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Das Schriftverständnis und der Riss durch die Kirche

Leser der sächsischen Kirchenzeitung „Der Sonntag“ debattierten auf der Internetseite www.sonntag-sachsen.de über den Gesprächsprozess zum Schrift- und Kirchenverständnis in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens – Rückblick und Versuch einer Bilanz

1.  Gesprächsort und –teilnehmer

Über einen Zeitraum von ca. 2 Jahren (Sommer 2012 – Sommer 2014) tobte und plätscherte je nach Muse der Beteiligten auf der Internetpräsenz der sächsischen Kirchenzeitung „Der Sonntag“ ein merk- und manchmal denkwürdiges Gespräch. Ein Gespräch mit vielen Teilnehmern. Von denen nicht alle den gesamten Zeitraum über dabei waren. Manche stiegen bei einem interessanten Thema ein und klinkten sich später wieder aus. Andere „hielten“ von Anfang bis Ende durch. Aber diese bunt gemischte Truppe machte das Gespräch lebendig, hielt es am Leben und sorgte auch für manchen „Aufreger“.

Interessant war, dass sich die allermeisten Teilnehmer nicht persönlich kannten. Von Manchem wusste man den richtigen Namen, manch Anderer gab sich allerdings nur per „Nickname“ zu erkennen. Bunt wie das Leben war auch die Zusammensetzung der Teilnehmer. Von gestandenen Pfarrern über Theologen, Ärzten, Arbeitern, Angestellten bis hin zu Rentnern war alles vertreten (darauf ließ sich aus dem Inhalt der Gespräche folgern).

Und auch von seiner geistlichen Prägung her waren die Disputanten sehr bunt gemischt.

Ausgeprägte Lutheraner, „konvertierte“ Katholiken, fundamentalistische Biblizisten, engagierte Evangelikale, „normale“ Landeskirchler – alles war vertreten.

Auslöser des Gesprächs war ein oder mehrere Beiträge des „Sonntag“ zum Gesprächsprozess in der sächsischen Landeskirche. Diese Artikel konnte man auf der Homepage nachlesen und sie waren mit einer Kommentarfunktion ausgestattet. Über diese (umfangmäßig nicht begrenzte) Kommentarfunktion kam es dergestalt zum Gespräch, dass Leser ihre Meinungen zum Artikel niederschrieben und andere Leser auf eben diese Kommentare wiederum antworteten. So entstand nun ein Gepräch, das ein bemerkenswertes Eigenleben entwickelte. Die eigentlichen Auslöser (die Artikel der Zeitschrift) fungierten nurmehr als Sprungbrett zum Gespräch.

An dieser Stelle sei der Redaktion des „Sonntag“ ein ausdrückliches Dankeschön für die großzügige Gewährung dieses Gesprächsraumes ausgesprochen. Eines Gesprächsraumes, der zuweilen nicht wirklich im „Sinne des Erfinders“ genutzt wurde, da es auch regelmäßig Aufrufe zum Austritt aus der sächsischen Landeskirche zu lesen gab.

2.  Gesprächsinhalte

Die Inhalte der Gespräche waren anfänglich bestimmt vom Inhalt der Artikel, auf die sie sich bezogen. Doch schnell folgten Antworten auf Meinungsäußerungen, Gegenfragen, Statements, die nur noch wenig direkt mit dem Ursprungsthema zu tun hatten. Als große Klammer des Gesprächsinhaltes fungierte aber durchweg der Gesprächsprozess in der sächsischen Landeskirche. Da ging es naturgemäß um Themen wie die biblische Bewertung gelebter Homosexualität, Fragen des Schriftverständnisses, prinzipielle Herangehensweisen an die Bibel, Umgang mit Andersdenkenden in der Kirche. Immer wieder ging es aber auch um tagespolitische und gesellschaftsrelevante Themen wie Genderismus, Stellung zum Islam, ethische Fragen wie Abtreibung und auch Erziehungsfragen wurden gestreift. Theologische Schwerpunkte setzte Themen wie „negative Theologie“, existentielle Interpretation, von philosophischen Richtungen geprägte theologische Modelle usw.

