeiten in Familie und Haushalt“). Sie fordert Lehrbefugnisse der EU-Kommission für Sexualausbildung an Schulen, ungeachtet der Zuständigkeitsverteilungen zwischen Europa, Mitgliedsstaaten und Regionen in der Bildungspolitik. Minderjährige Schüler sollen an Schulen Zugang zu Abtreibung und Verhütungsmitteln auch ohne elterliches Einverständnis erhalten. Abtreibung soll kein Straftatbestand mehr sein, sondern ein Menschenrecht. Das Adoptionsrecht soll für Transsexuelle ausgeweitet werden, aber Adoptionskinder sollen ihre leiblichen Eltern nicht kennen dürfen. Quoten sollen zukünftig die Zusammensetzung der Parlamente regeln. Die EU-Kommission soll das nationale Personenstandsrecht kontrollieren, um die individuell bevorzugte Gender-Identität uneingeschränkt anstelle der „geschlechtsspezifischen Indikatoren“ (Frau/Mann) anzuerkennen. So zieht sich der Emanzipationsdiskurs des EU-Parlaments über 27 Erwägungsgründe und 80 Paragraphen hin. Eine deutsche Europa-Abgeordnete gab fassungslos zu Protokoll: „Die EU wird ein gewaltiges Steuerungssystem von Werten und Normen, die weltfremd sind.“

Die Christdemokraten stimmten nicht geschlossen gegen diesen Bericht. Dadurch machte die Fraktion der EVP den Weg frei zur Annahme des Noichl-Berichts. Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmung belegen, dass keine andere Fraktion so zersplittert war, wie die Christdemokraten. Zwar wissen alle Beteiligten, dass es erst einer konkreten Vertragsänderung bedarf, um solche Vorstellungen zu Gesetzen zu machen. Dennoch rechtfertigt das keine Enthaltung, sofern man zu christlichen Grundwerten steht. Man kann aber generell angesichts der namentlichen Abstimmungen feststellen,  dass es zu gesellschaftspolitischen Fragen der Gendergleichstellung im aktuellen EU-Parlament keinen Konsens gibt. Von 750 stimmberechtigen MdEP stimmten nur 341 (45,5%) für den Noichl-Bericht. 281 stimmten dagegen (37,4%). Aber 81 enthielten sich (10.8%)! Der deutlich größte Teil dieser Enthaltungen kam aus den Reihen der Christdemokraten.

Das sind Spielfelder des Parlaments. Es ist nicht die Schuld des EU-Parlaments, daß die Verdrossenheit gegenüber Europa wächst. Viel liegt auch am Demokratiedefizit. Aber daß das Parlament dazu beiträgt, das zeigt nicht nur die Griechenfrage.

Quelle: Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V., www.i-daf.org [3]

Brief aus Brüssel, Juni 20015