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Der Zeitgeist und die evangelische Kirche

Am 14. März 2015 hielt der Jugend-Evangelist Andreas Malessa, in Altensteig (Baden-Württemberg) einen Vortrag zum Thema: „Christsein in der Postmoderne“. Dieser Vortrag wurde auf einem Flyer angekündigt mit den Worten: „Widerstehet dem Zeitgeist!“ schallt es von Kanzeln und aus frommen Blättern, doch wer die Fenster und Türen seines Gemeindehauses mit dem Isolierband der Rechtgläubigkeit abdichten will, stellt fest: Er ist schon drin, der „Geist der Zeit“. Im Denken und Fühlen unserer Kinder z.B. in den Sachzwängen unserer Arbeitsstelle. In unseren Beziehungen, im Lebensstil und Freizeitverhalten, sogar in unserem Glauben sind wir „Kinder unserer Zeit“.

Was also tun? Können wir unsere Kultur und Gesellschaft missionarisch – diakonisch – prophetisch beeinflussen oder gar prägen? Ja, indem wir nicht „von“, aber engagiert und barmherzig mitten „in“ der Welt sind.

Ich werde das Thema „Zeitgeist und evangelische Kirche“ in fünf Abschnitten behandeln:

  1. Wer oder was ist eigentlich der Zeitgeist?
  2. Wo liegt der Unterschied zwischen der Aktualität der Verkündigung und der Bindung an den Zeitgeist?
  3. Wie zeigt sich der Zeitgeist in der Kirche?
  4. Woher kommt die auffällige Hingabe der Evangelischen an den Zeitgeist?
  5. Wie überwinden wir den Zeitgeist?

1.  Wer oder was ist eigentlich der Zeitgeist?

Er ist die geistige Kraft menschlichen Denkens, die einer bestimmten Epoche ihr Siegel aufdrückt. (Vgl. hierzu: Karl Baur. Zeitgeist und Geschichte. München 1978, S. 13ff.) Der Zeitgeist ist die Denk- und Fühlweise (Mentalität) eines Zeitalters. Der Begriff bezeichnet die Eigenart einer bestimmten Epoche beziehungsweise den Versuch, uns diese zu vergegenwärtigen. Das deutsche Wort Zeitgeist ist übrigens über das Englische als Lehnwort in zahlreiche andere Sprachen übernommen worden.

Der Begriff selbst, also „Zeitgeist“, ist eine Wortschöpfung des Theologen und Dichters Johann Gottfried Herder für das allgemeine intellektuelle, geistige und kulturelle Klima einer Zeit bzw. einer Epoche. Goethe, der Freund Herders, umschreibt in seinem „Faust“ (Faust I: 575-577) den „Geist der Zeiten“ mit den Worten:

„Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“

Goethe veranschaulichte diesen Begriff, indem er formulierte: „Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, dass die entgegengesetzte sich in die Ecke zurückziehen und und für den Augenblick im stillen verbergen muß, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der dann auch eine Zeitlang sein Wesen treibt.“ (Art. Zeitgeist. In: Schischkoff, Georgi (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 16. Aufl. Stuttgart 1961, S. 639)

Diese Beobachtung Goethes ist inzwischen mit dem ganzen Instrumentarium demoskopischer Forschung analysiert worden. Elisabeth Noelle-Neumann, die frühere Leiterin des Allensbacher Institutes für Demoskopie hat dieses Phänomen erforscht und die Ergebnisse in ihrem Buch „Die Schweigespirale“ zusammengefaßt. Sie schreibt:

„Schweigespirale heißt: Menschen wollen sich nicht isolieren, beobachten pausenlos ihre Umwelt, können aufs feinste registrieren, was zu-, was abnimmt. Wer sieht, dass seine Meinung zunimmt, ist gestärkt, redet öffentlich, läßt die Vorsicht fallen. Wer sieht, dass seine Meinung an Boden verliert, verfällt in Schweigen.“ (Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. Frankfurt/M., Wien, Berlin 1982, S. XIII)

