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Wie hältst du’s mit den Menschenrechten? Teil I

Wie hältst du´s mit den Menschenrechten?
Die Gretchenfrage an die Religionen – Teil I

Wir wollen heute über das Thema „Wie hältst du´s mit den Menschenrechten? – Die Gretchenfrage an die Religionen“ nachdenken und haben uns damit, ähnlich wie beim Thema ‚Islam’ meines Vorredners, eigentlich ein unerfüllbares Programm vorgenommen, das wir kaum bewältigen werden können. Denn wir müssen auf der einen Seite über das Thema Menschenrechte nachdenken und das Thema Menschenrechte beinhaltet die ganze Frage der Ethik, der Lehre vom Menschen, des Rechtsstaates, der Gerichtsbarkeit und auch und des Verhältnisses von Kirche und Staat. Und dann wollen wir das als Frage an die Religionen stellen! Es gibt laut einer Aufstellung grob geschätzt 2.700 Religionen und Religionen wie der Islam teilen sich in viele unterschiedliche Richtungen auf. Wir müßten also jeder einzelnen die Frage stellen, wie sie zu den Menschenrechten steht, was so bisher noch kein Forscher getan hat. Und wenn wir dann alles Material zu diesen beiden Themenbereichen zusammen hätten, muß dann ja auch noch ein praktischer Schluß daraus gezogen werden.

Das werden wir natürlich alles nichts leisten können. Wir müssen uns stark beschränken und verallgemeinern. Aber ich hoffe, daß ich eine Schneise gefunden habe, die wir durch diesen ganzen Dschungel hindurch schlagen können, wobei es allerdings nur ihrem Urteil anheimstellen kann, wenn der Vortrag beendet ist, ob mir dies gelungen ist. Ich bin mir aber auf jeden Fall in einem ganz sicher, daß es mir nämlich gelingen wird, am Ende so viele Fragen aufgeworfen zu haben, daß die anschließende Fragezeit nicht ausreichen wird.

Vorbemerkung: Der christliche Glaube ist selbstkritisch

Zunächst eine Vorbemerkung. Da es unter anderem darum gehen wird, das Christentum der Gegenwart in ein recht positives Licht zu stellen, wenn es um die Menschenrechtsfrage geht, möchte ich sehr deutlich voranschicken: Der christliche Glaube, ja, so merkwürdig es klingen mag, die Heilige Schrift als Grundlage des christlichen Glaubens, bilden die Grundlage für die selbstkritischste Religion, die es gibt. Ein überzeugter Christ wird sich nicht einfach im Lichte dessen sonnen, daß sein Glaube die ‚Wahrheit’ und allen anderen überlegen sei und wird sicher nicht den Gedanken äußern: „Wenn morgen nur alle Christen wären, dann wäre diese Welt in Ordnung.“ Sie wäre es nämlich nicht. Dazu muß man nicht nur Luthers drastische Worte zur Sünde der Christen lesen, dazu muß man nur sich selbst kennen. Wenn ich Bundeskanzler wäre, wüßte ich in der Theorie in manchem, wie es besser laufen sollte. Ob es unserem Land wirklich besser ginge und ob ich den vielen Gefahren von Macht, Geld, Eitelkeit und faulen Kompromissen nicht erliegen würde, das steht auf einem ganz anderen Blatt.

Ich erinnere mich an eine Fernsehdiskussion, für die man den führenden Rabbiner Deutschlands, den Vorsitzenden des wissenschaftlichen Rates des Zentralrates der Muslime, einen katholischen Kollegen und meine Wenigkeit zusammen gesetzt hatte und wir sollten nun darüber diskutieren „Wie viel Religionen verträgt Deutschland?“ Jeder versuchte sich dabei im besten Licht zu präsentieren. Dann fragte mich plötzlich der Moderator unvermittelt, was mir am christlichen Glauben am besten gefällt und was ich meine, was uns am tiefsten vom Islam unterscheidet. Ich antwortete, daß der christliche Glaube damit beginnt, daß ich ein Sünder bin und nicht damit, die Probleme der Welt bei den anderen zu suchen. Wer Christ wird, der glaubt nicht zuerst, die anderen machen etwas falsch, sondern daß er selbst Erlösung von seiner Schuld braucht. Das war schon der Fehler von Adam und Eva, nach dem Motto: „Die Frau die du mir gegeben hast, ist schuld.“ Der Christ ist zunächst einmal überzeugt davon, daß das Übel der Welt in seinem Herzen sitzt und daß nur die Gnade Gottes die Vergebung in Jesus Christus ihn davon befreien und ihn zu einem anderen Leben verhelfen kann. Und diese Selbstkritik setzt sich im ganzen Verständnis des eigenen Glaubens fort. Ich habe damals direkt im Hinblick auf meinen muslimischen Nachbarn gesagt: „Ich glaube, daß das der tiefgreifendste Unterschied der beiden Religionen ist“, und er gab mir recht und erklärte das mit dem völlig unterschiedlichen Sündenverständnis der beiden Religionen. Christen können über jeden Fehler des christlichen Glaubens in der Geschichte schonungslos reden, es sind ja gerade die christlichen Historiker gewesen, die jedes Detail der Kreuzzüge aufgedeckt haben. Die muslimischen Historiker, die das dasselbe auf muslimischer Seite tun, fehlen bis heute.

Das Christentum ist eine extrem selbstkritische Religion. Das Neue Testament hat nicht die Römer und Griechen als Zielscheibe, sondern die christliche Gemeinde selbst. Lesen sie einmal den Galaterbrief oder den Korintherbrief. Und deswegen beginnen Christen immer damit, bei sich selbst zu kehren. Meine Frau hat als Islamwissenschaftlerin einmal einen Vortrag gehalten und eine große deutsche Tageszeitung titelte anschließend: „Nicht der Islam, sondern der Zustand der christlichen Kirchen ist eine Gefahr für Europa.“ Das hatte sie direkt nicht gesagt, aber trotzdem hatte der Journalist offensichtlich gut zugehört. Wir Christen sind selbstkritisch und wir wissen, daß die Bibel sagt: „Wenn mein Volk über das mein Name genannt sich demütigt und betet, dann will ich vom Himmel her hören und ihr Land heilen“ (2 Chr 7,14). Deswegen erwarten wir die Erneuerung unserer Gesellschaft nicht davon, daß die Muslime sich ändern oder daß die Politiker etwas unternehmen.

Ich sage das deswegen vorne weg, weil ich jetzt den restlichen Vortrag über die Gesellschaft, über die Politiker und etwa auch über Muslime sprechen werde. Wir müssen uns dabei stets daran erinnern, daß die Erneuerung erst dann kommt, wenn Menschen in ihrem Herzen erkennen, daß Jesus zu Recht für sie gestorben ist und damit erkennen, daß sie Sünder sind und nur durch die Gnade und Vergebung Gottes leben können. Wenn das in unserem Land nicht mehr Menschen erfassen und begreifen, ist es eigentlich egal, ob es früher einmal die Kommunisten waren oder heute die Muslime sind oder wer es am Ende ist, dann wird irgend jemand am Ende das Erbe der Kirchen übernehmen. Der Zustand der Kirchen und der Christenheit in Europa ist die eigentliche Bedrohung für Europa.

