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„Das sind Phänomene der Dekadenz“

Donnerstag 13. November 2014 von factum


factum

Die Sexualisierung des Unterrichts führt zu Verlust an Selbstachtung und Identität bei den Schülern. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, über Wertevermittlung an den Schulen.

factum: Anfang des Jahres löste der neue baden-württembergische Bildungsplan 2015 für die allgemeinbildenden Schulen wegen der geplanten fächerübergreifenden Einführung der «sexuellen Vielfalt» grosse Diskussionen aus. Wie bewerten Sie diesen Bildungsplan?

Josef Kraus: Ich halte den neuen Bildungsplan für problematisch, auch wenn man die Formulierungen nun aus taktischen Gründen herunterstuft. Gerade im Bereich Sexualerziehung ist das Elternrecht meiner Ansicht nach herausragendes Recht. Man sieht an den vielen Protesten und Einsprüchen, dass viele Eltern nicht einverstanden sind. Da müssen die Schulen mit mehr Sensibilität vorgehen. Es war ja nicht so, dass Homosexualität oder Toleranz bisher nicht im Unterricht behandelt worden wären. Aber dieser neue Bildungsplan hat eine einseitige, schier monomanische Ausrichtung, mit der alternative sexuelle Orientierungen zum Leitprinzip erhoben werden.

factum: Nach heftigen Protesten und einer Petition mit fast 200 000 Unterschriften kündigte die Landesregierung im Frühjahr an, den Plan zu überarbeiten. Im Kern bleibt es jedoch beim Vorhaben. Wie ist der Stand der Dinge?

Kraus: Mir ist noch nichts von einem neuen Entwurf bekannt. Ich befürchte, dass die Landesregierung das Thema aussitzen will.

factum: Immer wieder gibt es Elternproteste gegen einen zu offensiven Sexualkundeunterricht. Ein pädagogisches Standardwerk, das von den grossen sexualwissenschaftlichen Institutionen empfohlen wird («Sexualpädagogik der Vielfalt» Verlag Beltz/Juventa), hat gar als Lernziel verankert, Heterosexualität infrage zu stellen. In dem Buch kommt die Kleinfamilie teilweise gar nicht mehr vor. Es wird bewusst alles infrage gestellt.

Kraus: Was heute teilweise an alternativen Lebensformen propagiert wird, kollidiert mit dem Grundgesetz. Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Überhaupt habe ich bei der quasimodernen schulischen Sexualkunde grosse Bedenken. Wie das Ganze in der Praxis umgesetzt aussieht, kann man in Berlin verfolgen. Dort gibt es pädagogische Empfehlungen für Lehrer, dass sich zum Beispiel Jungen in Rollenspielen vorstellen sollen, sie hätten eine Vagina, und Mädchen, sie hätten ein Glied. Sie sollen offenbar davon abgebracht werden, das biologische Geschlecht als Teil ihrer Identität zu empfinden. Weiterhin sollen Jungen Rollenspiele machen, wie es wäre, wenn sie sich zu Hause bei ihren Eltern als homosexuell outen würden. Ich wundere mich, dass es dazu in Berlin keine Proteste gibt. In Baden-Württemberg erhoffe ich mir von den Kirchen zu diesen Themen klare Worte. Sie haben sich ja auch nach einem gewissen Zögern zu dem Bildungsplanentwurf geäussert.

factum: Wenn Kinder in der Schule gedrängt werden, ihre sexuelle Orientierung infrage zu stellen: Verwirrt es sie dann nicht nur noch mehr in ihrer Identitätsfindung? Welche Rolle sollte die Schule dabei überhaupt spielen?

Kraus: Spätestens mit dem neunten, zehnten Lebensjahr stellt sich die Frage: Wer bin ich? Heranwachsende ziehen sich dann oft Vorbilder aus den Medien heran. Auch im Internet findet sie alles, was es auf der Welt an unterschiedlichsten Modellen gibt. Das bedeutet je doch nicht, dass die Schule dahinter als staatliches Angebot herhecheln muss. Die Schule soll einen Orientierungsrahmen geben, der durchaus einen Kontrast darstellt zur Beliebigkeit medial vermittelter Modelle.

factum: Was für ein Ansatz und Menschenbild stecken hinter der neuen Sexual-Pädagogik?