Diese Beobachtung ist aufschlußreich auch im Blick auf die Kirche. Indem auch hier die einen laut reden und sich der Medien bemächtigen, geben sie im wahrsten Sinn des Wortes den Ton an. Sie wirken stärker als sie wirklich sind. Sie bestimmen die Themen, die in den Gremien zu behandeln sind. Sie behaupten die Dringlichkeit und Notwendigkeit dieser Themen so lange und so stark, bis am Ende sogar die Mitglieder des Kirchenvorstandes im letzten Dorf davon überzeugt sind. Und wehe, sie wären es nicht! Sie würden sich hoffnungslos isolieren. Pfarrer oder einzelne Synodale können davon ein Lied singen, was es heißt, etwa in puncto Feministische Theologie oder Gender-Ideologie eine dem Zeitgeist entgegengesetzte Meinung zu äußern. Noelle-Neumann beschreibt, was denen widerfährt, die eine auffällige eigenständige Meinung aus der Position einer verschwindend kleinen Minderheit heraus vertreten:

„Wichtig ist zu beachten, dass öffentliche Meinung immer eine irrationale wertgeladene Komponente hat, einen moralischen Wert. Wer anders denkt, ist nicht dumm, sondern schlecht. Aus dem moralischen Element zieht die öffentliche Meinung ihre Kraft, ihre Isolationsandrohung.“ (A.a.O., S. XI f.)

Auch manches kirchenleitende Handeln wird vor diesem Hintergrund plausibel.

„Sein Urteil über öffentliche Meinung, was moralisch gebilligt und nicht gebilligt wird, bildet sich der einzelne aus zwei Quellen: der unmittelbaren Umweltbeobachtung und ihren Signalen von Billigung und Mißbilligung, das ist das eine; aus den Massenmedien,indem Signale, die sich gegenseitig bestätigen, in den Medien beobachtet werden, das ist das andere. Auf diesem Wege … kommt die Wirkung der Massenmedien auf den Zeitgeist (ein anderer Begriff für öffentliche Meinung) zustande, und der Zeitgeist wiederum beeinflußt die Einstellung und das Verhalten des einzelnen.“ (A.a.O., S. XII f.)

Sicherlich gibt es Zeiten und Situationen, in denen der Zeitgeist dem Christentum günstig ist – und es gibt die entsprechen umgekehrte Situation.

2.  Wo liegt der Unterschied zwischen Aktualität der Verkündigung und Bindung an den Zeitgeist?

Die Kirche stand zu allen Zeiten vor der Frage: Wie kann die einmalige und einzigartige Botschaft vom Heil in Jesus Christus so verkündigt werden, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft und Prägung sich angesprochen fühlen, ohne dass die Botschaft aus Gründen falscher Rücksichtnahme verkürzt oder ergänzt wird? Aktualisierung ist notwendig. Sie darf aber nicht in Anbiederung an den Zeitgeist erkauft werden. Das Entgegenkommen und Verständnis für andere kommt – christlich gesprochen – aus dem Geist des Evangeliums und hat zugleich die Verkündigung dieses Evangeliums zum Ziel.

Das ganze Neue Testament ist dafür ein Beispiel, wie aus dem Verstehen des Judentums und des Griechentums das Verständnis für die Menschen erwächst, die von dem einen oder anderen Geist geprägt sind.

Das Neue Testament kann sogar die vom damaligen philosophischen Zeitgeist geprägten Begriffe wie Logos, Wahrheit und Gerechtigkeit aufnehmen, indem es sie sozusagen „tauft“ und ihnen einen neuen Inhalt gibt: Jesus Christus.

Er ist der Logos, er ist die Wahrheit, er ist die Gerechtigkeit. In diesem Sinne konnte auch der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth schreiben:

„Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selber nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne … Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen.“ (1. Korinther 9,20.22-23)

Die Tatsache, dass das alte Evangelium jeweils neu gesagt werden muß, darf nicht zu einem „neuen Evangelium“ führen. Dazu stellt der Apostel klipp und klar fest: „Aber auch wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würde, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht.“ (Galater 1,8)

3.  Wie zeigt sich der Zeitgeist in der Kirche?

An drei Beispielen möchte ich darstellen, wie der Zeitgeist weite Bereiche der Kirche geprägt hat und wie diese Prägung, die heute so deutlich ist, bereits vor Jahrzehnten eingesetzt hat – damals noch von vielen kaum bemerkt.