Ich diskutiere das gerne in Gesprächen über den EU-Beitritt der Türkei. Wenn die Türkei in die EU kommt, dann schrecken manche die Millionen, die dann möglicherweise nach Deutschland ziehen. Ich sage ihnen: Geben sie mir tausend überzeugte Missionare, tausend überzeugte Christen, die bereit sind alles aufzugeben, und Tausende von überzeugten türkischen Christen und die Türkei wird zehn, zwanzig Jahre später aus islamischer Sicht bereuen, daß sie in die EU gekommen ist. Was hat denn der Kommunismus in China bezüglich des Glaubens bewirkt? Der christliche Glaube breitet sich nicht durch Heer oder Kraft aus, sondern der Geist weht, wo er will. Verstehen sie mich nicht falsch, wir werden jetzt über Politik reden, wir werden über irdische Machtverhältnisse reden. Das ist mein Thema mit der Frage nach den Menschenrechten. Das Politische ist mit dem Hinweis auf die christliche Erneuerung von innen nicht aufgehoben, aber wir wollen uns immer daran erinnern, nicht wir und auch nicht unsere schlauen Vorträge werden diese Welt verändern, sondern Gott verändert diese Welt durch Menschen, die sagen: „Gott sei mir Sünder gnädig.“ Das also als Vorbemerkung.

Was sind Menschenrechte?

 Wir wollen über Menschenrechte reden, also müssen wir uns die Frage stellen: Was versteht man denn eigentlich inhaltlich unter Menschenrechten? Von was für Rechten reden wir hier denn eigentlich? Das können wir natürlich nur ganz kurz ansprechen. Ich mache es mir ganz einfach, indem ich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 nehme, die theoretisch übrigens nirgendwo Rechtskraft hat, da sie nie Rechtsstandard der Vereinten Nationen geworden ist, aber das sei nur Rande vermerkt. Moralisch gesehen hat sie eine gewichtige und definitorische Funktion und man muß sich das manchmal neu auf der Zunge zergehen lassen, was dort eigentlich steht.

Darin wird festgestellt, daß alle Menschen die gleiche Würde haben (Artikel 1) und jede Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion und politischer Überzeugung verboten ist (Art 2). Jeder hat das Recht auf Leben und Freiheit (Art 3), weswegen Sklaverei und Sklavenhandel (Art 4) ebenso wie die Folter (Art 5) verboten sind. Jeder hat das Menschenrecht auf die Gleichheit vor Gesetz und Richter und darf nur aufgrund von vorher erlassenen Gesetzen und nachdem er gehört worden ist, von Gerichten verurteilt werden (Art 7-11). Jeder hat das Recht auszuwandern und seinen Wohnort frei zu wählen (Art 13) oder in einem anderen Land um Asyl zu bitten (Art 14). Jeder ist in der Wahl seines Ehepartners frei und die Familie ist als „natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft“ durch Staat und Gesellschaft zu schützen (Art 16+26). Es folgen das Recht auf Eigentum (Art 17), das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit, weswegen er auch seine Religion wechseln darf (Art 18), genießt Meinungs- und Informationsfreiheit (Art 19), Versammlungs- und Vereinsfreiheit (Art 20) und nimmt am allgemeinen Wahlrecht teil (Art 21). Jeder hat Anspruch auf soziale Sicherheit (Art 22+25+28), Arbeit mit gerechter Bezahlung (Art 23) und Bildung (Art 26).

Das ist gewissermaßen der Kanon dessen, was wir unter Menschenrechten verstehen. Das meiste werden sie in unserem Grundgesetz wieder finden. Ich rede nicht davon, ob immer in Kraft ist, was hier als Menschenrechte formuliert ist. Daß Ehe und Familie zu schützen sind, steht auch im Grundgesetz. Ob das tatsächlich auch noch so ist, das steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt. Aber es stehen dort doch erstaunlich Dinge, wie die Bedeutung der Ehe oder auch, daß jeder das Recht, seine Religion zu wechseln und öffentlich alleine und gemeinsam zu propagieren.

Menschenrechte und Christentum

Wenn wir die Frage nach den Menschenrechten an die Religionen stellen, dann wollen wir uns zunächst einmal die Frage stellen, wie denn eine christliche Begründung dieser Menschenrechte aussieht. Nichts, was ich eben vorgelesen habe, wird sie als Christ sonderlich erstaunen. Für die meisten Christen sind das aneinander gereihte Selbstverständlichkeiten, auch wenn das vielleicht vor 200 Jahren anders gewesen wäre. Woran liegt das?

Die christliche Grundlage der Menschenrechte ist zuerst einmal: Menschen, und zwar alle Menschen, nicht nur die Christen, sind in der christlichen Auffassung Geschöpfe Gottes und Ebenbilder Gottes und haben deswegen eine unglaubliche Würde, die allem anderen voraus geht.

Schon in der amerikanischen Verfassung steht als Begründung für die Menschenrechte: Alle Menschen sind von Gott gleich geschaffen. Im ersten Moment fällt einem das gar nicht sonderlich auf. Man sagt: Na ja, was ist da schon dabei. Aber es ist ein ganz fundamentaler Unterschied zu allen anderen Religionen, denn hier steht nicht „alle Christen sind gleich geschaffen“, sondern „alle Menschen“. Der Ansatzpunkt ist die Ebenbildlichkeit Gottes. Die Warnung Gottes nach der Sintflut, das Ebenbild Gottes nicht anzutasten, etwa indem ich einen anderen Menschen töte, bezieht sich nirgendwo im Alten Testament nur auf Juden oder im Neuen Testament nur auf Christen, sondern immer auf jeden, gleich wer er ist und was er glaubt.

Es ist zwar so, daß Christen in ihrer Verkündigung Menschen anderen Glaubens sagen, daß sie einmal im Jüngsten Gericht von Jesus Christus ihr Urteil empfangen werden, das wollen wir nicht verleugnen. Aber hier in dieser Welt haben Christen kein Recht jemand anderen zu strafen, der anderen Glaubens ist. Wir werden auf diese Frage noch zu sprechen kommen. Der einzige der überhaupt Strafen vollstrecken könnte, wäre der Staat. Christen beziehungsweise die Kirche haben keinen Strafauftrag. Es wäre ein unvollziehbarer Gedanke, in der Evangelisation etwa, dem anderen dreimal anzubieten, er solle sich bekehren, und beim vierten Mal dürfe man ihn totschlagen oder ihn foltern. Die Würde des Menschen, die Ebenbildlichkeit Gottes, ist auch bei dem Menschen vorhanden, der das Gnadenangebot Gottes ausschlägt. Der Mensch ist Geschöpf und als solches – ganz unabhängig davon, wie er persönlich zu Gott steht – ein Mensch, den wir zu lieben und zu schützen haben. Ich sage noch einmal, das klingt ganz normal, ist aber gar nicht so selbstverständlich, denn es schließt aus christlicher Sicht Menschen ein, die über den Stand, in dem Gott sie geschaffen hat, spotten. Trotzdem müssen wir sagen, wenn Gott bereit ist, das zu dulden, wer wären wir, den Menschen zu sagen: Wir dulden das aber nicht. Es ist Gottes Problem, warum er in seiner Gnade nicht Feuer vom Himmel fallen läßt – sie erinnern sich an die aufgebrachten Jünger Jesu, die dies von Jesus vergeblich forderten – aber er tut es nicht, weil er die Gnadenzeit noch nicht hat ablaufen lassen.

