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»Auge um Auge…« ein biblisch-jüdisches Racheprinzip?

Viele Menschen erklären die Politik Israels gegen die Palästinenser mit typisch jüdischer Rachsucht – und sitzen damit einem christlich inspirierten Vorurteil auf. Denn eines der hartnäckigsten antijüdischen Vorurteile drückt sich in den Worten ‘Auge um Auge’ aus. Mit dieser angeblich aus der Thora stammenden Formel wird Juden bis heute vorgeworfen, Rache sei das Prinzip ihres Verständnisses von Gerechtigkeit, ihr Gott sei – im Unterschied zum ‘christlichen’ Gott – ein grausamer und rachsüchtiger Gott und Frieden mit dem Volk und Staat Israel sei deshalb niemals möglich.« Dieses sogenannte »alttestamentarische« (im Klartext: jüdische) Vergeltungsgesetz wird aus Unkenntnis meist falsch interpretiert und als antijüdisches Klischee missbraucht.

Selbst wenn man die Bibelstelle im 2. Buch Mose 21, 23-24 im herkömmlichen Sinn als ein Maß für die Begrenzung der Rache interpretiert, so wäre dieses Gebot durchaus positiv zu werten. Es entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Vergehen und Strafe und wurde ein zentrales Element unseres abendländischen Rechtssystems, das eine Eskalation der Gewalt verhindern soll. Dagegen ist in manchen Kulturen schon die Wiederherstellung der beispiels-weise durch das außereheliche Verhältnis einer Tochter verletzten Familienehre nur durch die Ermordung dieser Tochter möglich. Wenn nach islamischem Recht (Scharia) einem Dieb die Hand abgehackt wird, fehlt jede Verhältnismäßigkeit.

Bei dem so oft zitierten biblischen Prinzip »Auge um Auge« geht es jedoch überhaupt nicht um ein Maß für die Rache oder Vergeltung gegenüber dem, der jemandem einen körperlichen Schaden zugefügt hat. Es geht vielmehr um die Bemessung des Schadensersatzes, den der Täter dem Geschädigten leisten muß. Die Rechtspraxis der Bibel ist nicht täter-, sondern opferorientiert. Nicht die Strafe steht im Mittelpunkt, sondern die Wahrung der Interessen des Geschädigten. Dies wird deutlich, wenn man den Grundsatz “Auge um Auge” im Kontext beachtet. Es heißt nämlich: »Entsteht aber ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn…« (2. Mo. 21,23 -24). Nicht vom Geschädigten ist die Rede, der Rache nehmen soll, sondern vom Verursacher, der Schadensersatz geben muss.

Die gängige Übersetzung des hebräischen Satzes »ajin tachat ajin« mit »Auge um Auge« entspricht nicht dem jüdischen Verständnis dieser Stelle. Deshalb übersetzen Martin Buber und Franz Rosenzweig: »Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebenersatz für Leben, Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn…«. Für diese Übersetzung spricht, dass das Wort »tachat« an mehreren Stellen der Thora die Bedeutung »anstelle von« und »als Entschädigung für« hat (1. Mo. 4,25). Auch aus dem Kontext geht hervor, daß der Abschnitt von körperlichen Verletzungen und den zugehörigen Ersatzleistungen handelt, nicht aber von Rache oder Vergeltung. Ebenso hat auch die zweite Stelle, an der dieses Prinzip in der Thora vorkommt (3. Mo. 24,17-22), materielle Ersatzzahlungen für einen zugefügten Schaden im Blick. Diese Schutzbestimmungen werden hier sogar auf die Fremdlinge im Land ausgeweitet.

Im Judentum wurde »Auge um Auge« nie als Vergeltungsgesetz nach dem Motto “wie du mir, so ich dir“ aufgefasst, sondern als Rechtspraxis, die bei zugefügtem Schaden eine entsprechende Ersatzleistung fordert. So ist im Talmud zu lesen: »Rabbi Dostaj Ben Jehuda sagte: ‘Auge um Auge’, eine Geldentschädigung«; oder »In der Schule R. Jischmaels wurde gelehrt: Die Schrift sagt: ‘(wie er einen Menschen verletzt hat, so) soll ihm zugefügt werden (3. Mo. 24,19)’, und unter ‘zufügen’ ist eine Geldentschädigung zu verstehen…«.

Aus der jüdischen Geschichte ist kein einziges Beispiel bekannt, dass strikte Vergeltung im wörtlichen Sinne geübt wurde. Niemals wurde demjenigen, der einem anderen – vielleicht nur aus Versehen – ein Auge zerstört hatte, dann ebenfalls ein Auge ausgestochen. Bereits 200 n. Chr. fasst die Mischna (»mündliche Lehre« und Kern des Talmud) den ganzen Sachverhalt so zusammen: »Wer seinen Nächsten verwundet, ist ihm fünf Dinge dafür schuldig: Schadensersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Entschädigung für den Arbeitsausfall und Strafgeld für die Beschämung (d.h. wenn sich jemand schämt, sich mit einer körperlichen Verletzung öffentlich zu zeigen)« (Traktat Baba Kamma 8,1).

Trotzdem wurde später im Christentum der Grundsatz »Auge um Auge« zum Inbegriff eines jüdischen Gesetzes, das eine Ethik der Vergeltung und Rache verkörpert und als überholt galt. Hauptgrund hierfür war die Art, wie das von Jesus in der Bergpredigt zitierte Prinzip von der christlichen Tradition gesehen wurde: »Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn.’ Ich (Jesus) aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar…« (Mt.5,38-42). Nach allgemeinem christlichen Verständnis hebt Jesus hier das Gesetz der Vergeltung auf und ersetzt es durch das Gebot der Liebe und Gewaltlosigkeit. Diese gängige Auslegung steht jedoch im krassen Widerspruch zu der Aussage Jesu über die Verbindlichkeit der Thora, die er wenige Verse zuvor macht (Mt. 5,17-18). Mit dem Ausdruck »Auge um Auge« hat Jesus seine Zuhörer zunächst an den biblischen Grundsatz der Schadensersatzregelung erinnert, der seinen Zeitgenossen sehr wohl geläufig war. Ausgehend von diesem Prinzip zur Konfliktbewältigung geht Jesus in seiner Auslegung des Gebots noch einen Schritt weiter. Er fordert seine Nachfolger auf, freiwillig auf den rechtmäßig zustehenden Schadensersatz zu verzichten bzw. mehr zu geben als gefordert wird. Kinder Gottes sollen – auch wenn sie im Recht sind – in ihrem Verhalten gegenüber den Mitmenschen die Barmherzigkeit und Geduld ihres Vaters im Himmel widerspiegeln (Mt.5,46- 48). Dieser lässt in seiner Liebe zu den Menschen seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt. 5,44-45).

Quelle: »Sehet den Feigenbaum«, Ausgabe 241, Sept/Okt 2002.