Kraus: Dahinter steckt eine Gender-Ideologie, die davon ausgeht, dass der Mensch erst durch die Gesellschaft zu Mann oder Frau gemacht wird und nicht als Mann oder Frau geboren wird. Das vereinigt sich mit der Ideologie des Dekonstruktivismus. Das ist eine Theorie, beziehungsweise eine Ideologie, derzufolge alle Konventionen zertrümmert werden müssen, weil sie ja angeblich nur gesellschaftliche Konstrukte sind und sich jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit konstruiert. Der abendländische Wertekosmos soll so ausser Kraft gesetzt werden und mit ihm alle Orientierung. Alles soll egalisiert werden. Für mich sind diese Ansätze Dekadenz-Phänomene. Sie beginnen häufig mit einem Verlust von Identität und Selbstachtung.

factum: Wie sollen sich Eltern in Bezug auf Sexualkundeunterricht verhalten?

Kraus: Ich kann den Eltern nur zwei Empfehlungen geben. Zunächst sollten sie sich schlau machen, wie die Schule ihrer Kinder die Sexualerziehung vermittelt. Man kann zu Beginn des Schuljahres eine Elternversammlung verlangen, in der erzählt wird, wie Lehrer Sexualkunde im Unterricht konkret umsetzen. Und man kann sich das Anschauungsmaterial zeigen lassen. Originalfotos würde ich ablehnen und auf modellhaften Bildern bestehen. In Bayern zum Beispiel sind die Schulen verpflichtet, die Eltern zu informieren, wie der Sexualkundeunterricht abläuft.

Wenn der Unterricht den Vorstellungen der Eltern widerspricht, empfehle ich, öffentlich und in den Schulen zu protestieren. Dann werden vielleicht übermotivierte Schulen etwas vorsichtiger. Zweitens empfehle ich, dem schulischen Sexualkundeunterricht zu Hause zuvorzukommen. Eltern können ihre Kinder mit ihren eigenen Wertvorstellungen so prägen, dass sie mit dem, was auf sie schulisch niederprasselt, leichter umgehen können. Es gibt auch Eltern, die ihre Kinder bei den Schulämtern von diesen Unterrichtssequenzen befreien lassen. Allerdings halte ich dies für nicht unproblematisch.

factum: Wie viel Einfluss können Sie als Präsident des Deutschen Lehrerverbandes auf die Bildungs-Politik nehmen?

Kraus: Wir vom Deutschen Lehrerverband machen uns über unsere vier Bundes- und deren insgesamt 64 Landesverbände politisch und öffentlich stark. Dadurch nehmen wir auf der Basis von 160 000 Mitgliedern Einfluss auf die öffentliche und auf die politische Meinungsbildung.

factum: In Bundesländern wie Berlin und Brandenburg ist Religionsunterricht gänzlich durch das Fach Ethik ersetzt worden, in den meisten anderen Ländern ist der konfessionell ausgerichtete Religionsunterricht reguläres Unterrichtsfach, an dessen Stelle als Ersatzpflichtfach Ethik gewählt werden kann. Was halten Sie von diesen Regelungen?

Kraus: Ich bin ein Befürworter des herkömmlichen, konfessionell gebundenen Religionsunterrichts und halte einen Misch-Masch wie etwa «LER» (Lebenskunde-Ethik-Religionen) für bedenklich, weil LER ein Sammelsurium an Oberflächlichkeiten und Beliebigkeiten ist. Im Übrigen werden auch im Religionsunterricht grundlegende ethische Fragen intensiv angesprochen, und es wird ein Überblick über Weltreligionen vermittelt. Wo heute die Orientierungslosigkeit um sich greift, hat der konfessionell gebundene Religionsunterricht eine grosse Bedeutung für Persönlichkeitsbildung und Werteorientierung. Religionsunterricht ist übrigens das einzige Unterrichtsfach, das im Grundgesetz verankert ist.

factum: Mit einer Ausnahme …

Kraus: Eine Ausnahme bildet die «Bremer Klausel». Die Länder, die vor Verabschiedung des Grundgesetzes eine andere Regelung hatten, wie Bremen, durften diese behalten. Die Bremer Klausel übernahmen dann mit der Wiedervereinigung 1990 die neuen Bundes-Länder.

factum: Welche Inhalte kommen im schulischen Unterricht zu kurz?