Das alles leitet sich in der Bibel daraus ab, daß Gott kein Ansehen der Person kennt. Das gilt zwar auch in der Gemeinde – denken sie beispielsweise an den Jakobusbrief, der davor warnt, einen Mann in einem verschlissenen Kleid hintanzusetzen, gilt aber vor allem für den Staat und seine Gerichtsbarkeit. Der Richter hat vor Gott unkorrumpiert, unbestechlich zu prüfen was war und nicht nach dem Ansehen der Person und damit auch nicht nach seinem Glauben zu urteilen. Ein Mord wird nicht besser, weil ihn ein Christ begeht. Es ist schon sehr interessant, daß tief im Alten Testament vor Jahrtausenden, steht, daß der Richter weder den Reichen bevorzugen soll noch – auch daß steht da – er statt dessen den Armen bevorzugen soll, nur weil er arm ist. Beides darf er nicht. Er soll sich nicht bereichern, er soll sich nicht bestechen lassen, er soll dem Reichen nicht ein Plus geben, er soll aber auch nicht sagen: Ach der Arme ist ja so arm, da muß man für seine Verbrechen Verständnis haben. Er soll ohne Ansehen der Person Recht sprechen.

Daraus ergibt sich im Christentum durch das ganze Alte Testament hindurch und in das Neue Testament hinein, daß das gesamte Denken für die irdische Welt das Denken in einer Rechtsstruktur ist. Der Staat ist ein Rechtsstaat. Die politische Ordnung ist eine Rechtsordnung. Jede Macht die irgendwo eingesetzt wird, wird aus dem Recht abgeleitet. Das galt in Israel schon zu Zeiten, wo andere Kulturen so etwas noch nicht kannten. Das fängt schon bei Mose an. Da war die gesamte Kultur des jüdischen Volkes durchzogen durch kleine Gerichtshöfe die sich dann langsam aber sicher nach oben arbeiteten, etwas was uns heute als völlig normal und vertraut erscheint, weil wir oft vergessen, daß das im Alten Testament erfunden worden ist, als andere Völker und Kulturen ihre Macht noch ganz anders ausgeübt haben. Daraus ergibt sich nämlich, daß jeder und das heißt insbesondere auch der Staat diesem Recht untersteht. Wir lesen heute fast beiläufig, daß der Prophet Nathan im Namen des Rechtes zu David kommt, nachdem dieser einen Offizier auf vornehme und scheinlegale Weise hat beseitigen lassen, damit er an dessen Frau heran kam. In der damaligen Zeit war das aber ein Fanal. Der oberste Herrscher unterstand nicht dem Recht. Er war das Gesetz. Noch Kaiser Wilhelm der Zweite hat ins goldene Buch von Nürnberg rein geschrieben: „Ich bin das Gesetz.“ Sein Vater Kaiser Wilhelm I. hatte gesagt, als es um eine Verfassung ging: „Ich lasse doch zwischen Gott und mich kein Stück Papier kommen.“

Er hätte besser etwas mehr Altes Testament lesen sollen. Das ist gerade der Gedanke der Thora. Gott wird nicht vertreten durch einen Menschen, sondern durch das schriftlich niedergelegte Recht der Thora. Und jeder, aber auch jeder, und sei er noch so hoch, untersteht ihr. Für uns heute ist das die größte Selbstverständlichkeit in Form einer Verfassung. Wir haben eine Rechtsordnung und wenn der Bundeskanzlerin mein Vortrag nicht gefallen würde und sie mich deswegen beseitigen ließe, könnte sie jederzeit deswegen vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Die Macht, die Herrscher haben, so etwas zu tun, gibt ihnen kein Recht, es zu tun. Das Recht steht über der Macht.

Überhaupt, aber da will ich jetzt im einzelnen gar nicht darauf eingehen, haben wir diesen ganzen Gedanken einer Bundesverfassung eigentlich aus dem Alten Testament, denn eigentlich ist der Gedanke ja zunächst absurd, daß die höchste Instanz eines Landes nur ein Stück Papier ist. Ich bewundere immer wieder, wenn Politiker das Grundgesetz beschwören. Wer oder was ist denn eigentlich das Grundgesetz? Das ist ein Stück Papier und Papier ist geduldig und Papier kann sich doch nicht wehren. Nur aus der jüdisch-christlichen Tradition heraus kann man verstehen, daß dieses Stück Papier für das Recht steht, dem jeder untersteht und das die Gesellschaft zusammen hält. Und daß tatsächlich nicht der König, nicht der Kaiser, nicht der Papst die letzte Instanz sind, sondern das Recht. Nur weicht man dann oft der Frage aus, worin denn die Autorität des Rechts verankert ist.

Übrigens ist es einer der besten Sätze der EU-Verfassung, die ja noch nicht in Kraft getreten ist, daß sie damit beginnt, Europa sei ein Bereich, in dem das Recht regiert. Es ist nur die Frage, wo das Recht herkommt? Aber das ist ein anderes Thema. Es ist dennoch sehr treffend formuliert, und genau das ist eben auch heute unser Thema. Der Staat selbst untersteht nach biblisch-christlichem Verständnis dem Recht. Römer 13 hat mit den Menschenrechten aus christlicher Sicht zu tun, weil der Staat seine Legitimität daraus ableitet, daß er für Gerechtigkeit zu sorgen hat und Ungerechtigkeit zu bekämpfen hat. Das ist die Definition des Staates aus christlicher Sicht.

Die hat nun eine ganz merkwürdige Konsequenz. Nämlich die Konsequenz, daß im Neuen Testament selbst und nicht erst heute zweitausend Jahre später, wo uns nichts anderes übrig bleibt, Christen verpflichtet werden, einer nicht-christlichen Obrigkeit zu gehorchen. Denn der Staat, über den Paulus hier in Römer 13 spricht, ist ja nicht die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre, wo es einen gewissen christlichen Grundkonsens gab, nicht zuletzt deswegen, weil man über das Dritte Reich schockiert war, sondern die Zeit der römischen Kaiser. Und trotzdem sieht Paulus vor allen Dingen zunächst einmal im römischen Reich die Herrschaft des Rechtes, die er selbst fleißig genutzt hat. In Ephesus etwa ist es der Vertreter des römischen Rechtes, der den Menschen, die Paulus und die anderen töten wollen, sagt, daß es im römischen Reich Gesetze gebe und wenn Paulus und seine Mitgenossen ein Gesetz übertreten haben sollten, man bitte Anklage erheben solle. Wäre das aber nicht der Fall, wären sie momentan diejenigen, die das Gesetz überträten, weswegen sie lieber ganz schnell nach Hause gehen sollten.

Wir vergessen oft, daß die römische Gerichtsbarkeit, die dann später sehr oft in Christenverfolgungen umschlug, genauso häufig mit ihrer Gerichtsbarkeit und Gerechtigkeit Christen geschützt hat. Daß dann am Ende Nero kam, konnte Paulus nicht wissen, als er sich auf den römischen Kaiser berief. Daß wir die Bekehrungsgeschichte von Paulus so gut kennen, liegt daran, daß er sich häufig vor Gericht verteidigt hat und sie dabei den Richtern erzählt hat. Alle drei Versionen, die wir in der Apostelgeschichte finden, hat er vor Gericht erzählt.