Zeitgeist feministisch – Zeitgeist ökologisch – Zeitgeist synkretistisch

Ich habe beobachtet, dass bei den Wahlen zu kirchenleitenden Ämtern diejenigen kaum eine Chance hatten bzw. haben, die in den genannten Bereichen kein positives Engagement zeigten.

Zeitgeist feministisch

Der feministischen Bewegung geht es nach ihrer eigenen Selbstdarstellung um ein gerechteres Verhältnis von Männern und Frauen in der Gesellschaft und eben auch in der Kirche. Dieses Bemühen führte teilweise zu grotesken Umformungen der biblischen Botschaft.

Der Bremer Landesverband der Evangelischen Frauenhilfe wollte 1995 seiner 20 Jahre alten Satzung eine zeitgemäße Sprache geben. Dazu paßte nach Ansicht des Vorstandes nicht mehr die im Text vorgegebene Erfüllung der Aufgaben „in der Liebe Gottes in Jesus Christus“. Die schwer nachvollziehbare Begründung: „Christus“ heißt übersetzt der Gesalbte. Christus ist ein Herrschaftstitel. Könige empfingen bei ihrem Amtsantritt die Salbung an der Stirn. Christus ist also ein Titel, mit dem Jesus Herrschaft zugesprochen wird. So heißt es ja auch in dem bekannten Choral:

Jesus Christus herrscht als König,
alles wird ihm untertänig,
alles legt ihm Gott zu Fuß.
(EG 123)

Aus diesem Herrschaftstitel – so der Vorstand der Frauenhilfe – wurde und wird in der Kirche männliches Herrschertum abgeleitet. Darum der Vorschlag der Frauen: Jesus ja, Christus nein.

Derartige „Korrekturen“ wurden bereits Jahre zuvor in der evangelischen Presse und Publizistik angemahnt. So konnte man im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt, dem früheren Flaggschiff der evangelischen Presse einen längeren Beitrag lesen unter der Überschrift:

Ein verräterischer Titel. Ein Plädoyer für die Abschaffung des Wortes „Herr“ in der Bibel.

Der Beitrag beginnt mit den Worten: „Es ist höchste Zeit, das Wort “Herr“ aus dem christlichen Sprachgebrauch zu entfernen. Dieser Name für Gott widerspricht allem Eintreten für Demokratie und Menschenrecht. Er verfälscht die biblische Botschaft. „Herr“ stammt aus der Zeit, als „Herrschaften“ aufkamen. Sie wurden möglich mit dem Eigentumserwerb an Land, Vieh und Geld. Damit konnte einer andere auch dafür belohnen oder bezahlen, dass sie für ihn Gewalt übten. Unterdrückung wurde organisiert. Ein Mann bekam die Macht über viele. Abhängigkeit von gewalttätigen Herren verwandelte auch Gott in einen gewaltigen, allmächtigen Herrn, in einen Herr-Gott. Wer seitdem seine Hoffnung auf „auf den Herrn“ richtet, hofft letzten Endes auf dessen Übermacht, auf Gewalt, nicht auf Demokratie und Recht.“ (Eberhard Fincke: Ein verräterischer Titel. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. Nr. 35 v. 28.08.1992, S. 18)

Diese Meinung mutete zunächst wie eine bizarre Randerscheinung innerhalb der Evangelischen Kirche an. Aber das war sie durchaus nicht. Markantestes Beispiel dafür ist die sog. „Bibel in gerechter Sprache“. (Gütersloh 2006, 3. Aufl. 2007)

Sie wurde von 52 Theologen erarbeitet, zu denen auch kirchenleitende Persönlichkeiten gehörten. Das Geleitwort schrieb Peter Steinacker, damals Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

In dieser seltsamen Bibel wird die „gerechte Sprache“ in dieser Weise hergestellt, dass z.B. in den Psalmen Gott abwechselnd als „der Ewige“ und „die Ewige“ bezeichnet wird oder als „der Lebendige“ und „die Lebendige“ oder „der Eine“ und „die Eine“.

