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Immer der Spur nach! (Neujahrspredigt 2011)

„Wie ein weites unberührtes Schneefeld, durch keine Spur entstellt, aber zu mutigen Schritten einladend, so liegt das neue Jahr vor uns!“ So pflegte unser Stuttgarter Heimatpfarrer – dichterisch begabt – Jahr um Jahr die Neujahrspredigt einzuleiten. So ähnlich – meist etwas pathetisch – liest sich’s in vielen Artikeln zum neuen Jahr. So mag es uns ja auch zumute sein. Jedoch für uns, liebe Geschwister, liebe Gemeinde, stimmt dieser Satz nicht. Wir sind doch „Nachfolger“ von Jesus. Er geht immer voran. So wie Gott seinem Volk Israel voranging (vgl. 2. Mose 33, 14f), so hat es auch Jesus bei seinen Leuten gehalten. Er ging voran (vgl. Markus 10, 32). Es gibt keine Situation in den kommenden Tagen und Monaten, die Jesus nicht schon erforscht hätte. Es gibt keinen Abschnitt, für den er vergessen hätte, uns den Weg zu bereiten. In dem weiten Feld, das sich vor uns auftut, da gibt es schon seine Fußtapfen; denen können und sollen wir nachfolgen. Es gilt: Immer dieser Spur nach!

Der Apostel Petrus – ein besonderer Zeitzeuge unseres Herrn Jesus Christus – hat den Begriff von den Fußtapfen in die Bibel hereingebracht. Was er da formuliert hat, das ist wie ein Kommentar zu der uns für 2011 zugeteilten Jahreslosung: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. Denn von Petrus hören wir: „Christus hat ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen“, und dann geht es weiter: „der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem (Gott) anheim, der gerecht richtet“ (vgl. 1. Petrus 2, 21ff).

Eine „neue Zeit“ ist für die „alte Welt“ angebrochen. Jesus hat unsere „alte Welt“ mit all ihren Fußangeln kennen gelernt: Sie ist alles andere als ein makelloses und unberührtes Schneefeld voll einladender Reinheit. Unsere „alte Welt“ ist ein Gebiet, in dem wir gut daran tun, mit erschreckend Widrigem zu rechnen. Ach was, nicht nur mit „Widrigem“, sondern mit „Bösem“. Davon spricht die Jahreslosung. Davor würden wir heute Morgen am liebsten die Augen verschließen. Aber Jesus hat es erlebt und erlitten, dass unsere Welt nun einmal so ist. Besonders Menschen, die mit Gott rechnen wollen, werden im kommenden Jahr nüchtern damit rechnen müssen. Es wird damit zu rechnen sein, dass uns Vieles von Gott wegziehen möchte. Da gibt es unvermutete und auch unverdiente Schmähungen. Da werden Menschen Leiden zugefügt. Menschen werden vergessen und allein gelassen. Wir werden die Welt prall voll von Bösem erleben.

Jesus wusste, weshalb er es für nötig hielt, seine Leute beten zu lehren: „Erlöse uns vom Bösen!“ Damit hat jedoch Jesus noch mehr gemeint als das Sehnen, dass Gott uns „vom Übel“ erlösen möge. Sondern er sprach gezielt vom „Bösen“ in Person, vom „Argen“. Den hat Jesus in seinen Erdentagen erlebt, erlitten, noch bevor er das erste seiner Wunder tun konnte. Er hat es hautnah erlitten, dass der Versucher, der Satan, der Durcheinanderbringer, der abgrundtief Böse ihn herumbekommen wollte, sogar ihn, ja gerade ihn wegbringen wollte von Gott. Denn darauf ist der Böse aus, mehr noch als auf einzelne Fehltritte und Gemeinheiten, nämlich dass er uns als Leute, die zu diesem Jesus gehören, abriegeln kann von Gott, dass er einen Keil treiben kann zwischen uns und den heiligen Gott. Er ist darauf aus, höchst anständige und gutwillige Menschen von Gott abzudrängen und abzuziehen. Das war es, was Jesus in seinen Erdentagen von Anfang an erduldet hat. In dieser Welt hat Jesus gelebt, wo der Böse der „Fürst dieser Welt“ ist.

Dem und der von ihm beherrschten Welt hat sich Jesus ausgesetzt. Der „Arge“ hat alle Tricks eingesetzt, um Jesus zu sich herumzukriegen: Eingesetzt hat er sogar – wie damals bei der Versuchung – fromme Diskussionen, später den Hass der Feinde, das Verlassenwerden von Freunden, das Missverstanden-Werden durch fromme Leute – und schließlich das körperliche Leiden und das absolute Verachtet-Sein. Das alles hat Jesus erdulden müssen. Dennoch ist er zielstrebig seinen Weg gegangen – und er hat dabei für uns Fußtapfen hinterlassen.

