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Gewalt und Religion: Die Ambivalenz des Koran

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Islam meint wörtlich „Unterwerfung“ unter den Willen Allahs. Diese Unterwerfung wird durchbuchstabiert im Koran, der in seiner Urform bei Allah selbst liegt und in seiner Buchform als unmittelbare, im göttlichen Arabisch formulierte Wiedergabe der Urform gilt. Koran meint zunächst das Vorlesen eines Textes, später die Gesamtheit der Offenbarung. Koranworte werden daher wesentlich unhistorisch aufgefaßt und sind trotz ihrer nicht seltenen Widersprüche nicht relativierbar. Um diese Widersprüche haben sich vier berühmte Rechtsschulen bis zum 12. Jahrhundert bemüht, doch sind deren fatwas selbst gewissermaßen klassisch-unveränderlich kanonisiert.

Wenn in der Mitte des Christentums die Fleischwerdung des Wortes steht, so in der Mitte des Islam die Buchwerdung des Wortes: Der Koran enthält den ins einzelne gehenden Willen Allahs zur Regelung des gesamten menschlichen Lebens, weswegen der Koran auf den westlichen Leser den erstaunlichen Charakter eines „Gesetzbuches“ macht – von völlig anderem Zuschnitt als das „Geschichtsbuch“ der Bibel. Während diese mit dem Ur-Anfang beginnt (bereshit barah), also Kausalitäten und dann Diagnosen des jetzigen Zustands entwickelt (Kosmologie und Anthropologie aus Theologie), spielen die Erschaffung der Welt oder Aussagen über Kosmologie/Anthropologie/Theologie im Koran eine untergeordnete Rolle; sie sind implizit vorausgesetzt bzw. aus dem Alten Testament stichwortartig und selektiv übernommen. Schon Sure 2 beginnt nach einer Kurzzusammenfassung der Zeit von Adam bis Mose unvermittelt mit ausführlichen Gesetzesdarlegungen, u. a. zur Behandlung von Frauen bei Eheschließung, Erbfragen usw. Die Fragen nach Woher, Warum und Wohin der Welt sind deutlich untergeordnet der Kodifizierung des Lebens. Der Gehorsam gegenüber den Koran-Gesetzen ist idealtypisch absolut, d.h. Allahs Wort muß genügen, in seine Pläne hat niemand Einsicht. Zwischen ihm und der Schöpfung herrscht ein asymmetrischer Bezug von oben nach unten; der Islam entwickelt keinen hinreichenden Vernunftcharakter der Schöpfung, der auch der menschlichen Vernunft einen gewissen Zugang zum Göttlichen und zu den Mitgeschöpfen gewährte. Es ist zu vermuten, daß der Niedergang der islamischen Naturwissenschaften gegen Mitte des 14. Jahrhunderts mit einer überzogenen Allmachtslehre zusammenhängt, so daß Allah als causa prima jederzeit die Naturgesetze außer Kraft setzen konnte, während die christliche Theologie, bahnbrechend dabei Thomas von Aquin, an dieser Stelle die causae secundae einführte, die verläßlichen Zweitursachen, die der Schöpfer selbst der Natur eingepflanzt habe.

Dieser Unterschied ist sprechend: dort die Offenbarung des „Buches“ (Inlibration), hier die Verkündigung und Menschwerdung des Sohnes (Inkarnation). Das Christentum ist wesentlich keine Buchreligion. Islam, die Unterwerfung, meint das fraglose Zurücktreten unter die Gewalt Allahs, der gleichwohl der Erbarmer, aber auch der Schicksalsentscheider ist. Zwischen Allah und dem Menschen gibt es kein Gespräch, keine Frage, kein Aufbegehren; es gilt der Gehorsam. Mohammed blieb sein Leben lang ein Krieger, ein Feldherr, der Zwang erfuhr, selbst ausübte und Zwang weitergab. Gerade die kriegerischen Erfolge seiner zahlreichen Beute- und Feldzüge galten als Zeichen der Erwählung. Der Aufruf zum Kampf gegen die Ungläubigen oder Götzendiener war daher keine Metapher, sondern in der Tat Teil der Legitimation der Botschaft und selbst gottgefällig. Religionsphänomenologisch ist das Phänomen des Feldherrn als Religionsstifter einzigartig.