Der Text der Bergpredigt beginnt nach dieser Übersetzung mit den Worten: „Jesus sah die Volksmenge an und stieg auf einen Berg. Als er sich hingesetzt hatte, kamen seine Jüngerinnen und Jünger zu ihm.“ (Matthäus 5,1)

Neben den Jüngerinnen werden auch Apostelinnen, Prophetinnen und Lehrerinnen genannt. Im 1. Korintherbrief lesen wir: „Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer…“ (1. Korinther 12,28)

Das liest sich in der „Bibel in gerechter Sprache“ so: Gott hat der Gemeinde unterschiedliche Aufgaben gestellt, da sind ersten Apostelinnen und Apostel, zweitens Prophetinnen und Propheten, drittens Lehrerinnen und Lehrer…

Und das Vaterunser beginnt mit den Worten: „Du Gott, bist uns Vater und Mutter im Himmel.“ (Matthäus 6,9)

Der damalige EKD-Vorsitzende Bischof Wolfgang Huber stellte fest: „Dass eine Übersetzung immer auch Interpretation enthält, wird hier umgedreht: Die Interpretation wird als Übersetzung ausgegeben. Das ist ein Verstoß gegen das reformatorische Schriftprinzip. Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema der Bibel. Aber man kann doch nicht unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit einen Bibeltext so verdrehen, dass etwa dort, wo eindeutig zwölf Männer gemeint sind, „Apostelinnen und Apostel“ geschrieben wird und der Leser den Eindruck erhält, als hätte es in diesem Kreis auch Frauen gegeben.“ (Zit. nach: DerTagesspiegel. Berlin v. 11. Februar 2007)

Zeitgeist ökologisch

Sich für die „Bewahrung der Schöpfung“ einzusetzen, steht jedem Christen gut an. Die politische Bewegung der „Grünen“ hat in dieser Hinsicht wichtige Anstöße gegeben. Auffällig ist jedoch, dass es dieser Bewegung – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zwar um den Respekt gegenüber der Schöpfung geht, aber nicht gegenüber dem Schöpfer.

In manchen Gemeinden versuchte man seit Ende der achtziger Jahre beides miteinander zu verbinden. Es fanden sog. Öko-Andachten und sogar Tiergottesdienste statt. Zu Spezialisten auf diesem Gebiet entwickelte sich ein Pfarrerehepaar in Glauberg (Wetterau-Kreis). Am Pfingstmontag 1989 fand in den Mauern des ehemaligen Klosters Schiffenberg bei Gießen der erste Ökumenische Gottesdienst für Menschen und Tiere statt. Mehr als tausend Besucher waren gekommen. Das Besondere: sie hatten ihre tierischen Lieblinge mitgebracht. An dem zweieinhalbstündigen Gottesdienst nahmen etwa 250 Tiere teil: vor allem Hunde und Katzen, aber auch Pferde, Rinder, Esel, Kaninchen, Wellensittiche, Meerschweinchen und Schildkröten. Die Initiative zu diesem „Zoo-Gottesdienst“ ging von der damals gegründeten „Aktion Kirche und Tiere – AKUT“ aus. (epd-Wochenspiegel. Frankfurt/M. Nr. 20 v. 18.05.1989, S. 7; idea-Spektrum. Wetzlar. Nr. 20 v. 18.05.1989, S. 2)

Noch einen Schritt weiter ging ein Pfarrer in Greiz bei Plauen. Er taufte in einem Altenpflegeheim im Rahmen einer kleinen Feier die beiden Kätzchen Nico und Susi. Die Bewohner des Heimes hatten es angeblich so gewünscht. (idea. Nr. 81/82 v. 20.09.1990, S. 11f.)

Bereits 1984 erschien ein „Manifest zur Versöhnung mit der Natur“. Wörtlich heißt es dort:

Die Christen können bei ihrem Eintreten für die Bewahrung der Schöpfung nicht übersehen, dass sie selber schuldig geworden sind. Sie haben diese Schuld zu bekennen…“ (Günter Altner, Gerhard Liedke, Klaus M. Meyer-Abich, A.M. Klaus Müller und Udo E. Simonis: Manifest zur Versöhnung mit der Natur. Die Pflicht der Kirchen in der Umweltkrise. Neukirchen-Vluyn 1984, 3. Aufl. 1985, S. 24).