Mag auch diese oberflächliche Zusammenstellung der Themen sehr unübersichtlich wirken, muss doch der lange Zeitraum der Diskussion bedacht werden. Inhaltlich ließ sich das Gespräch wirklich gut nachvollziehen und blieb nicht ohne mal mehr mal weniger ausgeprägte Lerneffekte.

3.  Wesen des Gesprächs

Hier lag neben der thematischen Vielfalt und der äußerst inhomogenen Zusammensetzung der Teilnehmer die größte Herausforderung. Sollte unser Gespräch gewisse Rückschlüsse auf den Gesprächsprozess in der Landeskirche zulassen oder gar Teil dessen sein (wovon ich stark ausgehe, denn von ähnlich offenen, intensiven und inhaltlich relevanten Gesprächen ist mir leider kaum etwas bekannt), so steht es um unsere Fähigkeit zum Gespräch nicht zum Besten. Selbst wenn man berücksichtigt (oder auch gerade dann), dass die Sache, um die es ging (unsere Haltung zur Bibel mit allen daraus erwachsenden Folgen) von großer Wichtigkeit ist und Geist und Emotionen gleichermaßen beansprucht, sollte ein sachliches, vom Bemühen um Verständnis und gegenseitigen Respekt geprägtes Gespräch möglich sein. Dies war leider nicht immer der Fall. Da wurde gepoltert, über andere (die man nur virtuell kannte) geurteilt, da wurde provoziert, manchmal mit Worten um sich geschlagen, die Welt in Schwarz und Weiß eingeteilt usw.

Was dabei besonders auffiel, war die Tatsache, dass sich viele unschöne Begleiterscheinungen des Gesprächs nicht einer bestimmten theologischen Prägung zuordnen ließen. Sie zogen sich durch die ganze Bandbreite geistlicher Positionierungen. Auf beiden Seiten („konservativ“ wie „liberal“) waren Menschen jedweden Schlages vertreten. Unsachlichkeiten, Unterstellungen, Beschimpfungen, Lächerlichmachen – vieles war überall zu finden – leider!

 Aber es gab auch das Gegenteil: sachliches, vom Bemühen um Verständnis getragenes und trotzdem von klaren Positionierungen gekennzeichnetes Gespräch. Und das machte Mut und auch Freude. Dies ist zu großen Teilen zwei Aktivposten unseres Gesprächs zu verdanken: Andreas Rau (auf der konservativen Seite – oder um seiner Gliederung zu folgen: bei A) und „Paul“ (wer auch immer) auf der liberalen Seite (oder eben B). Wobei eben konservativ und liberal nur Unterscheidungsbegriffe sind und nicht die Vielgestaltigkeit der persönlichen Prägungen vollumfänglich widergeben.

4.  Ergebnisse und Lehren aus dem Gespräch

Dies nun der wichtigste und entscheidendste Punkt: welche Erfahrungen, Ergebnisse und Lehren haben wir (oder ich) aus unserem langen Gesprächsgang gezogen?

Nun, zuerst gab unser Gespräch deutlichen Aufschluss darüber, dass leider wirklich Entscheidendes zwischen uns steht. Ohne an dieser Stelle zu sehr ins Detail zu gehen oder gar einzelne Gesprächsfragmente als Zitate herbeizuziehen, muss ich trotz allem konstatieren: das Schriftverständnis ist DIE große Scheidewand, die als Riss durch unsere Kirche geht. Wie man der Übersichtlichkeit wegen die verschiedenen Positionierungen benennen mag (siehe oben) – ob konservativ oder liberal, A oder B (wie es Andreas Rau in seinen Darlegungen häufig tat) – darüber kann man sich streiten (ich bleibe hier der Einfachheit halber bei A und B), über das Faktum des an entscheidenden Stellen unterschiedlichen Schriftverständnisses aber nicht.

Wie sieht dieses unterschiedliche Schriftverständnis im Detail aus?