Also, die Loyalität dem Rechtsstaat gegenüber gilt schon im Neuen Testament und gilt damit einem Staat gegenüber, der selbst nicht christlich ist. Selbstverständlich ist es wünschenswert, wenn Christen daran beteiligt sind, durch den Staat Gerechtigkeit in dieser Welt aufzurichten. Aber wenn wir zu wählen haben, dann haben wir lieber einen Nichtchristen der Gerechtigkeit aufrichtet, als einen christlichen Diktator, der Unrecht tut. Und ich sage noch einmal, daß ich das nicht als moderner Mensch des 21. Jahrhunderts sage, der sagt, was sowieso alle sagen würden, sondern daß dies alt- und neutestamentliches Denken ist, wie sich es deutlich in Römer 13 wiederfindet. Der Staat definiert sich über die Gerechtigkeit und dafür hat Gott dem Staat das Gewaltmonopol gegeben, um die Ungerechtigkeit und das Böse einzudämmen und die Gerechtigkeit im Land aufzurichten. Das ist seine Aufgabe. Und er kann nach Römer 13 „Diener Gottes“ sein, wenn er ungerechte Christen bestraft!

Das hat natürlich unmittelbar mit den Menschenrechten zutun, weil der Staat sich eben darüber definiert, daß er gewährleistet, daß Menschen in Frieden, in Freiheit, in Gerechtigkeit leben können und nicht gegenseitig ihr Leben zerstören. Daraus ergibt sich natürlich automatisch auch die Trennung von Kirche und Staat, die wiederum etwas ist, was ich als christlicher Ethiker nicht deshalb vertrete, weil es heute in ist, sondern weil es im Neuen Testament verankert ist. Als Jesus sagt: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist“ – er wußte ja auch daß der römische Kaiser kein Christ ist – „und gebt Gott was Gottes ist“, da überträgt er automatisch die Loyalität der Juden ihrem Staat gegenüber auf einen nichtjüdischen Staat. Und diese Aussage hat die christliche Ethik in ihrer Geschichte immer vertreten. Jesus vertrat nicht die Meinung: Wenn wir keinen jüdischen Staat haben können, dann haben wir lieber gar keinen. Der Gedanke einer Welt ohne staatliche Ordnung existiert für einen Christen eigentlich überhaupt nicht. Es kann immer nur darum gehen, daß der Staat gerechter, daß der Staat besser wird, nie darum, daß wir ihn abschaffen.

Mein Vater hat mir oft erzählt, daß nach all den Schrecklichkeiten des Dritten Reiches ihm unvergeßlich blieb, wie die herrschaftslose Übergangszeit, als die Nazis verschwunden waren und die Amerikaner und wer auch immer noch nicht wieder die Herrschaft übernommen hatten, an vielen Orten die Ungerechtigkeit des Dritten Reiches noch getoppt hätte. Als plötzlich gar keine staatliche und rechtliche Ordnung mehr da war und jeder wußte, was immer du jetzt tust, hat keine Folgen mehr. Wir wissen wie da der Mensch sehr schnell zum Wolf des Menschen wird.

Die Trennung von Kirche und Staat haben wir in der christlichen Geschichte durch viele Wirren erkämpft. Wir Christen sollten selbstkritisch sein und nicht behaupten, seit es uns gibt, hätten wir dieser Welt nur wunderschöne Sachen gegeben. Politik ist immer mit Wirtschaft, mit Macht, mit der Herrschaft von adeligen Familien verbunden gewesen und wir Christen sind da keine Ausnahme. Trotzdem ist die Tatsache, daß im Mittelalter der Papst versucht hat den Staat zu übernehmen und der Kaiser versucht hat, die Kirche zu übernehmen, trotz allem ein Beweis dafür, daß es im christlichen Glauben gar nicht anders geht, als eine Trennung von Kirche und Staat zu haben. Denn warum gab es überhaupt die beiden? Warum war das nicht immer eins? Meinen sie der ägyptische Pharao hätte da ein Problem gehabt? Er war Sohn Gottes, er war Gott und damit zugleich der politische Herrscher. Und das war in der gesamten alttestamentlichen Umwelt das Normale. Es war zunächst eine völlig irrwitzige Bestimmung, dem jüdischen König zu sagen, er dürfte den Tempel nicht betreten. Das hätte sich keiner seiner Zeitgenossen bieten lassen. Im Alten Testament können zu nachlesen, daß es immer wieder einmal Könige gab, die deswegen ganz nervös waren und beispielsweise ihren eigenen Tempel bauen ließen oder versuchten, in den Tempel zu gehen, und aussätzig wieder heraus kamen und plötzlich feststellen mußten, daß Gott die Trennung ernst gemeint war.

Das Amt des Hohenpriesters und des Königs waren von Anfang an getrennt. Zur Zeit des Davids gab es eine Steuer des Tempels, davon wurde der Tempel gebaut und eine Steuer des Königs, davon wurde der königliche Palast gebaut. Und wenn Jesus plötzlich sagt „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“, dann meinte das genau die Trennung, die es schon im Alten Testament gab und das, obwohl es ja ein jüdischer Staat war und die Juden unter sich waren. Man hätte das ja gar nicht gebraucht. In einer Zeit vor Jahrtausenden, in der es bei anderen Völkern völlig selbstverständlich war, daß politische und religiöse Macht eins waren, war es unter Juden selbstverständlich, daß die weltliche Macht und die religiöse Macht nicht in derselben Hand lagen oder sich gegenseitig beherrschten. Der römische Kaiser war eben auch der Pontifex Maximus, der oberste Priester, der jüdische König dagegen nicht. Und auch heute ist der Gedanke noch nicht ganz ausgestorben, daß die höchste religiöse Autorität auch politisch das Sagen hat. Es gibt einige, die das gerne hätten, aber sie haben nicht mehr die Macht. Der japanische Kaiser meint etwa, weil er der Sohn der Sonnengöttin ist, müßte er eigentlich mehr zu sagen haben, aber die japanischen Politiker lassen ihn zum Glück nicht … Zu denen, die diesen überholten Anspruch auf dem Markt der Möglichkeiten immer noch erhebt, gehört übrigens auch der Dalai Lama.

Also: Schon das Alte Testament wehrt den Gedanken ab, Kirche und Staat seien eins. Zur Zeit Jesu war diese Trennung noch viel deutlicher, weil nun der Glaube an den einen wahren Gott geographisch das Gebiet des einen Volkes verläßt und diese Haltung dem Staat gegenüber von Jesus und den Aposteln zunächst einmal auf das römische Reich aber damit auf jeden Staat irgendwo auf der Erde übertragen wird, sei er offiziell christlich oder nicht.

