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Gibt es einen „gerechten Krieg“?

Chaosmächte und die Lehre vom „gerechten Krieg“

1.  Zur Situation

Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes mit der gegenseitigen atomaren Bedrohung im „kalten Krieg“ erwachte international die Hoffnung auf eine friedlichere Zeit. Nun aber müssen wir erkennen, dass die Welt keineswegs friedlicher wurde. Das Gegenteil trat ein. Staaten zerfielen. Es entstanden neu regionale „heiße“ Kriege. Diese wirken sich jedoch nicht nur begrenzt aus. Weltweite Verwerfungen entstehen. In Europa zeigte sich dies zunächst im Kosovo-Konflikt. Im Nahen Osten hat sich die Situation äußerst zugespitzt. Es begann im Irak mit dem Sturz von Saddam Hussein durch das Eingreifen der USA. Seither verfällt das Land mehr und mehr ins Chaos. Vollends seit Beginn des „arabischen Frühlings“, vielfach vom Westen begrüßt, nehmen in diesen Ländern die militärischen Konflikte zu. In Libyen toben Stammeskämpfe. In Syrien erheben sich verschiedene Gruppen gegen die Assad-Regierung. Sie bekämpfen sich aber auch gegenseitig, meist im Namen des Islam.

Nun taucht die IS auf, der sogenannte „Islamische Staat“. Diese Gruppe eroberte bereits Gebiete, die von der Mitte Syriens bis weit in den Irak reichen. Neben anderen Minderheiten sind insbesondere die Christen zwischen die Mühlsteine der konkurrierenden islamischen Gruppen geraten. Sie werden blutig verfolgt. Die Kurden fordern ein eigenes autonomes Gebiet, möglichst einen eigenen Staat. Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, liegt im Konflikt mit der die Palästinensergebiete beherrschenden Hamas, die ihre eigene Bevölkerung in Geiselhaft nimmt und als lebende Schutzschilde missbraucht. Auch in Europa entstand in der Ost-Ukraine ein neuer Krisenherd.

Angesichts dieser Weltlage ist nun in Politik und Kirchen ein Streit über Waffenlieferungen in Krisengebiete und die Anwendung von Waffengewalt entbrannt. Die eine Seite lehnt beides ab, die andere ist überzeugt, dass es christliche Pflicht ist, Schutzverantwortung wahrzunehmen und auch Waffen zu liefern, wenn schwerste Menschenrechtsverletzungen geschehen und ganze Volksgruppen in ihrer Existenz bedroht sind.

Gibt die Lehre vom „gerechten Krieg“ dazu eine Orientierungshilfe?

 2.  Die Lehre vom „gerechten Krieg“

Der Gedanke eines gerechten Krieges geht auf römische Tradition (Cicero / Livius) zurück. In Anlehnung an diese entwickelte die mittelalterlich Theologie, vermittelt über die Kirchenväter Ambrosius (ca. 339-397) und Augustinus (354-430), folgende Merkmale für einen „gerechten Krieg“:

a.) Gerecht ist nur ein Verteidigungskrieg, d.h. schweres moralisches Unrecht muss auf der Gegenseite vorliegen. Friedliche Verständigungsversuche haben den Kämpfen vorauszugehen. Der Krieg muss durch eine dazu autorisierte Macht („Obrigkeit“) erklärt werden.

 b.) Ziel darf nicht Rache oder dergleichen sein, sondern allein die Absicht, einen gerechten Frieden zu stiften. Denn Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen gemäß Psalm 85,11: „…dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen“.

 c.) In der Art der Kriegsführung ist eine Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten. Eine Verletzung unbeteiligter Dritter ist möglichst zu vermeiden; und vor allem darf das Maß der Strafe das der Schuld nicht überschreiten.

 d.) Schließlich wäre zu beachten, dass das nach dem Krieg zu erwartende Wohl das den Krieg veranlassende Übel übersteigen muss (Güterabwägung).

Das Ziel dieser Lehre ist klar. Es geht darum, den Krieg einzugrenzen und aggressive Willkür zu vermeiden. Somit ist ein Angriffskrieg, insbesondere ein Expansionskrieg, ebenso wenig ethisch verantwortbar wie die Blutrache innerhalb von Sippschaften und Stammesverbänden.