Zentral für die Geschichtsvision des Koran ist, daran anschließend, die Vorstellung einer schrittweisen historischen Umwandlung der Welt: vom „Haus des Krieges“ (dár al-harb), worin per Definition die Ungläubigen wohnen, zum „Haus des Islam“ (dár al-islám). Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder dient Mission, da’wa, zur Beseitigung des Unglaubens, oder die Übernahme einer anderen Kultur durch Majorisierung verbreitet dieses „Haus“. Am Ende umfaßt dár al-islám alles und alle mittels der Scharia, wörtlich des „Weideplatzes“ oder des islamischen Rechts: Auf Dauer sollte ein Moslem nicht im „Haus des Krieges“, dominiert von Ungläubigen, leben. Diese schrittweise Umwandlung geschieht durch dschihad. Dschihad meint wörtlich „Bemühung“, „Anstrengung auf dem Weg Gottes“, ist aber in der Gegenwart bis zum vagen Verständnis eines „Heiligen Krieges“ ausgeweitet worden. Etymologisch verweist der Wortstamm g-h-d auf eine entschlossene geistige Haltung in der Gemeinschaft. dschihad bedeutet insofern zunächst ohne kriegerischen Akzent „sich bemühen die Ziele Gottes einzulösen“, was auch heißt, Leben und Vermögen für den Islam einzusetzen. Der handgreiflich militärische Aspekt kommt den Wörtern qital = Schlacht und harb = Krieg zu. Tatsächlich enthält dschihad zunächst ausdrücklich ein geistiges Bemühen, wie Mohammed ursprünglich durch Worte und Erläuterungen seine Stammesbrüder zu überzeugen trachtete.

Nach der Hidschra (Mohammeds Auszug aus Mekka) wird die in Medina verfaßt Sure 9 den Begriff dschihad aber zuspitzen. Man kann seitdem vier Bedeutungen des Begriffes einteilen: 1. Im ursprünglichen Sinne eine friedliche Überzeugungsarbeit: Werbung für den Islam; 2. Abwehr jeder fremden „Aggression“; 3. kämpferische Aktionen außerhalb der vier heiligen Monate und jedenfalls des Ramadan; 4. Kampf für den Islam in zeitlich und räumlich unbeschränkter Weise. Diese deutlich unterschiedenen, sogar gegensätzlichen Inhalte ergeben sich aus der geschichtlichen Entwicklung, die die Vorschriften im Koran und in der Sunna durch die Jahrhunderte hindurch unterschiedlich auslegten.

Sure 9 enthält den umfassendsten Gebrauch des Wortes dschihad und soll daher eingehender vorgestellt werden. Sure 9 war wohl ursprünglich als ein Teil von Sure 8 gedacht. Sure 8 betraf den Verteidigungsfall, die Verteilung von Kriegsbeute, den Umgang mit den eigenen Leuten im Kampf und mit dem Gegner im Sieg. Historisch zu plazieren sind die Aufrufe zum Kampf von Sure 8 und 9 beim Feldzug von Medina nach Mekka 631 n. Chr., gegen die dortigen unmittelbaren Gegner Mohammeds. Hintergrund sind die Bedingungen die der damalige Feldherr Mohammed wegen des gewünschten Besuches der Wallfahrtsstätte von Mekka an die sich bis dahin gegen ihn und seine Lehre sperrenden Mekkaner richtet. Die entscheidende Partie 9:1-28 stammt aus dem Jahr 631 n. Chr., also noch zu Lebzeiten des Propheten und beginnt mit einer „Lossprechung“ von Verträgen, um dann die Strategie der Kriegführung zu entwickeln. Mohammed bietet den „Ungläubigen und Heuchlern“ (9:37) eine Frist von vier Monaten an, in welchen eine Besinnung zum Besseren erhofft wird. Nach Verstreichen dieser Frist ist mit offenem Kampf und Tötung aller Mekkaner zu rechnen. 9:5: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet (salat) verrichten und die Almosensteuer (zakat) geben, dann laßt sie ihres Weges ziehen!“ Es ist offensichtlich, daß diese Verse einen „Sitz im Leben“ der damaligen Strategie Mohammeds haben, die im Übrigen genau in seinem Sinne zum Erfolg führte: Mekka verstand die Drohung, gewährte Zugang zu der Wallfahrtsstätte und schloß sich der Lehre Mohammeds an.

Es ergibt sich eine Schwierigkeit grundsätzlicher Art: Sofern der Koran nicht als historisches Buch und als durch Zeitumstände bedingte Niederschrift erfaßt wird, sondern als „heiliges Buch“ im Sinne einer Verbalinspiration durch Allah, können solche Ayat auch heute nicht aus ihrem sekundären geschichtlichen Hintergrund gelöst und damit relativiert werden, sondern gelten in „fundamentalistischer“ Lesart als wörtlich zu übernehmen. Dies ist umso bedeutsamer, als noch präzisiert wird, zwischen einem Kampf gegen Ungläubige, mit denen kein Friedensvertrag besteht (9:1-15) und dem Kampf gegen Juden und Christen (9:29-35). Mit den Ungläubigen wird im obigen Sinne kurzer Prozeß gemacht, während Juden und Christen, da sie angeblich den wahren Ein-Gott-Glauben aufgegeben hätten, als „gottverfluchte Leute“ (9:30) apostrophiert werden und zum rechten Glauben zurückgeführt werden müssen: „Er (Allah) ist es, der seinen Gesandten mit der Rechtleitung und der wahren Religion geschickt hat, um ihr zum Sieg zu verhelfen über alles, was es (sonst) an Religion gibt – auch wenn es den Heiden zuwider ist.“ (9:33)

Weitere markante dschihad-Stellen im Koran lauten:

3:169 Wer im Kampf fällt, lebt wohlversorgt bei Allah als dsahid/Martyrer; Selbstmord wird jedoch nicht legitimiert. Im Blick auf heute ist hinzuzufügen, daß keinesfalls die Mitnahme unschuldiger Opfer erlaubt ist.