Christen haben in der Geschichte viel falsch gemacht. Christen haben in der Geschichte lange mit der Religionsfreiheit gerungen und es ist der Eindruck entstanden, als wäre Religionsfreiheit gegen die Christen durchgesetzt worden. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, was in der französischen Revolution damals den Leuten eigentlich anderes übrig blieb, als gegen eine allmächtige Kirche zu drastischen Mitteln zu greifen. Da ist die Religionsfreiheit als Freiheit von der Religion mit Gewalt durchgesetzt worden. Aber das läßt die Leute oft vergessen, daß wir nicht in der französischen Tradition stehen, sondern vielmehr in der britischen und amerikanischen. Was die Kirche in Europa von Amerika mehr oder weniger unter Druck über das Grundgesetz bekommen hat, ist dort von Christen und nicht gegen den christlichen Glauben eingeführt worden. Und das hat sich so gut bewährt, daß Christen zu Vorreitern geworden sind und auch der Papst, der damals noch in der französischen Revolution bekämpft wurde, ist längst auf diese Linie eingeschwenkt, daß es Gottes Wille ist und nicht nur ein pragmatisches Nachgeben gegenüber der heutigen Welt, daß die Kirche ihre Aufgabe wahrnimmt und der Staat seine Aufgabe wahrnimmt.

Das muß nun aber keine Trennung von Religion oder Gesellschaft und Staat werden. Ein Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann, er muß irgendwo begründet werden, er muß ethisch begründet sein. Das haben wir in der Bundesrepublik verhältnismäßig gut geschafft, daß wir eine Trennung von Kirche und Staat haben und der Religion dennoch ein weitestgehend öffentlicher Raum gegeben ist, sich selbst darzustellen und auch ihre Sicht der Dinge zu vermitteln.

Menschenrechte und Buddhismus

Wie steht es nun mit den anderen Religionen? Der Einfachheit halber habe ich eines meiner religionswissenschaftlichen Lexika „Ethik der Weltreligionen“ (hg. von Michael Klöcker und Udo Tworuschka. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005, alle folgenden Zitate S. 204ff) herausgegriffen und werde mich aus Zeitgründen auf die dort unter dem Stichwort „Menschenrechte“ behandelten großen Weltreligionen beschränken. Beginnen wir mit dem Buddhismus. Dort heißt es, daß das Gespräch über die Menschenrechte im Buddhismus „erst relativ spät angestoßen wurde“ und der Buddhismus die Menschenrechte immer als eine westliche Auffassung empfunden hat. Dies gilt insbesondere da es in den klassischen buddhistischen Texten keinerlei Texte gibt, an denen man mit dieser Frage anknüpfen konnte. „Das Konzept des Dharma im Sinne einer das menschliche Verhalten regelnden kosmischen Moralordnung“ macht das auch schwierig. Damit ist gemeint, daß ja jeder die Situation, die er erlebt, seinem Vorleben zu verdanken hat. Wenn Sie also ein Verbrecher im Gefängnis sind, dann deswegen, weil Sie im letzten Leben nicht gemäß ihrer Bestimmung gelebt haben. Dann müssen Sie das eben jetzt erdulden um ihrer Bestimmung treu zu bleiben. Es hat, so das Lexikon, in jüngster Zeit, genauer seit 1988, Versuche gegeben, den Gedanken der Menschenrechte über die dem Buddhismus zentrale Aufforderung des Mitleides zu formulieren, also „das Mitleidsprinzip an das Bodhisattva-Konzept“ zu koppeln, das heißt „an das Ideal eines spirituell fortgeschrittenen Wesens, das das eigene Heil zum Wohle anderer zurückstellt“. Das hat aus westlicher Sicht dann den merkwürdigen Beigeschmack, daß die Menschenrechte und die Rechte von Tieren und Pflanzen gemeinsam verhandelt werden, da dieses Mitleid der gesamten Schöpfung gilt. Von diesem Ansatz aus gibt es eine Sonderstellung des Menschen innerhalb der restlichen Schöpfung eigentlich nicht.

Aber rein formal mal gesehen ist es keine Frage, daß der Buddhismus über den Gedanken des Mitleides einer inhaltlichen Unterstützung der Menschenrechte noch am nächsten kommt und zunehmend buddhistische Denker den Buddhismus mit dem Gedanken der Menschenrechte versöhnen. Dennoch ist es noch eine schmale Basis, etwa um gewaltbereite buddhistische Politiker und Würdenträger in Sri Lanka aufzufordern, Gewalt und politischen Druck gegen Anhänger anderer Religionen zu unterlassen.

 Menschenrechte und Hinduismus

 Wie sieht es mit dem Hinduismus aus? „Die individuelle Gleichheitsidee der Menschenrechte“ – ich zitiere wieder das Lexikon ‚Ethik der Weltreligionen’ – „widerspricht dem dominierend Menschenbild des Hinduismus, demzufolge der Mensch von Geburt an ein Angehöriger einer bestimmten sozialen Gruppe ist“ und er aufgrund seines vorhergehenden Lebens nun seine Schuld büßen muß. Im Hinduismus gibt es die Kasten, und die unterschiedlichen Kasten sind der Hauptgrund, warum Menschen in hinduistischen Gesellschaften keine für jeden gleich gültigen Rechte, keine Menschenrechte haben können. In diesen Kasten leben sie aber je nach dem, wie sie in ihrem früheren Leben vor ihrer Wiedergeburt ihre Bestimmung erfüllt haben. Im Kastendenken „bestimmt also nicht das Prinzip der Gleichheit der Menschen, sondern das Prinzip der Hierarchie“, auch wenn jene Strömungen und Denker des Hinduismus, die die Liebe zu Gott als alleinigen Heilsweg verkünden, diese Ungleichheit zu unterminieren beginnen.

Wer etwa in Indien in der Sozialarbeit aktiv war oder sie unterstützt hat, der weiß von der großen Schwierigkeit, weil da ein Aussätziger ist, dem man gut helfen könnte, der selbst aber möglicherweise keine Hilfe haben möchte, weil er denkt: „Wenn ich mein schweres Schicksal nicht annehme, dann geht es mir vielleicht jetzt besser, aber im nächsten Leben wird es mir noch schlimmer ergehen. Meine einzige Chance, daß es mir besser geht, ist, daß ich mein Schicksal hier und jetzt annehme. Dann habe ich eine Chance im nächsten Leben aufzusteigen.“ Das heißt, der Gedanke des immer wieder erneuten Lebens macht es fast unmöglich von Menschenrechten hier und jetzt zu sprechen. Ich kann Menschenrechte im Hinduismus oft nur dort durchsetzen, wo die Menschen ihre eigene Religion nicht wirklich ernst nehmen oder dagegen aufbegehren.

Welche Menschen sind das? Nun, meistens die am schwersten Betroffenen. Im ganzen Kastenwesen ist es offensichtlich so, daß die Leute vom Kastenwesen desto überzeugter sind je höher ihre eigene Kaste ist. Böse Zungen behaupten sogar, daß die Priester, die in dieser Hierarchie ganz oben stehen, die ganze Sache nur deswegen erfunden hätten, aber das ist ein Vorwurf, den man natürlich jeder Religion irgendwie machen kann. Das wollen wir nicht weiter verfolgen. Es ist aber überhaupt keine Frage, daß die Priester, die ganz oben stehen, von diesem System völlig überzeugt sind, während die so genannten Kastenlosen, die Fußabtreter, die, die am Ende der Gesellschaftshierarchie stehen wohl am unmittelbarsten davon betroffen aber am wenigsten davon überzeugt sind. Deswegen sind Hunderttausende in Indien in Missionsschulen oder in christliche Einrichtungen gekommen, und viele sind Christen geworden. Wer die Geschichte von Indien ein wenig kennt, der weiß, daß es in Indien eine ganz merkwürdige Situation gibt. Durch Gandhi und andere Vordenker, aber auch durch die Vorgeschichte des britischen Rechts, hat Indien eine Verfassung bekommen, die unserem Grundgesetz verhältnismäßig ähnlich ist und die von ihren Formulierungen und Inhalten eigentlich eine christliche, zumindest eine westliche Verfassung ist. In ihr steht unter anderem, daß es gar keine Kasten gibt und daß es verboten ist, irgendwelche Entscheidungen aufgrund der Kastenzugehörigkeit zu fällen.