Bei A (wozu ich selbst mich deutlich hinzuzähle) ist die Bibel Gottes Wort. Gottes Wort im vollen Umfang. Gottes Wort, zwar unterteilt in Altes und Neues Testament und daher mit aufeinander bezogener und differenzierter Auslegung, aber eben Gottes Wort. Dieses Wort lässt sich nicht aufteilen und auseinanderdividieren in Gottes Wort und Menschenwort. Es spricht deutlich und durch die Hilfe von Gottes Geist auch verständlich zu uns Menschen. Es ist oberste Autorität in allen Fragen unseres Glaubens und aller aus ihm resultierenden und gründenden Entscheidungen und Antworten auf Fragen unseres Lebens. Dabei wollen wir nicht zwischen Wortsinn und Inhalt trennen. Und alle Entscheidungen müssen sich am Wortlaut von Gottes Wort messen lassen. Natürlich ist dabei das Gesamtzeugnis der Bibel maßgebend, nicht einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Stellen. An Gottes Wort ist unser Gewissen gebunden. Wir können nicht unter Beiseiteschieben oder Umdeutungen des biblischen Wortes Entscheidungen treffen, die diesem widersprechen.

Bei B finde ich gewisse Unschärfen in der Stellung zur Bibel. Viele Differenzierungen fallen ins Auge: die Bibel enthält Gottes Wort, ist es aber nicht vollständig; manches in der Bibel ist falsch; die Bibel ist nicht Gottes Wort; Gott redet in der Bibel zu uns nur insofern, als sich die biblischen Worte mit dem Wirken seines Geistes verbinden etc. Dabei hat man sich (so mein persönlicher  Eindruck) emanzipiert vom Anspruch der Bibel auf uns und unser Leben und Entscheiden. Der Wortlaut der Bibel ist nicht mehr unzweifelhaft maßgebend, was z.B. dazu führen kann, dass man im Glaubensbekenntnis bekennt „geboren von der Jungfrau Maria“, die Jungfrauengeburt aber als unglaubhaft ablehnt oder umdeutet. Der Bibel wird zwar zugestanden, in Verbindung mit Gottes Geist in unser Leben sprechen zu können, aber ob und mit welchem Inhalt dies geschieht, bleibt merkwürdig blass. So wird z.B. viel von Jesu Liebesgebot gesprochen – und damit auch die eigene positive Haltung zur gelebten Homosexualität begründet, die anderen, im direkten Bezug aber durchweg negativen biblischen Aussagen zu dieser Lebensform jedoch relativiert. In ähnlicher Weise findet man zu vielen Fragen Haltungen, die sich nicht mit dem Inhalt der Bibel begründen lassen (z.B. bei Fragen zum Gericht Gottes, zur ewigen Errettung und andererseits auch  zur ewigen Verlorenheit, Wahrheitsfrage im Kontext anderer Religionen, Geschichtlichkeit von biblischen Berichten usw.).

Unsere (individuell unterschiedliche) Deutung dessen, was Gott uns Menschen durch die Bibel sagt, wird zum eigentlichen und sinnstiftenden Inhalt. Unsere Deutung ersetzt das in der Bibel vorfindliche Wort Gottes. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Deutungen je nach persönlicher Prägung, Zeitgeschichte(-geist) und gegenwärtigem Wissensstand immens unterschiedlich ausfällt. Auf diese Weise wird die Axt an alles gelegt, das vor uns lebenden Generationen wichtig und Fundament ihres Glaubens geworden ist. Selbst die Grundlage unseres Glaubens, das stellvertretende Leiden und Sterben von Jesus für uns, als Sühne für unsere Sünde sowie seine leibhaftige Auferstehung werden durch unterschiedliche Interpretation und Deutung zu einer Seifenblase, auf die Leben zu gründen nicht wirklich lohnt. Übrig bleiben nur mehr Worte oder Worthülsen, die wir zwar gemeinsam benutzen aber sehr unterschiedlich füllen. Übrig bleibt im Extremfalle die inhaltliche  Entleerung all dessen, was Gott für uns getan hat und sein Wort uns lehrt. Lehre wird zu Leere. Ein anderes Evangelium kann sich einschleichen, dass nur schwer von der wirklichen frohen Botschaft zu unterscheiden ist.