Diese klassischen Grundsätze für einen „gerechten Krieg“ wurden neuzeitlich ergänzt und konkretisiert durch die Bestimmungen der Genfer Konvention vor allem über die Behandlung von Verwundeten und Kriegsgefangenen (seit 1929) und über den Schutz der Zivilbevölkerung (Seit 1949). Krieg ist demnach stets eine Notlösung angesichts von rechtswidriger Gewalt, die in ein Gemeinwesen einbricht. Dass es das Böse in Form aggressiver Gewalt gibt, wird dabei realistisch vorausgesetzt. Ein Wort aus Schillers Schauspiel „Wilhelm Tell“ lautet: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

Zugleich wird deutlich, dass es viele Voraussetzungen für einen „gerechten Krieg“ gibt. Die wichtigste ist die eines intakten Staates bzw. einer legitimierten Ordnungsmacht. Eine klare Rechtsordnung wird vorausgesetzt, nach der Recht und Unrecht erkannt und benannt werden. Beim Recht sollen sowohl die Belange der Einzelnen als auch die der Gemeinschaft zur Geltung kommen. Es geht um die Möglichkeit, dort, wo Recht und Ordnung gewaltsam angegriffen werden, Gegengewalt zu ihrem Schutz einsetzen zu können. Das ist Aufgabe zunächst der Polizei, im Notfall des Militärs. Im Augsburger Bekenntnis von 1530 (CA XVI) heißt es, dass zum „weltlichen Regiment“ u.a. gehört, „iure bellare“ (= „rechtmäßigerweise Krieg zu führen“). Das Gewaltmonopol gehört jedenfalls der öffentlichen Hand. Es darf nicht privatisiert werden (vgl. Römer 13).

3.  Chaosmächte und Gewalt

Wegen dieser Voraussetzungen gibt die Lehre vom „gerechten Krieg“ keine Patentlösung an die Hand, die bei allen gewaltträchtigen Konflikten anwendbar ist. Die Absicht der Lehre ist, die Kriegsfurie einzugrenzen, sie so weit als möglich zu „domestizieren“. Denn Krieg, in dem ja Tötungsgewalt entfesselt wird, setzt Chaosmächte frei. Unfassbare Verbrechen wie die der Shoah oder auch „nur“ Flächenbombardierung von Zivilbevölkerung sind allein im Krieg denkbar. In Hinsicht der Eingrenzung von Tötungsgewalt und Unrecht gibt die Lehre vom „gerechten Krieg“ zwar beachtliche Hinweise, sie ist allerdings, um es noch einmal zu betonen, nicht situationsunabhängig brauchbar. So wurde schon in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes mit gegenseitiger atomarer Bedrohung darauf hingewiesen, dass die Bedingungen für einen „gerechten Krieg“ nicht mehr ausreichen. Denn das vierte der genannten Kriterien, dass ein nach dem Krieg zu erwartendes Wohl größer sein muss als das Übel, das den Krieg auslöste, ist nicht mehr anwendbar. Angesichts eines Atomschlages mit Massenvernichtung der Bevölkerung und Unbewohnbarkeit ganzer Landstriche durch radioaktive Verseuchung wäre nämlich das Inferno, also das Übel, das dadurch angerichtet wird, viel größer als das Übel, das ursprünglich beseitigt werden sollte.

Deshalb wurde von kirchlicher Seite versucht, die Lehre vom „gerechten Krieg“ durch die vom „gerechten Frieden“ zu ersetzen. Auf dieser Linie liegt der Aufruf der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1983 in Vancouver, wo es u.a. heißt, es solle geprüft werden, „ob die Zeit reif ist für ein allgemeines christliches Friedenskonzil“. In Fortsetzung dieses Impulses ist durch Carl Friedrich von Weizsäcker beim 21. Deutschen Evangelischen Kirchentrag 1985 in Düsseldorf ein Aufruf an die Kirchen der Welt ergangen, ein Konzil des Friedens einzuberufen. Darin heißt es: „Der Friede ist heute Bedingung des Überlebens der Menschheit. Er ist nicht gesichert. Auf einem ökumenischen Konzil, das um des Friedens willen berufen wird, müssen die christlichen Kirchen in gemeinsamer Verantwortung ein Wort sagen, das die Menschheit nicht überhören kann.“ – Wegen der interkonfessionellen Problematik des Konzilsbegriffs sprach man dann seit 1986 von einem „konziliaren Prozess“ mit dem Ziel einer „Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“.