In der Verfassung beziehungsweise in den indischen Gesetzen ist auch verfügt, daß alle öffentlichen Stellen im gleichen Prozentsatz der Kastenlosen und niedrigen Kasten zu besetzen sind, wie diese einen Anteil an der Bevölkerung entspricht. Das ist heute einer der wesentlichen Gründe, warum die Christenverfolgung in Indien zunimmt und die Hinduisten in Indien immer nationalistischer und politischer werden. Weil die Kastenlosen und die Angehörigen niedriger Kasten durch christliche Bildungssystem gegangen sind und entweder Christen geworden sind oder zumindest mit christlichem Denken infiltriert wurden und über diese Rechtsgrundlage zu Abertausenden in staatliche Positionen als Lehrer, Beamte, Politiker, Bürgermeister und noch weiter nach oben kommen und dadurch zwar die Kastenlosen rechnerisch repräsentiert sind, die Christen dadurch aber völlig überrepräsentiert sind. Aber was will man machen, wenn man einen Lehrer sucht und es nach dem Gesetz ein Kastenloser sein muß, man aber einfach nicht genügend nichtchristliche Kastenlose findet, die die nötige Bildung dafür mitbringen. Dadurch entstehen ungeheurere Spannungen, weil Indien zerrissen wird zwischen seiner Verfassung, die christlich-westlich argumentiert, und den tatsächlichen religiösen Vorstellungen der Menschen, die dazu überhaupt keinen Bezug haben.

Nun wollen wir nicht auf die Inder herabblicken. Wir haben das in Deutschland auch einmal ausprobiert, eine Verfassung, die dem Denken der meisten Menschen nicht entsprach. Nach dem Ersten Weltkrieg gab man sich eine Verfassung und die Herzen der Menschen teilten diese Verfassung nicht. Man konnte die Uhr danach stellen, wann diese Verfassung keine Gültigkeit mehr hatte. Es brauchte leider Hitler und den Zusammenbruch, daß die Verfassung von 1949 von uns Deutschen mit vollem Herzen akzeptiert wurde. Eine Gesellschaft kann nicht leben, wenn ihre Verfassung nur ein Stück Papier ist und nicht auf die breite Unterstützung der Bevölkerung stößt. Aber es ist nun einmal so, daß in Bezug auf Indien die säkularisierten Inder, die keine religiöse Überzeugung mehr haben, sehr gut mit ihrer Verfassung und mit internationaler Menschenrechtsverfassung klar kommen, aber nicht die Masse der überzeugten Hinduisten.

Menschenrechte und Islam

Nach Christentum und Buddhismus und Hinduismus müssen wir uns dem Islam zuwenden. Wir haben heute schon sehr viel über den Islam gehört und es geht jetzt ausschließlich um die unmittelbare Frage nach den Menschenrechten. Da haben wir eine sehr einfache Situation, weil die islamische Welt uns eine eigene Erklärung der Menschenrechte zur Verfügung stellt, in der sie uns mitteilt, wie sie Menschenrechte begründet und wie sie sie versteht. Es geht um die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ von 1990 (häufig im Internet), die von 45 Außenministern der Organisation der Islamischen Staaten, der islamischen Konferenz, verkündigt worden ist und in der es unter anderem einleitend heißt, daß das normale Menschenrechtsverständnis, ich zitiere „eine säkulare Interpretation der jüdisch-christlichen Tradition ist, die von Muslimen nicht ohne Bruch ihres islamischen Rechts befolgt werden kann“.

 Das finde ich klassisch formuliert. Das ist genau das, was die Menschenrechte meines Erachtens sind, „eine säkulare Interpretation der jüdisch-christlichen Tradition“. Das ist die Situation, der sich gerade auch säkulare Vertreter der Menschenrechte angesichts des Islam stellen müssen. Wir werden darauf am Ende noch einmal zurückkommen. Denn wir leben in diesem Land ja nicht mit einer dezidiert christlichen Verfassung und mit lauter Christen zusammen, sondern überwiegend mit säkularen Menschen.

 Wie sehen nun die islamischen Menschenrechte nach dieser Einleitung der Kairoer Erklärung aus? Ich lese ihnen einfach mal einige Artikel vor: Artikel 12 lautet: „Jeder Mensch hat innerhalb des Rahmens der Scharia das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnortes, entweder innerhalb oder außerhalb seines Landes. Wer verfolgt wird, kann in einem anderen Land um Asyl ersuchen. Das Zufluchtsland garantiert seinen Schutz, bis er sich in Sicherheit befindet, es sei denn, das Asyl beruht auf einer Tat, die nach der Scharia ein Verbrechen darstellt.“ Das ist beispielhaft für die islamische Sicht: Sie haben prinzipiell ein Recht auf Asyl, außer was sie getan haben war gegen die Scharia. Das heißt im Klartext: Sie haben das Recht meist nicht. Ein Muslim im Iran, der Christ wird, kommt nach Deutschland, weil er seine neue Religion im Iran nicht leben kann ohne Gefahr für Leib und Leben. Nach dem Verständnis der islamischen Menschenrechtserklärung hat er gar kein Recht, bei uns Asyl zu suchen, weil der Abfall vom Islam eine Tat gegen die Scharia war. Wäre er Christ und zum Islam übergetreten und würde dafür verfolgt, hätte er natürlich immer das Recht, irgendwohin zu fliehen und um Asyl zu bitten.

Hier sehen Sie den Unterschied zum christlichen Verständnis, von dem ich am Anfang gesprochen habe. Wenn in Nordirland, wo sich – Gott sei’s geklagt – sogenannte Katholiken und sogenannte Protestanten die Köpfe einschlagen, ein Katholik zum Protestantismus übertritt und deswegen sein Leben bedroht ist, würden wir als Christen immer sagen, daß er in jedem Land der Erde, das ihm Freiheit bietet, Unterschlupf suchen kann. Er hat ein Recht darauf. Es ist sein Menschenrecht, daß er sich in ein Gebiet begeben darf, in dem sein Leben nicht mehr bedroht ist, auch nicht von Christen. Und das würden wir auch sagen wenn ein Christ Muslim wird. Wenn es in unserem Land beispielsweise so wäre, daß, wenn ein Christ Muslim wird, er deswegen aus irgendwelchen Gründen in Lebensgefahr gerät, dann muß er in einem Nachbarland Zuflucht suchen dürfen. Dann ist das sein Recht, würden wir als Christen sagen. Im islamischen Verständnis ist es aber ganz eindeutig: Das Recht bezieht sich nur auf Taten, die nicht gegen die Scharia gerichtet sind, also niemals auf ein Verlassen des Islam.

