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Richtige Prognosen, falsche Schlüsse: Deutschlands Demographie-Problem

Betrachtet man die Vielzahl der Veröffentlichungen und Meinungsäußerungen zum Thema Demographie, drängt sich der Eindruck auf, daß es in Deutschland kein wichtigeres demographisches Problem gäbe als die Alterung der Gesellschaft. Ein entscheidender Grund dafür war Frank Schirrmachers Bestseller „Das Methusalem-Komplott“. Darin wird die Steigerung der Lebenserwartung als Hauptgrund für die Alterung der Gesellschaft identifiziert, was nicht den Tatsachen entspricht. Denn der Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölkerung wird zum weitaus überwiegenden Teil durch die niedrige Geburtenrate verursacht, durch die sich die Zahl der nachwachsenden Jüngeren ständig verringert, während dem Anstieg der Lebenserwartung nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt.

Die sachlich unrichtige Schwerpunktsetzung in einem der auflagenstärksten Bücher zum Thema Demographie hat große und bleibende Auswirkungen auf die öffentliche Meinung und die Politik. Sie ist möglicherweise auch dafür verantwortlich, daß Schirrmachers Versuch, eine ernsthafte Debatte über das Thema Demographie in Deutschland anzustoßen, ins Leere lief. Noch folgenreicher als das Ausbleiben der angestrebten Debatte ist, daß dieses Buch anscheinend den Blick dafür verstellt hat, daß die niedrige Geburtenrate Deutschlands und nicht die steigende Lebenserwartung die entscheidende Ursache der Alterung, Schrumpfung und aller übrigen demographischen Probleme bildet. Denn wenn in Deutschland die Zahl der Jüngeren im gleichen Maße wie die der Älteren zunähme, bliebe das Durchschnittsalter der Bevölkerung konstant, und es würde niemand die Alterung für das wichtigste Problem halten.

Warum hat Deutschland eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt? Diese Frage stellte die CDU-Fraktion schon 1976 und dann noch einmal 1979 im Rahmen einer „Großen Anfrage“ im Landtag von Nordrhein-Westfalen an die Landesregierung. Der damalige Ministerpräsident Johannes Rau antwortete: Wir kennen die Ursachen der niedrigen Geburtenrate nicht, aber „… wir werden hier in Nordrhein-Westfalen ein Institut für Bevölkerungsforschung errichten und damit das erste Bundesland sein, das eine solche Maßnahme ergreift. Hier ist viel Forschung nötig“ (Plenarprotokoll 8/123 vom 23.1.1980, S. 8326). In den folgenden Jahrzehnten erarbeitete das neu gegründete „Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik“ der Universität Bielefeld zusammen mit weiteren in den 80er und 90er Jahren entstandenen Forschungsinitiativen die Grundlagen für eine wissenschaftliche Erklärung und Prognose der Geburten- und Bevölkerungsentwicklung. Seitdem wissen wir, daß die niedrige Geburtenrate auf der Spaltung der Gesellschaft in zwei Teilgesellschaften beruht, von denen die eine seit Jahrzehnten unverändert die ideale Geburtenrate von durchschnittlich zwei Kindern je Frau hat, während die andere zu einem Viertel bis einem Drittel zeitlebens kinderlos bleibt – mit noch höheren Anteilen bei den beruflich gut qualifizierten Frauen, – so daß der Durchschnitt für beide Teilgesellschaften zusammen weit unter dem idealen Wert bei nur 1,4 liegt.

Normalerweise sind Prognosen umso unsicherer, je weiter der Prognosezeitpunkt in der Zukunft liegt. Bei Bevölkerungsprognosen kann das anders sein: Kurzfristig kann die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung infolge von Einwanderungen stärker von der prognostizierten Entwicklung abweichen als langfristig, denn zum einen gleichen sich positive und negative Abweichungen langfristig stärker aus, zum anderen ist es wie bei den kurzfristigen Wetterschwankungen und dem langfristig stabilen Zyklus der Jahreszeiten: Eine Aussage über die Temperatur in der nächsten Woche kann weniger sicher sein als der vorausgesagte Wechsel der Jahreszeiten in sechs oder 9 Monaten.

Die seit den 80er Jahren mit modernen wissenschaftlichen Methoden  vorausberechnete Bevölkerungsentwicklung zeigt: Deutschland steckt tief in einer demographischen Sackgasse. Welche Schlüsse hat das Land seit der Großen Anfrage im Parlament von Nordrhein-Westfalen aus den demographischen Forschungsergebnissen gezogen? Es wurden keine Initiativen zur Erhöhung der im weltweiten Vergleich extrem niedrigen Geburtenrate ergriffen. Die Begründung aus dem Jahr 1980 war und ist heute immer noch: „Kinder sollen um ihrer selbst willen geboren werden. Wir werden eine aktive Familienpolitik betreiben, ohne jeden Hintergedanken, aber keine Bevölkerungspolitik“ (Plenarprotokoll 8/123, S. 8330). Leider erweisen sich diese schön klingenden Sätze bei genauerem Hinsehen als vollkommen leer. Denn damit die Menschen „um ihrer selbst willen“ zur Welt kommen können, müssen andere Menschen um ihretwillen zur der lebenslangen Verantwortung als Eltern bereit und fähig sein.

Seit Jahrzehnten ignoriert die Bundesrepublik Deutschland die am genauesten prognostizierte Krise ihrer Geschichte. Früher sah man in der demographischen Entwicklung immerhin noch ein Problem, aber seit zehn Jahren hat sich das geändert, jetzt behauptet die Politik gebetsmühlenartig, die Bevölkerungsentwicklung sei überhaupt kein Problem, sondern eine „Chance“. Um mögliche Kritik seitens der Wissenschaft zu erschweren, wurde das 1980 gegründete Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld im Jahr 2004 wieder aufgelöst (zeitgleich mit meiner Emeritierung als Institutsleiter und Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft). Das gleiche geschah mit den beiden anderen Lehrstühlen für Bevölkerungssoziologie an der Universität Bamberg und an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität.