35:52 ermuntert zu einem Streben mit aller Kraft, (durch den Koran) zu überzeugen. Hier (wie anderswo häufig) wird dschihad Teile eines längeren Ausdrucks: al-dschihad fi sabil allàh, und wird so zum religiös motivierten Kampf um Selbstbehauptung, auch durch razzawat, nämlich Beutezüge zum Lebensunterhalt.

8:39 versteht dschihad als militärischen Kampf, geboten wie andere rituelle Pflichten.

4:95 ruft dazu auf, besser in den Kampf zu ziehen als zuhause zu bleiben. Versprochen wird gewaltiger Lohn: Beute und jenseitige Paradieses-Verheißung.

Mohammed starb 632 n. Chr., bevor er die weitere Spezifizierung seiner damaligen Strategie für die Zukunft erläutern konnte. Insofern bleibt offen, welche der oben angeführten vier Auslegungsmöglichkeiten von dschihad ihm für die Zeit nach dem Sieg am gemäßesten schien. Man könnte davon ausgehen, daß der geistige Aspekt des dschihad der umfassende sei, doch ist es nicht auszuschließen, da Mohammed als erprobter und siegreicher Feldherr in vielen Schlachten und Beutezügen, nicht zuletzt auch durch die bekannte Tötung der Juden in Medina, durchaus die gewaltsame Durchsetzung seiner Lehre unter gegebenen Umständen rechtfertigen würde. Sure 9 zeigt deutlich die historische Gebundenheit des Korantextes an seine Entstehungsgeschichte. Sofern sie aber nicht mehr historisch aufgefaßt wird, behalten Mohammeds Kampfesworte den Status zeitloser Gültigkeit.

Angesichts eines revitalisierten, zum Teil fanatisierten Islam kann es nur die Antwort eines revitalisierten und nicht fanatisierten Judentums und eines ebensolchen Christentums geben, das seine Quellen im Judentum weiß und achtet. Dies betrifft die religiöse Seite der Frage; die politische und rechtliche im Sinne einer Demokratisierung des Islam ist davon zu unterscheiden und von rechtsstaatlicher Seite zu klären.

Nicht ausreichend scheinen die Rituale der Betroffenheit (Kerzen etc.) gegenüber dem Fanatismus, nicht ausreichend der lahme Toleranzbegriff der Gleichgültigen, nicht ausreichend das bloße Nebeneinander der „Kulturen“, das sich beispielsweise nicht einmal dem Grundgesetz gemeinsam verpflichtet weiß, sofern dieses Grundgesetz staatlich nicht hinreichend verpflichtend angewandt wird, nicht ausreichend auch die Beschwörungen nach dem 11. September 2001: „Keine Rache“ – als wäre das Völkerrecht von Rache getragen und als müßte es nicht notwendig internationale rechtsstaatliche Mittel zur Verteidigung gegen Terror geben. […] Es bedarf noch vieler Gespräche und mehr noch der historischen Verarbeitung, auch der Selbstbearbeitung islamischer Geschichte durch Moslems, um die Gewaltbereitschaft, die der Koran zeitabhängig vom 7. Jahrhundert durchaus präsentiert, unter modernen Bedingungen einzudämmen, d. h., in die vergangene Geschichte zu verweisen, und stattdessen andere Potentiale des Koran, die Verpflichtung seiner Gläubigen zur Barmherzigkeit etwa, herauszustellen. In der frühen mekkanischen Phase Mohammeds (611-622 n. Chr.) enthält der Koran nämlich ausgesprochen friedliche Botschaften, auch an die Polytheisten: „Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.“ (109:6) „Gott ist unser Herr und euer Herr. Wir haben unsere Werke, und ihr habt eure Werke (zu verantworten). Es gibt keinen Streitpunkt zwischen uns und euch. Gott wird uns zusammenbringen. Und zu Ihm führt der Lebensweg.“ (42:15)

Alles wird sich daran entscheiden, ob der Koran von seinen versöhnlichen oder seinen kämpferischen Suren her verstanden wird.

Professor em. Dr. Hanna Barbara Gerl-Falkovitz hatte von 1993 bis 2011 den Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft an der Technischen Universität Dresden inne und ist heute Leiterin des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. bei Wien.

Quelle: iDAF – Aufsatz des Monats 1/2015