Es gibt eine Jesus-Spur auch für uns, die wir den Bösen vermutlich in anderer Taktik erleben werden. Nämlich, dass er uns von Gott wegbekommen möchte durch Gehässigkeiten, durch Ehrabschneiden, durch „Für-dumm-Verkauftwerden“, durch Feinde, durch böses Gerede, durch Sorgen, durch Krankheit und durch Schmerzen. „Er hat uns ein Vorbild hinterlassen, dass wir sollen nachfolgen seinen Fußtapfen, der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, der nicht drohte, als er litt“. In dem allen hat Jesus doch das verwirklicht, was er als Programm für seine Leute aufgestellt hatte: „Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen“ (Lukas 6, 27f). Jesus ließ sich nicht vom Bösen überwinden, sondern er überwand das Böse mit Gutem.

Daran wollte der Apostel Paulus erinnern mit dem Wort, das uns nun als Parole durch das neu geschenkte Jahr hindurch begleiten soll. Das ist das Programm einer „neuen Zeit“, die mitten in der „alten Welt“ angebrochen ist. Jesus hat das Programm in Kraft gesetzt – und es wäre so schade, wenn wir es verderben würden.

Auch in der „bösen Welt“ kann erstaunlich viel Gutes gewirkt werden. Es kann sogar abgrundtief Böses durch Gutes überwunden werden. Es war brutal, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts – in der Zeit nach den napoleonischen Kriegsnöten – Waisenkinder aus ihren Heimatdörfern vertrieben und zum Bettel auf die Straße geschickt wurden. Es waren dann Christen in Baden und in Württemberg, die mit Gutem das Böse zu überwinden versuchten und darum Rettungshäuser in Beuggen und in Korntal, in Lichtenstern und Kirchheim und auf dem Tempelhof aufbauten.

In der Schlacht von Solferino (1859) war das Morden, das Blutvergießen, das Stöhnen und Schreien der Sterbenden und Schwerstversehrten grauenhaft, geradezu unvorstellbar. Was konnte man denn gegen diesen ganzen Abgrund des Bösen tun? Da war es ein einzelner Christ, der junge Schweizer Henry Dunant, der zupackte und der in der Folge den Gedanken des „Roten Kreuzes“ ins Leben rief und dadurch so unendlich viel Gutes in einer bösen Welt bewirkte (vor wenigen Wochen wurde seines 100. Geburtstages auch in Stuttgart gedacht).

Als im 19. Jahrhundert im Remstal der Alkoholismus viele Menschen und Familien zerstörte, da haben Christen angefangen, an den Hängen des Tales statt der Weinstöcke Beeren-Sträucher anzupflanzen. Den Ungeist des Sauf-Teufels haben sie nicht lautstark angeprangert, aber diese „christlichen Safter“ – so nannte man sie – haben das Schlimme durch Gutes überwunden, durch ihre Säfte. Und die christlichen Jünglingsvereine ließen sich getrost als „Zuckerwässerles-Clubs“ verhöhnen; denn sie wollten ja nichts anderes, als das Böse durch das Gute überwinden.

„Er war der gute Geist unserer Schulklasse!“ So heißt es immer wieder anerkennend von unserem Norbert, wenn sich die Reste unserer Abitursklasse treffen. „Norbert war immer dort zu finden, wo der Boden von Papierfetzen übersät war, wo die Orangenschalen fallen gelassen waren, wo die Kreide herrenlos auf dem Boden lag, – um all diese unwürdigen Zustände in aller Stille zu beseitigen!“

Man kann im Großen und erst recht im Kleinen das Ungute überwinden durch Gutes. In meinem langen Leben habe ich viele praktische Anregungen dazu bekommen. Am liebsten würde ich jetzt ein dickes Rezeptbuch aufmachen, wie man in Hausgemeinschaften, in Nachbarschaften, in Familien das Böse durch Gutes überwinden kann. Aber – so wichtig und so nötig das auch sein könnte -, es würde doch vermutlich am Eigentlichen vorbeigehen, das in dem kurzen Satz unserer diesjährigen Jahreslosung drin steckt. Mindestens bin ich daran hängen geblieben. Denn dazu hätte Jesus nicht in die Welt kommen müssen, um uns dazu aufzurufen: „Tut doch auch Gutes!“ Dazu hätte es keinen Apostel als Beauftragten des Christus Jesus gebraucht, damit uns bis heute als Parole für ein ganzes Jahr mitgegeben wird: Lasst euch nicht vom Bösen mitreißen. Sondern löst mit Gutem einen Gegenwind gegen das Böse aus!

Vor allem aber tun wir doch dem Apostel Paulus Unrecht, wenn wir seinen Aufruf so vordergründig deuten. Schließlich hat er doch bekannt – und er hat es offenkundig mit Herzblut mitgeteilt: „Ich weiß, dass in mir nichts Gutes wohnt“ (Römer 7, 18). „Nichts Gutes“ ist zuhause „in meinem Fleisch“, also in dem, was ich leibhaftig bin, wie ich auftrete, wie ich mich gebe, wie man mich wahrnimmt. „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht“ (Römer 7, 18). Wie nur wenige hat Paulus ernst genommen und grundehrlich zugegeben: Grundsätzlich bin ich natürlich – wie wohl alle Menschen – für das Gute. Aber „das Böse“ ist de facto stärker, es überrollt mich einfach (vgl. Römer 7, 18 – 24). Aber damit wollte er sich nicht abfinden, dass das „nun einmal leider immer wieder so ist“. Vielmehr lesen wir eindeutig in den Schluss-Sätzen des Briefes, dem „unsere“ Jahreslosung entnommen ist: „Ich will, dass ihr weise seid zum Guten, aber geschieden vom Bösen“. Und dann geht es erstaunlich weiter: „Der Gott des Friedens aber wird den Satan unter eure Füße treten in Kürze“ (vgl. Römer 16, 20). Das ist’ s! Es braucht eine ganz andere Gegenkraft gegen das Böse als den vermeintlich „guten Willen“ von uns Menschen! Es braucht den „Gott des Friedens“, der alles Böse des Satans überwindet.