In diesen Zusammenhang ist wie oben schon geschrieben, auch die Bewertung der Homosexualität zu stellen. Die Haltung in dieser Frage ist eben gerade kein marginal auftretender Punkt, zu dem unterschiedliche Erkenntnisse eben möglich sein können, sondern eine Folge des zutiefst unterschiedlichen Schiftverständnisses. Dies ist auch bei anderen ethischen Fragen klar zu beobachten: Abtreibung, Sterbehilfe u.a., überall finden sich die beiden Gruppen (A und B) in ihren Haltungen fein säuberlich getrennt vor. Und ein klares, anerkanntes Korrektiv ist durch die Demontierung der Bibel nicht mehr vorhanden.

Wohlgemerkt: auch auf der A-Seite unserer Kirche ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir sind keineswegs frei von Überhebungen, Engführung und mancher Lieblosigkeit. Aber wir (so hoffe ich wenigstens) lassen uns mit der Bibel in der Hand korrigieren.

Wie gehen wir mit dieser Situation in unserer Kirche um? Zunächst muss uns bewusst sein, DASS diese Last auf unserer Kirche liegt. Und es ist keine Sache, mit der es sich gut miteinander leben lässt. Wir nutzen zwar häufig noch die gleichen geistlichen Vokabeln und sprechen die gleichen Bekenntnisse, kommen im praktischen Leben und im tiefen Inhalt unseres Glaubens aber zu einander widersprechenden und sich manchmal sogar einander ausschließenden Entscheidungen und Überzeugungen. Hier hilft es nur, genau nachzufragen. Was meint der Andere mit seinen Worten? Warum gelangt er zu diesen Überzeugungen? Ich persönlich halte nichts vom übereilten und pauschalen Absprechen von (Recht)-Gläubigkeit. Ich bin mir außerdem bewusst, dass der große Rahmen der evangelischen Landeskirche (z.B. im Vergleich mit einer Ortsgemeinde) naturgemäß auch mit einer gewissen Vielfalt an Glaubensprägungen einhergehen muss. Einengung und Ausgrenzung von menschlicher Verschiedenartigkeit sind unserer Kirche nicht förderlich und werden auch dem biblischen Zeugnis nicht gerecht.

Uns muss andererseits aber auch bewusst werden, dass die Unterschiede viel größer sind, als dass wir sie mit dem Hinweis auf verschiedene Prägungen und Erkenntnisse relativieren könnten. Zu gewichtig sind die Folgen, die wir uns mit dem Negieren der tiefen Unterschiede in Bezug auf unsere Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit selber zuziehen. Wir stehen im Begriff, das Fundament unseres Glaubens, unseres Kirche-Seins zu unterhöhlen. Sind wir als Christen dem Worte Gottes, und damit Jesus selbst, noch zu Gehorsam verpflichtet, oder stellen wir unsere bruchstückhafte Fähigkeit des Erkennens in den Mittelpunkt unseres Lebens?

Als schwierig empfinde ich auch die Tatsache, dass im Vorfeld des sächsischen Gesprächsprozesses eben gerade durch den Leitungsbeschluss unserer Kirche Tatsachen im Alleingang geschaffen wurden. Hier nährt sich in mir die Befürchtung, dass  gerade die Entscheidungsebenen einseitig besetzt sind und sie ihre Macht auch zur Durchsetzung ihrer Positionen nutzen. Gleichzeitig erlebe ich durch manches offizielle Statement aus Dresden, dass versucht wird, die Unterschiede kleinzureden und auf Nebenschauplätze zu verbannen.

Deshalb halte ich es für wichtig und notwendig, dass sich die konservativen Christen in der sächsischen Landeskirche eine sprachfähige und – wenn nötig – im klaren Widerspruch zur offiziellen Kirche sich positionierende Vertretung schaffen. Um den rechten Weg in unserer Kirche muss gerungen werden, für ein „wir können sowieso nichts tun“ steht zu viel auf dem Spiel.

Christoph Adam, 09385 Lugau