Die hier gebrauchte Begrifflichkeit zieht sich wie ein Dreitakt durch viele ähnliche Erklärungen aus Kirche und Theologie zum Thema Ökologie: Zerstörung der Schöpfung – Sünde – Schuldbekenntnis. Damit scheint ein ganz umfassendes, alles Leben umgreifendes Schöpfungsverständnis ausgedrückt zu sein. Aber es scheint nur so. Denn dieser leidenschaftliche Kampf für das Leben, dieser Einsatz für Kröten, Uhus, Froschlaich und vom Aussterben bedrohte Tierarten steht in einem geradezu gespenstischen Kontrast zur Praxis der jährlich über hunderttausendfachen Tötung ungeborenen Lebens.

Würden die gleichen Öko-Aktivisten auch hinsichtlich der Tötung des ungeborenen Menschenlebens in diesem Dreitakt reden: Abtreibung ist Zerstörung der Schöpfung, ist Sünde und fordert daher ein Schuldbekenntnis, dann wären sie glaubwürdig.

Um nicht falsch verstanden zu werden. Es gibt Grenzsituationen, in denen eine Abtreibung verständlich ist. Aber es muß doch zutiefst betroffen machen, wenn in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, nach wie vor über 90 Prozent der Abtreibungen aus Gründen der sog. sozialen Indikation erfolgen.

Zeitgeist synkretistisch

Was ist Synkretismus? Synkretismus besteht auf der Voraussetzung, dass alle Religionen Spiegelungen einer allgemeinen Urreligion seien und hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes nur graduelle Unterschiede aufweisen.

Das liest sich dann bei einem Bremer evangelischen Theologen so: „Es fällt mir schwer, anzunehmen, es gäbe eine allgemeinverbindliche Wahrheit. Von der Vorstellung, Christus sei der Heiland aller Menschen, würde ich mich gern verabschieden.Ich freue mich darüber, wenn andere ihren eigenen Heiland, ihre eigene Erlösung gefunden haben. Ich kann darum nicht glauben, dass die Bibel mit ihren verschiedenen, ja gegensätzlichen Überzeugungen mir den Auftrag gibt, meine Wahrheit über die anderen zu stellen.“ (Gemeindebrief: St. Remberti-Nachrichten. Nr. 6, Dezember ’92 – Januar ’93)

Wer eine derartige Überzeugung vertritt, der kann auch mit den Gläubigen anderer Religionen gemeinsame Andachten und Gottesdienste feiern. Die Tendenz zu synkretistischer Einmütigkeit zeichnete sich bereits Mitte der achtziger Jahre ab.

Um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen: Am Sonntag, dem 26. Oktober 1986, fand in Stuttgart ein „Ökumenisches Gebetstreffen“ in St. Eberhard statt.

Die Liturgie enthielt folgende Abschnitte:

Gebet der Israelitischen Religionsgemeinschaft

Muslimisches Gebet (aus dem Koran)

Hindumeditation (aus der Bhagavadgita)

Buddhistisches Gebet (Karaniya-Metta-Sutta)

Liturgische Eröffnung

Wort des Katholischen Bischofs von Rottenburg-Stuttgart

Gebet, dreimal unterbrochen durch den gesungenen Gebetsruf der Gemeinde:

Herr, erbarme dich.

Christus, erbarme dich.

Herr, erbarme dich.

Gesang aus der Griechisch.-Orthodoxen Liturgie (aus der Großen Doxologie)
Evangelium (Matthäus 5,1-10)

Wort des Evangelischen Landesbischofs

Stille

Große Litanei (Friedensektenie der Russisch-Orthodoxen Liturgie)

Große Fürbitten (Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens…)

Gemeinde singt nach den einzelnen Fürbitten:

Kyrie, Kyrie eleison.

Christe, Christe eleison

Gemeinde: Lied (Sonne, der Gerechtigkeit)

Vater unser (in allen Sprachen gleichzeitig)

Segen

Gemeinde: Lied (als Kanon: Lobet und preiset, ihr Völker, den Herrn…)

4.  Woher kommt die auffällige Hingabe der Evangelischen an den Zeitgeist?

Im kirchlichen Bereich will man sich besonders aufgeschlossen zeigen gegenüber modernen Zeitströmungen. Man möchte zeigen:

Kirche ist nicht von vorgestern.
Kirche ist modern.
Kirche geht mit der Zeit.