Niemand ist gut, als Gott allein. Darauf hat Jesus heilig ernst hingewiesen. Damals, als er sagte: „Bei den Menschen ist’s unmöglich. Aber bei Gott sind alle Dinge möglich“ (Matthäus 18, 20). Das ist ja der Schluss-Satz eines Berichtes, der sehr ungewöhnlich beginnt. Da wird nämlich erzählt: Ein Zeitgenosse, den wir den „reichen Jüngling“ nennen, hatte demütig unter einem ehrerbietigen Kniefall Jesus angesprochen mit der ungewöhnlichen Anrede: „Guter Meister!“ Fast schroff, eigentlich befremdlich kalt hat Jesus das gekontert mit der Feststellung: „Niemand ist gut, als Gott allein“ (Lukas 18, 19).

Mit Gott, in der Kraft Gottes, konnte Jesus alle Gemeinheit abweisen, ja überwinden: alle Gehässigkeiten, alle Versuchungen, alles Verachtet-Werden (vgl. dazu auch Matthäus 11, 25ff). Als der große Spalter, der Satan, Jesus von Gottes Weg abbringen wollte, da sagte Jesus nicht blauäugig: „Des tut m’r doch eta!“ Vielmehr hielt sich Jesus an Gottes Wort. Das zitierte er gegen alle Versuchungen. Denn „vom Wort Gottes lebt der Mensch, nicht vom Brot!“ Und: „Du sollst Gott allein dienen!“ – „Der Vater ist bei mir“ (Johannes 16, 32), in dieser Gewissheit konnte Jesus sagen: „Ich habe die Welt ‚ü b e r w u n d e n’ (Johannes 16, 33)!“ Und als man ihn schließlich verachtet, verhöhnt, geschändet, ans Marterholz gepfählt und aus der menschlichen Gemeinschaft mit Schimpf und Schande ausgestoßen hatte, da überwand er Rache, Hass und Verachtung mit dem Gebet zu Gott: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23, 34)! Der himmlische Vater weiß, was seine Leute brauchen (vgl. Matthäus 6, 32), er weiß es, bevor sie ihn bitten (vgl. Matthäus 6, 8 mit Johannes 11, 42).

Diese „Lektion“ haben die Nachfolger von Jesus gelernt und begriffen. Mit dem „Vater“, der „von Anfang an war“, können Menschen „den Bösen überwinden“ (vgl. 1. Johannes 2, 15 + 16). Darum konnte Johannes sagen: „Alles, was von Gott geboren ist, ‚ü b e r w i n d e t’ (!) die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt ü b e r w u n d e n’ (!) hat“ (1. Johannes 5, 4).

Wir sind eingeladen, hinein zu finden in ein ganz neues ehrfürchtiges Zutrauen zu „Gott, dem frommen Gott, dem Brunnquell guter Gaben, ohn’ den nichts ist, was ist“! Es sind so viele Choräle und Gesangbuchlieder, die ehrfürchtig und zugleich dankbar den „Guten Gott“ preisen: „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte!“ Oder: „Der Herr ist gut. Kein Elend ist so groß, er hat so Kraft als Neigung, uns zu schützen“. Und: „Deiner Güte Morgentau fall auf unser matt’ Gewissen!“ – „Gott ist das Größte, das Schönste und Beste, Gott ist das Süßte und Allergewisste!“ Das ist – so empfinde ich wenigstens – ein etwas anderer Zungenschlag, als wenn es bis weit in die Christenheit geradezu Mode geworden ist, betend Gott anzurufen mit „guter Gott!“ Das ist doch keine „2-plus-Note“, die wir Gott zubilligen. Sondern der „heilige, starke Gott“ ist es, der „allein weise“ (Römer 16, 27) ist, „allein gewaltig“ (vgl. 1. Timotheus 6, 25) und eben auch „allein gut“. Ich möchte darum die Jahreslosung – auch mir selbst zum Trost – so zitieren, dass ich den Wortlaut etwas abändere. Nämlich: „Überwinde das Böse mit d e m Guten!“ Ich bin fest davon überzeugt, dass es der Apostel auch so gemeint hat.

Mit IHM wir wollen’ s wagen – sogar das Böse zu überwinden, mit IHM, dem Gott, der „allein gut ist“.

Amen.

Predigt in Korntal am 1.1.2011 über Röm 12,21
Quelle: www.sermon-online.de