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler startete 2005 in Berlin eine Reihe von Demographie-Konferenzen, auf deren programmatischer Auftaktveranstaltung er die Meinung vertrat, daß die demographischen Probleme Deutschlands in Wahrheit „Lösungen“ für andere Probleme seien. Indem er den Bevölkerungsrückgang in Deutschland als ein Instrument zur Dämpfung des Wachstums der Weltbevölkerung in Erwägung zog, zeigte er, daß die Geburt von Kindern durch die Politik durchaus als Mittel zum Zweck und keineswegs – wie es in dem zitierten Plenarprotokoll heißt – um ihrer selbst willen thematisiert wird. Die frühere Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, stellte das von ihr ausgerufene „Wissenschaftsjahr 2013“ sogar unter das Motto „Die demographische Chance“. Nach dieser Logik war das Flächenbombardement deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg keine Katastrophe, sondern eine „Chance“ für den Wiederaufbau.

Der so genannte „demographische Wandel“ wird von Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien als eine Gelegenheit für die Modernisierung des Landes und für die Umgestaltung Deutschlands zu einer „demographiefesten“ Gesellschaft geradezu enthusiastisch begrüßt. Aber eine demographiefeste Gesellschaft anzustreben wäre genauso absurd und unmöglich wie das Ziel, eine gegen Mathematik resistente Welt zu erschaffen. Jedes Jahr wird deutlicher, wie vielfältig die Auswirkungen des demographischen Niedergangs sind. Viele mag es überraschen, aber auch die Wurzeln der Finanz- und Eurokrise liegen in der demographischen Entwicklung der europäischen Länder. So verweigerten die Banken beim Ausbruch der Euro-Krise die Kreditvergabe an Griechenland mit der Begründung, das griechische Rentensystem sei wegen der niedrigen Geburtenrate nicht sanierbar. Auch in Deutschland wird der wachsende Mittelbedarf der gesetzlichen Renten,- Kranken,- und Pflegeversicherung durch Zuschüsse zu Lasten künftiger Generationen finanziert. Bereits ein Drittel der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung muß durch Zuschüsse bestritten werden – Tendenz steigend. Von wem sollen die Schulden zurückgezahlt werden?

Seit Jahrzehnten kommen immer weniger Kinder zur Welt, die die Lasten als Steuerzahler, Beitragszahler oder Schuldentilger tragen könnten. Die Nicht-Geborenen können keine Kinder und diese keine Enkel zur Welt bringen usf. – der Prognosefehler dieser Aussage ist gleich Null. So entwickelte sich ein Dominoeffekt der Schrumpfung, durch den die Zahl der 20 bis 60 jährigen, das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts selbst bei weiterhin hohen Einwanderungen jüngerer Menschen um 16 Millionen abnehmen wird. Gleichzeitig nimmt die Gruppe der zu versorgenden über 60jährigen um 10 Millionen zu. An diesen Megatrends können die momentanen Zuwächse bei den Einwanderungen aus den süd- und osteuropäischen Ländern, die ja nur in der Größenordnung von wenigen Hunderttausend liegen, nichts Entscheidendes ändern, zumal auch das Reservoir an potentiellen Zuwanderern in den Herkunftsländern schrumpft.

Trotz der Produktivitätssteigerungen der deutschen Volkswirtschaft nimmt die jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts ab, sie ist infolge der demographischen Schrumpfung seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts von damals 4,4 auf jährlich 1,0 Prozent gesunken. Für die Zukunft ist aus demographischen Gründen mit einem noch schwächeren Wirtschaftswachstum zu rechnen. Die zu erwartenden Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts reichen nicht aus, um den Wohlstand angesichts steigender Versorgungslasten für die alternde Gesellschaft zu sichern oder zu mehren. Die Entlastung durch die schrumpfende Zahl der zu versorgenden Kinder und Jugendlichen wirkt sich weit weniger aus.

Wer versorgt in Zukunft die wachsende Zahl der Menschen ohne Kinder im Alter, bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit? Die Beiträge zur Gesetzlichen Renten,- und Krankenversicherung (vor der Reform auch die Beiträge zur Gesetzlichen Pflegeversicherung) werden noch im Jahr der Einzahlung ganz an die Versorgungsberechtigten ausbezahlt, sie stehen für die eigene Versorgung der Beitragszahler im Ruhestand nicht zur Verfügung. Ohne eine ausreichende Zahl nachwachsender Beitragszahler entsteht bei ihrer eigenen Versorgung ein Verteilungsproblem zwischen Menschen mit Kindern und Menschen ohne Kinder, denn jeder Mensch hat Eltern, aber nicht jeder Kinder. Das Bundesverfassungsgericht hat im so genannten Trümmerfrauenurteil und im Urteil zur Pflegeversicherung eine Beendigung der Ungerechtigkeit gegenüber den Familien mit Kindern gefordert. Die mit demographischen Fakten begründeten Urteile wurden nicht umgesetzt und von der Politik schlicht ignoriert. Was die Behandlung des Bundesverfassungsgerichts und der Familien mit Kindern betrifft, ist Deutschland kein Rechtsstaat.

Prof. Dr. Herwig Birg, Berlin

Bei diesem Aufsatz handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung des Vorworts zum neuen Buch von Herwig Birg, „Die alternde Republik und das Versagen der Politik – eine demographische Prognose“, erschienen im LIT-Verlag, Berlin.

Quelle: Aufsatz des Monats 12/ 2014, Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (www.i-daf.org [1])