In dieser Hinsicht zeigt sich die Evangelische Kirche gegenüber der Katholischen Kirche aufgeschlossener, progressiver – aber um den Preis, dass sie damit auch anfälliger für bestimmte ungute Wirkungen des Zeitgeist ist.

Woher kommt diese unterschiedlichen Haltung gegenüber dem Zeitgeist bei Evangelischen und Katholiken?

Gerhard Schmidtchen, bis 1990 Professor für Sozialpsychologie und Soziologie an der Universität Zürich, schreibt: „Katholiken wachsen im Vergleich zu Protestanten religiös wesentlich behüteter auf in einer dichten religiösen Atmosphäre. 22 Prozent der Protestanten, aber 49 Prozent der Katholiken berichten, sie hätten ein sehr religiöses Elternhaus gehabt. Katholiken haben eine deutlichere konfessionelle Identität, sind überzeugtere Katholiken, als die Protestanten überzeugte Protestanten sind.“ (Gerhard Schmidtchen: Protestanten und Katholiken. Zusammenhänge zwischen Konfession, Sozialverhalten und gesellschaftlicher Entwicklung.In: Konfession – eine Nebensache? Hrsg. Von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Redaktion: Hans-Georg Wehling. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1984, S. 14)

Dieser Transzendenzverlust führt nach Schmidtchen dazu, dass „Protestanten auf der Suche nach Außenhalten“ sind:

„Die unbehausten Protestanten suchen Geborgenheit in neuen Konsensstrukturen.“ (Schmidtchen, a.a.O., S. 15)

Das macht sie empfänglicher für die Verbrüderung – pardon: für die Verschwisterung – mit dem Zeitgeist: „Die deutschen Protestanten sind immer gute Erzeuger und Abnehmer verwegener politischer Entwürfe und politischer Heilsideen gewesen.“ (Schmidtchen, a.a.O., S. 17)

Es ist ein Zeichen schwindender oder gar mangelnder Vollmacht, wenn die Kirche dem Zeitgeist zu entsprechen versucht, wenn sie die Synthese mit ihm sucht, anstatt die Antithese, die mit ihrem Auftrag gegeben ist, durchzuhalten.

Wie aber soll die Antithese, dass Christen in der Welt, aber nicht von der Welt sind, durchgehalten werden, wenn in weiten Teilen der evangelischen Kirche der Zeitgeist mit dem Heiligen Geist verwechselt wird?

5.  Wie überwinden wir den Zeitgeist?

Für das geistliche Leben der Kirche sollte grundsätzlich gelten, dass sie in ihrem Bereich gegenüber dem Zeitgeist auf deutliche Distanz bleibt. In diesem Sinne mahnt der Apostel Paulus im Römerbrief: „Stellt euch nicht der Welt gleich.“ (Römer 12,2) Den griechischen Urtext könnte man an dieser Stelle auch so übersetzen: Fallt nicht in dasselbe Schema wie die Zeit. Die lateinische Bibelübersetzung, die sog. Vulgata, übersetzt diese Stelle so: Nolite conformari huic saeculo. In dieser Übersetzung wird das Nein zum „Konformismus“ besonders sinnfällig.

Diese Distanz ist allerdings nur dann möglich, wenn wenn in der Kirche die Gabe der Geistesunterscheidung wirksam ist. Es gibt sicherlich genügend Christen in der Volkskirche, die diese Gabe haben. Aber das Problem besteht darin, dass die Mehrzahl dieser Christen den Kurs der Kirche nicht mitbestimmen kann, wenn es darum geht, auf sie zu hören.

Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, (Berlin) hat erfreulicherweise selbstkritisch beklagt, dass sich die Kirche in den vergangenen Jahren zu sehr an die Welt angepaßt habe. Wörtlich sagte er in einem Interview mit der FAZ:

„Es stimmt, dass wir Jahrzehnte hinter uns haben, in denen die evangelische Zeitgenossenschaft groß geschrieben wurde. Ich war daran selbst beteiligt und sage mit der nötigen Selbstkritik: Das war verbunden mit einer Selbstsäkularisierung der evangelischen Kirche“ – also mit einer Selbstverweltlichung der evangelischen Kirche. Denn das Wort Säkularisierung – abgeleitet vom lateinischen saeculum (Zeit, Zeitalter) – bedeutet ganz allgemein Verweltlichung.