Bei all diesen gut gemeinten Impulsen und Aktionen muss jedoch nach den weltanschaulichen und theologischen Grundlagen gefragt werden. Seit der Epoche der Aufklärung hat sich im Abendland eine optimistische Weltsicht eingebürgert, die das Böse in der Welt und die bis in den Kosmos reichenden Chaosmächte unterschätzt. Das Böse ist nach jener Ansicht nur ein Mangel an Gutem. Die Menschen gelten von Natur aus als gut. Sie geraten angeblich bloß durch falsche Erziehung, die Gesellschaft und ungerechte Verhältnisse in Konflikte bis hin zum Krieg. Der ewige Friede gilt als von Menschen guten Willens machbar. So schrieb etwa der Journalist Franz Alt in seinem Büchlein „Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt“ (1983): „Alles hängt von uns ab“. Es gibt demnach einen herstellbaren universalen Weltfrieden, wenn sich alle Gutmenschen zusammenschließen und entsprechend handeln.

Diese Weltanschauung, die auch in die Kirchen eingedrungen ist, ist jedoch utopisch und wegen ihres illusorischen Charakters sogar gefährlich, weil Menschen, die unter Kriegen, Gewalt und Verfolgung leiden, durch derartige „Friedfertigkeit“ ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert werden können. Juristisch heißt das: „unterlassene Hilfeleistung“.

Die biblische Weltsicht unterscheidet sich davon grundsätzlich. In der Schöpfungsgeschichte erfahren wir gleich zu Beginn, dass der Urzustand des Kosmos chaotisch ist („tohu wa bohu“). Aber der Schöpfer greift ein. Durch sein Allmachtswort schafft er die Räume Himmel und Erde, Tag und Nacht, Meer und Land (1Mose 1, 4-10), die er jeweils spezifisch ausstattet (1Mose 1, 11-19), belebt (1Mose 1, 20-28) und ordnet (1Mose 1, 28b-30; dazu Vers 17). Bei der Sintflut brachen die Chaosmächte der Urflut dann noch einmal in die Welt ein. Doch im Noahbund garantiert Gott fortan den Bestand der Naturordnungen (1Mose 8, 22; 9, 8-17). Der Mensch selbst bleibt jedoch seit dem Sündenfall der Versuchung durch die zerstörenden Chaosmächte ausgesetzt. Weil dem so ist, sind Macht und Gewalt nicht stets an sich etwas Böses, sondern es gibt zerstörende und bewahrende Mächte, es gibt Chaosgewalt und das Chaos abwehrende Gewalt wie z.B. das Gewaltmonopol des Rechtsstaates. In dieser Weise zu schützen und zu bewahren ist erste Aufgabe des Staates, nicht der Kirche. Darin ist die Obrigkeit „Gottes Dienerin“ (Römer 13, 4). In der Kirche regiert Gott durch Wort und Sakrament, im Staat durch Gesetz und „Schwert“ (vgl. Luthers Zwei-Regimenten-Lehre). Als weiser Schöpfer gebraucht Gott die Amtsgewalt, um gegen das Chaos auch im politisch-öffentlichen Bereich ein gewisses Maß an Ordnung zu schaffen – selbst wenn ihn eine gegebene Amtsgewalt nicht anerkennt und selbst, wenn sie viele Fehler macht. Die Alternative ist das anarchistische Chaos, wie wir es gegenwärtig in vielen Ländern, insbesondere des Nahen Ostens, erleben. Die Leidtragenden sind dabei stets die Armen und Schwachen, die ausgebeutet, verfolgt, ja ermordet werden. Deshalb ist eine auch nur relativ gerechte Ordnung immer noch besser als das bloße Chaos, denn „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens“ (1Kor 14,33).