Artikel 16 lautet: „Jeder hat das Recht den Erfolg seiner wissenschaftlichen, literarischen, künstlerischen Arbeit zu publizieren und die daraus herleitenden moralischen und materiellen Interessen zu schützen.“ Das klingt ja ganz gut und hat etwas mit Meinungs- und Pressefreiheit zu tun. „Vorausgesetzt“ wird im nächsten Satz allerdings, „daß die Werke sich nicht gegen die Scharia richten oder ihr widersprechen“. Also zu Deutsch: Sie haben das Recht eben nicht beziehungsweise nur sehr beschränkt.

Artikel 10 lautet: „Der Islam ist eine Religion der reinen Wesensart. Es ist verboten irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren.“ In einer Erklärung der Menschenrechte steht also ausdrücklich, daß es verboten ist, irgendjemand vom Islam zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren. Über das Umgekehrte steht nichts da. Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zum Islam zu bekehren, scheint ja offensichtlich zulässig zu sein.

Artikel 22 a bis c: „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung, soweit er damit nicht die Grundrechte der Scharia verletzt.“ „Jeder Mensch hat das Recht, im Einklang mit der Norm der Scharia für das Recht einzutreten, das Gute zu verfechten und vor dem Unrecht und dem Bösen zu warnen.“ „Information ist lebensnotwendig für die Gesellschaft. Sie darf jedoch nicht dafür eingesetzt oder mißbraucht werden, die Heiligkeit und Würde des Propheten zu verletzen, die moralischen und ethischen Werte auszuhöhlen oder die Gesellschaft zu entzweien, zu korrumpieren, ihr zu schaden oder ihren Glauben zu schwächen.“

 Sie merken, daß in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte nicht nur vorne weg steht, daß über allem die Scharia gilt, sondern daß in fast jedem Paragraphen eigens wiederholt wird, daß dieses Recht immer nur solange gilt, solange es mit der Scharia übereinstimmt. Damit ist vollkommen klar, daß es ein Menschenrecht außerhalb dieser Scharia, ein Menschenrecht auf Denken und Handeln gegen die Scharia, nicht gibt. Und man muß hinzufügen: Das ist hier ja nicht von Terroristen oder selbsternannten Islamisten formuliert worden, sondern von normalen islamischen Staaten, den 45 Mitgliedsstaaten der Konferenz islamischer Staaten. Man kann natürlich auch den umgekehrten Schluß ziehen und sagen: offensichtlich sind diese Staaten alle islamistisch. So oder so, es ist auf jeden Fall nicht irgendeine bestimmte kleine Gruppe von Ländern. Es ist die offizielle Erklärung von 45 islamischen Staaten, die übrigens praktisch alle in ihrer Verfassung ebenso stehen haben, daß die Scharia gilt und daß sie die obere Instanz ist, gegen die es keine Berufung auf irgendwelche Rechte gibt.

 Wenn sie nun der Meinung sind, das wäre schon genug, dann habe ich ihnen noch das iranische Strafgesetzbuch als Beispiel einer noch extremeren Form mitgebracht. (Die deutsche Übersetzung wurde unter dem Titel ‚Strafgesetze der islamischen Republik Iran’ von Silvia Tellenbach übersetzt [Berlin: de Gruyter, 1996], Auszüge aus dem Buch finden sich auf der Seite der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, www.igfm.de). Ich bin mir im Klaren darüber, daß der schiitische Islam etwas anderes als der sunnitische Islam ist und der Iran nicht für andere islamische Länder steht. Ich bin mir auch im Klaren darüber, daß ich unserer Gesellschaft nicht Neues sage, wenn der Iran als eine spezielle Bedrohung dargestellt wird. Trotzdem haben selbst diejenigen, die den Iran als Gefahr empfinden, oft genug nicht ins Kleingedruckte schaut, was denn eigentlich die Rechtsstandards sind.

Nehmen wir beispielsweise die Frage des Folterverbots. Sie wissen alle, daß in der Scharia und damit auch in vielen islamischen Strafgesetzbüchern drakonische, auf Schmerzen ausgerichtete Strafen vorgesehen sind. Nach Artikel 174 des iranischen Strafgesetzbuches sind für das Trinken berauschender Getränke „für Männer und Frauen achtzig Peitschenhiebe vorgesehen“. „Nichtmuslime werden zu den achtzig Peitschenhieben nur dann verurteilt, wenn sie berauschende Getränke öffentlich trinken“. Strafmaße für andere Delikte wie beispielsweise Gotteslästerung oder die Beleidigung des Propheten sind Tötung, Kreuzigung, Abschneiden zuerst der rechten Hand, dann des linken Fußes und in Ausnahmefällen Verbannung. Wir streiten uns vor deutschen Gerichten wenn es um Asylverfahren geht, ob ein Muslim der Christ ist, im Iran bedroht ist. Der Iraner, der dann hier ein Asylverfahren beantragt, kann eigentlich nur darauf hoffen daß er wenigstens verbannt wird. Im Strafgesetzbuch heißt es in Artikel 195 a-b nämlich: „Die Kreuzigung des Kämpfers gegen Gott und Verderbensstifters hier auf Erden wird wie folgt ausgeführt: Die Art des Anbindens darf nicht zum Tode führen, wo kämen wir da hin, wenn der vorzeitig stirbt. Der Täter bleibt nicht länger als drei Tage am Kreuz hängen. Stirbt er während der drei Tage, kann man ihn abnehmen.“

Oder wie wäre es mit der Frage der Wiedergutmachung? In Artikel 283 heißt es: „Blendet eine Person, die nur ein Auge hat, einen anderen oder reißt sie ihm die Augen aus, so wird die Vergeltung geübt, obwohl der Täter nur ein Auge hat.“ Es gibt immer noch Menschen, die meinen die Aussage „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ im Alten Testament hieße: Stichst du mir ein Auge aus, dann darf ich dir genüsslich auch ein Auge ausstechen. Wer das Alte Testament kennt, weiß, daß das Unsinn ist. Der Rechtsgrundsatz, daß das Strafmaß immer der Straftat zu entsprechen hat, beinhaltet nicht, daß ich aus Rache die Tat wiederholen darf, sondern daß das Strafmaß der Beschädigung eines Auges eben der Beschädigung eines Auges zu entsprechen hat. Wenn jemand meine Kuh getötet hat, dann habe ich nicht dessen Kuh zu töten, was Unsinn wäre, sondern dann muß er mir eine Kuh erstatten, aber er muß eben nur eine Kuh erstatten und nicht zehn Kühe. Im iranischen Strafgesetzbuch ist „Auge um Auge“ allerdings ganz wörtlich zu verstehen und zwar auch wenn es nur um ein einziges verbliebenes Auge geht.