Laut Huber haben die gesellschaftlich engagierten Kirchenmitglieder die Notwendigkeit zur Erneuerung des Glaubenslebens zu gering eingeschätzt. Sie seien nicht deutlich genug der Auflösung von Glaubensinhalten, Glaubenswissen, und Frömmigkeitsformen entgegentreten. (Arbeitskreis Christlicher Publizisten, ACP-Information 2/2011, S 4)

Was uns hilft gegenüber dem Zeitgeist ist ganz einfach das Vertrauen auf die Kraft des Heiligen Geistes? „Wir haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist.“ (1. Korinther 2,12)

Der Heilige Geist öffnet uns nicht nur das Verständnis der Bibel. Er gibt uns auch die notwendige Orientierung in allen Lebens- und Zeitfragen. Jesus sagt: „Der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren.“ (Johannes 14)

Der Heilige Geist lässt uns nicht nur Jesus als den Christus erkennen: „Niemand kann Jesus den Herrn nennen außer durch den Heiligen Geist.“ (1. Korinther 12,3)

Der Heilige Geist gibt uns Kraft und Ermutigung: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf.“ (Römer 8,26)

Der Heilige Geist gibt uns die wunderbare Freiheit, dass wir auch vor unseren Gegnern aufrecht stehen können: „Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2. Korinther 3,17)

In dieser herrlichen Gewißheit können wir getrost dem Zeitgeist begegnen und ihm die Stirn bieten. Das Wirken des Heiligen Geistes wird erfahren, wo Gemeinden auf dem Grund der biblischen Wahrheit eben um diesen Geist bitten und den Verheißungen Gottes vertrauen.

Seit Jahrhunderten wird der Heilige Geist der Kirche zwar im sonntäglichen Gottesdienst bekannt. Aber das Vertrauen auf seine Orientierung gebende und lebensspendende Wirksamkeit hatte sich verflüchtigt und damit auch die Hoffnung, dass Gottes Geist auch kaputte Gemeinden, dass er ein Totenfeld zu neuem Leben erwecken kann. wie es im Buch des Propheten Hesekiel (Kap. 37) zu lesen ist.

Dass wir diese Hoffnung haben dürfen, dafür sollten wir dankbar sein. Das sollte Ansporn sein, uns weiterhin in den Gemeinden, in denen wir zu Hause sind, zu engagieren. Wenn es stimmt, dass es Gemeinden und Bereiche in der evangelischen Kirche gibt, die durch den Zeitgeist verwüstet sind, dann stimmt es allerdings auch, dass es in dieser „Wüste“ Oasen gibt. Unsere Aufgabe ist es, die Wege zu und zwischen diesen Oasen gangbar zu halten, indem wir uns gegenseitig besuchen, informieren, füreinander in der Öffentlichkeit eintreten. So versteht sich auch der Gemeindehilfsbund – als Hilfe und Unterstützung für angefochtene Gemeindeglieder.

Ja, wir sollten dankbar sein, dass es trotz aller zeitgeistigen Entartungen innerhalb der Kirche noch lebendige Kirche gibt, lebendige Gemeinden und gläubige Christen.

Was bedeutet es schon, dass die Kirche wackelt? Wirklich: Je mehr sie wackelt, ohne umzukippen, desto deutlicher erweist sich, dass es der Heilige Geist ist, der sie vor dem Umkippen bewahrt. (Bruce Marshall – der 1987 verstorbene schottische Schriftsteller)


Pastor Jens Motschmann, Bremen

Vortrag bei den Kongressen des Gemeindehilfsbundes „Die Gemeinde in der Zerreißprobe zwischen Nachfolge und Verweltlichung“ in Krelingen, 21. März 2015 und in Bad Teinach, 28. März 2015

Alle Vorträge und Seminare der Kongresse in Krelingen vom 20.-22.3. und in Zavelstein vom 27.-29.3. werden in einer Dokumentation veröffentlicht. Diese kostet 5,00 € zzgl. Versand und kann in der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes vorbestellt werden (info@gemeindehilfsbund.de [1]).