4.  Biblische Weisung

Die Bibel bietet keine „Lehre“ vom Krieg, auch nicht vom „gerechten Krieg“. Nach dem Jakobusbrief sind die Gelüste und Leidenschaften der Menschen die tiefere Ursache der Kämpfe und Kriege (Jak 4, 1ff.). Vor allem unterscheidet sich die Bibel im Blick auf Krieg und Frieden darin von der säkularisierten, im Grunde naiven neuzeitlichen Sicht, dass sie nicht meint, durch einige Aktionen guten Willens und gelungenes Krisenmanagement sei der Weltfriede machbar. Die menschliche Schuldverstrickung und die Zwiespältigkeit der Welt sind zu groß, als dass sich immer klare Lösungen ergeben könnten. Die Forderung Carl Friedrich von Weizsäckers nach „Abschaffung des Krieges als politischer Institution“ setzt intakte Staaten mit handlungsfähigen Regierungen voraus. Die Zeichen unserer Zeit weisen jedoch in Richtung Chaotisierung, Zerfall von Staaten bei mehr und mehr bürgerkriegsähnlichen Zuständen einerseits und gleichzeitig diktatorischen Tendenzen andererseits. In diesen Fällen können staatliche Institutionen ihre ordnende Aufgabe nicht mehr wahrnehmen.

Nach biblisch orientierter Theologie gibt es also keinen „gerechten Krieg“, aber ebenso wenig einen „gerechten Pazifismus“. Die Naivität eines prinzipiellen Pazifismus ist dem lebendigen Glauben ebenso fremd wie die andere Naivität, Frieden und Gerechtigkeit auf Erden durch Kriegshandlungen herstellen zu können. Bezüglich der Weltgeschichte weiß das Neue Testament nichts von einer fortschreitenden Entwicklung zum Guten. Vielmehr kennzeichnen Kriege und Kriegsgeschrei die „Wehen“ der Endzeit (Mk 13, 7ff.; Offenb 6, 1 ff.), bis Gott durch Jesus Christus sein endzeitliches Friedensreich aufrichtet. Darum werden die Meinungen von Christen zu der ein oder anderen Kriegshandlung unterschiedlich bleiben. Vor allem sollten sich kirchliche Amtsinhaber bei politischen Stellungnahmen zurückhalten und nicht das Amt der Verkündigung mit dem Amt des Staates verwechseln. Zwei Haltungen sollten unter Christen auf jeden Fall ausgeschlossen sein: Einerseits das fatalistische Hinnehmen des Krieges als eines endzeitlichen Verhängnisses und andererseits die Glorifizierung des Krieges als eines Befreiungsvorganges zur Heranführung eines Weltfriedensreiches. Ein Christ muss seine Teilnahme an einem Waffengang in jedem Fall vor seinem Gewissen prüfen und vor Gott verantworten. Kirchlicherseits kann Waffendienst nur mit dem Ziel der Erhaltung oder Wiederherstellung der lebensnotwendigen Rechtsordnung vertreten werden.

Die Tiefendimension erschließt sich allerdings nur in geistlicher Sicht. In Konfliktsituationen können verantwortlich Handelnde schuldig werden, wie auch immer sie sich entscheiden. Christen wissen daher, dass sie auf Vergebung angewiesen sind. Zuletzt bleiben das „Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen“, wie Dietrich Bonhoeffer gesagt hat. „Denn unser Kampf geht nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Beherrscher dieser Welt der Finsternis…“ (Eph 6, 12). Dieser Kampf hat mit dem Kommen Jesu Christi einen Gipfelpunkt erreicht und spielt sich auf geistlicher Ebene ab (vgl. Mk 3, 24-27; Lk 11, 18). Den bewaffneten Widerstand gegen die römische Besatzungsmacht hat Jesus abgelehnt, aber wie Jesus die widergöttlichen Geistesmächte bekämpft und besiegt hat (Lk 10, 18; Kol 2, 15; Eph 1, 20-23), so stehen auch die Christen in solchem Kampf. Der ewige Friede ist jedoch menschlich nicht herstellbar. Er ist eine endzeitliche Gabe Gottes. „Die Mächte der Dämonen werden nicht durch Organisationen gebrochen, sondern durch Gebet und Fasten“, sagte Bonhoeffer in seiner berühmten Friedensrede 1934 auf der Insel FanØ angesichts des kommenden Weltkrieges. Bei allem zeitlichen Kampf ist daher denen, die sich zu Jesus Christus halten, der endzeitliche gerechte Friede verheißen (Römer 8,37 ff.) – als Geschenk, nicht als durch eigene Kraft errungener Sieg.

Rainer Mayer, Stuttgart, im Oktober 2014

Quelle: Informationsbrief der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, Dezember 2014, Nr. 289.