Nun könnte man sagen: ‚Na ja das wird ja alles ein bißchen dramatisiert und das sind nun irgendwelche drastischen Beispiele.’ Es ist einfach so, von seinem Grundsatz her kann der Islam nur ein Rechtssystem innerhalb der Scharia kennen. Er kennt kein Rechtssystem, keine Menschenrechte außerhalb der Scharia und deswegen ist die Frage schon sehr interessant, was denn die Scharia genau beinhaltet. Natürlich ist das, was im Iran steht und geschieht, nicht das was meinetwegen in Tunesien Standard ist. Wenn man sich aber die Frage stellt, warum ist es denn in Tunesien alles etwas lockerer zugeht, dann muß man ganz nüchtern sehen, daß das daran liegt, daß Tunesien ein französisches Rechtssystem hat und nicht weil Tunesien ein islamisches Land ist. Wenn in Pakistan der oberste Gerichtshof ein Todesurteil gegen jemanden, der vom Islam zum christlichen Glauben „abgefallen“ ist, aufhebt, dann oft deshalb, weil die Richter in Großbritannien studiert haben und nicht, weil das Gesetz das sagen würde. Das pakistanische Gesetz ist eindeutig, daß auf den Übertritt zum Christentum oder auf die Beleidigung des Propheten die Todesstrafe steht und es keine Erleichterung der Strafe geben darf. Nur die obersten Richter mit ihrer westlichen Ausbildung entscheiden dann einfach, daß ein Christ eben nicht bestraft wird, mit der Begründung, daß man Religion nicht erzwingen könne. Das steht aber nirgendwo im pakistanischen Recht, das ist britisches Denken.

Im Übrigen nützt der Freispruch des obersten pakistanischen Gerichtshofes oft genug den Menschen nichts, weil sie nicht selten sobald sie freigelassen werden, oft noch auf den Treppen des Gerichts, erstochen werden. Warum? Jetzt sind wir wieder beim Rechtssystem – weil die Einhaltung der Scharia eben nicht nur Aufgabe des Staates ist, sondern eigentlich Aufgabe jedes Muslims. Wir merken an dieser Stelle, wie weit das islamische und das westliche Denken auseinanderklaffen. Ich habe oft mit Leuten diskutiert, die überhaupt nicht verstanden haben, warum die Muslime so einen Aufruhr machen, wenn in Dänemark eine für sie beleidigende Karikatur erscheint. Aber das ist eben der Unterschied zu unseren Auffassungen. Wir würden sofort in Kategorien des Rechts und der Menschenrechte denken und würden sagen: ‚Also wenn jemand einen anderen bestrafen will, dann müsste es erstens vorher ein Gesetz gegeben haben, das das verbietet.’ Man kann ja jetzt gerne ein Gesetz für die Zukunft machen, wenn man religiöse Karikaturen verbieten möchte. Aber wenn diese Tat im Gesetz nicht verboten war, dann kann ich jemanden, der sie begangen hat, jetzt auch nicht rückwirkend bestrafen. Er muß vorher wissen und gewußt haben, daß das Folgen haben kann. Und wenn es dieses Gesetz gegeben hätte und die Zeitung hätte wirklich etwas Strafbares getan, würden wir sofort sagen, das gehe dann den dänischen Staat an und nicht den deutschen Staat. Und selbst wenn der dänische Staat etwas machen würde, würden wir erwarten, daß es ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren gäbe, wo alles haarklein und wenn es noch so offensichtlich ist, noch einmal geprüft wird, wer genau die Karikatur gezeichnet hat und wer genau sie hinein genommen hat usw. Warum? Es gehört zu den Rechten des Angeklagten, daß er sich vor Gericht verteidigen darf und daß die Sache ohne Ansehen der Person überprüft wird.

 Wenn wir als Christen gegen die Karikaturen demonstrieren wollten, könnten wir höchstens den dänischen Staat auffordern, etwas zu unternehmen. Wenn es beispielsweise um etwas anderes gegangen wäre, also meinetwegen ein angesehener Mann Kinder mißbraucht hätte, hätten wir vielleicht öffentlich darauf hingewiesen, daß die christliche Ethik gebietet, daß auch der einflußreiche Mann bestraft wird. Wir kämen aber nie auf die Idee, daß wir das eigenmächtig unternehmen könnten. Das hat aber etwas damit zu tun, daß bei uns die Trennung von Kirche und Staat in das Denken eingebaut ist, und daß das Gewaltmonopol und die Gerichtsbarkeit beim Staat liegt.

Das sieht aber der Muslim in Indonesien anders. Wenn er Recht hat – und Recht hat er gemäß der Scharia – als Indonesier noch nicht einmal nach indonesischem Recht -, ist es ihm eigentlich egal, ob der Däne das Recht seines Staates verunglimpft hat oder nicht. Wenn er Recht hat und das ist in dieser Frage überhaupt keine Frage, denn man hat den Propheten Muhammad beleidigt und das ist in der Scharia nun einmal eines der schlimmsten Dinge, die es gibt, dann wird er sich noch im besten Falle bei einem Mullah oder einem Imam vergewissern, daß er Recht hat und sich eine sogenannte ‚Fatwa’ besorgen, aber dann kann jeder Muslim irgendwo auf der Welt die Scharia vollstrecken, wie der bekannte Fall Salman Rushdi zeigt.

Einmal angenommen, Salman Rushdi hätte wirklich etwas Strafbares geschrieben, dann gäbe es bei uns trotzdem ein langes Gerichtsverfahren. Im islamischen Verständnis braucht man das nicht. Der einzelne Muslim hat das Recht auf seiner Seite und kann es als Einzelperson theoretisch überall auf der Welt vollstrecken. Warum tut er es denn nicht? Wenn sie von einem solchen Denken ausgehen, dann gibt es eine Sache, die sie abhält, das zu tun und das ist Macht und Gewalt. Wenn sie sich nicht sicher sind, ob ihnen womöglich etwas passiert, also wenn Salman Rushdi sich mit Bodyguards umgibt oder von der Staatsmacht seines Gastlandes beschützt wird, und man weiß nicht, ob man es schafft, ist man vorsichtig. Aber nicht deswegen, weil es eine Rechtsfrage wäre, sondern als Vorsichtsmaßnahme.

Wenn in islamischen Ländern, die ganz gut funktionieren, solange sie einen Diktator oder diktatorische Strukturen haben, der Diktator zugunsten einer nicht militärisch gestützten Demokratie weggenommen wird, dann ist schnell das Chaos da. Der Irak hat es vorgemacht, aber Länder wie Palästina, Ägypten oder Indonesien sind ähnliche Beispiele. Sie bekommen dann die Lage nicht durch eine freundliche Rechtsordnung in den Griff, sondern nur durch eine auf ein starkes Gewaltmonopol gestützte Ordnung, das heißt indem sie dafür sorgen, daß Gewalt mit eindeutiger Gewalt wieder eingedämmt wird. Dann können sie über Jahre hinweg versuchen, etwas zu verändern, aber um noch einmal Tunesien zu erwähnen: Was es da an Verbesserung gegenüber normalen islamischen Ländern gab und gibt, hängt damit zusammen, daß die Franzosen eben nicht gerade vornehme Kolonialherren waren. Sie haben dafür gesorgt, daß bestimmte Prinzipien eisern durchgezogen worden sind und dabei ist man entsprechend geblieben und damit kann die Gesellschaft leben. Damit möchte ich den Kolonialismus in keinster Weise beschönigen. Aber wenn beispielsweise viele islamische Länder die Ordnung übernommen haben, daß der Sonntag der freie Tag ist und damit die Arbeiterschaft einen Erholungstag hat, dann eben nicht aus Überzeugung, sondern weil irgendwann einmal Machthaber das erzwungen haben. Kurzum: eine Demokratie in einem islamischen Land ist derzeit nur möglich, wenn sie über ein starkes Gewaltmonopol verfügt und gewillt ist, dies wehrhaft zugunsten der Demokratie anzuwenden.

Teil II folgt