Kraus: Es kommt mir in den Schulen zu wenig rüber, dass das, was unsere Bürger- und Menschenrechte ausmacht, letztendlich seine Wurzeln in Antike und Christentum hat. Das wird häufig übersehen. Die Behauptung von Atheisten, die Bürger- und Menschenrechte hätten als Wurzeln Humanismus und Aufklärung und nicht das Christentum, ist falsch. Humanismus und Aufklärung wären ohne das Christentum gar nicht denkbar.

factum: Welche Rolle spielt der Religionsunterricht konkret bei der Sinnfindung eines Kindes?

Kraus: Ab dem Grundschulalter fragen Kinder nach dem Warum: Woher komme ich, wohin gehe ich? Da sind natürlich die Eltern zu Hause gefragt. Aber da immer mehr Eltern «religiös unmusikalisch» sind und Beliebigkeit vermitteln, geht vielen Kindern eine wichtige Prägung zu Hause verloren. An dieser Stelle kann dann der Religionsunterricht den Kindern etwas Wichtiges mitgeben. Es wird nach Gott gefragt, nach der Menschenwürde, dem Sinn des Lebens, der eigenen Herkunft und dem Verhältnis zu anderen Religionen.

factum: Sie haben ein Buch mit dem Titel «Helikopter-Eltern» geschrieben und äussern darin Ihre Befürchtung, dass Eltern durch Überbehütung ihre Kinder zu unmündigen Erwachsenen erziehen. Welchen Mittelweg empfehlen Sie Eltern?

Kraus: Ein berühmter deutscher Pädagoge, Theodor Litt (1880–1962), sagte: «Erziehen ist zugleich Führen und Wachsenlassen.» Wenn Eltern nur alles geschehen lassen, fehlt es den Kindern am Ende an Orientierung. Wenn Eltern nur führen, lässt das keine Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit aufkommen. Heutzutage haben sich viele Eltern von vermeintlich kompetenter Seite leider einreden lassen, dass man die Zukunft der Kinder fest in den Griff nehmen müsse. Die Folgen sind zu viel Kontrolle, sind Eltern, die ihre Kinder an der elektronischen Nabelschnur des Mobiltelefons mit Satellitenortung durchs Leben begleiten.

Man muss den Kindern mehr zutrauen, aber auch mehr zumuten. Auf der anderen Seite gibt es natürlich Eltern, die sich fast gar nicht für ihren Nachwuchs interessieren. Die Schere zwischen diesen zwei Extremen ist heute viel grösser als früher.

factum: Eltern sind heute auch viel besorgter als früher, dass ihrem Kind etwas zustossen könnte.

Kraus: Diese Ängste halte ich für irrational. Die Zahl der Verkehrsunfälle hat sich in den letzten 40 Jahren um den Divisor fünf verkleinert. Die Zahl der Kindesentführungen hat nicht zugenommen. Durch die öffentliche Debatte von Missbrauchsfällen ist eine Phobie geschürt worden. Natürlich ist jeder Unglücksfall einer zu viel. Bei der übertriebenen Sorge um das Kind spielt sicher auch der Trend zur Einkind-Familie eine Rolle. Da konzentrieren sich noch mehr Aufmerksamkeit und Förderwahn auf das eine Kind.

factum: In Deutschland wurde das «Turbo-Abitur», der Weg zum Abitur in acht statt neun Jahren (G8), eingeführt. Sie halten das für einen Fehler?

Kraus: Ja, aber nicht, weil ich das G8 mit zu viel Stress verbunden sehe, sondern aus zwei anderen Gründen: Es ist anspruchsloser, was das Niveau betrifft. Zweitens sind unsere Abiturienten beim Verlassen der Schule weniger reif. Bei 17- oder 18-Jährigen macht dieses eine Jahr Lebensalter sehr viel aus. Deshalb würde ich mir das neunjährige Gymnasium (G9) zurückwünschen. Dabei würde ich die Zahl der Unterrichtsstunden erhöhen, um den Stoff zu vertiefen. Das ist gerade für schwächere Schüler wichtig. Noch mehr Unterricht zu streichen als beim G8, halte ich für falsch. Ich widerspreche der Behauptung, dass die G8-Bilanzen gut sind. Die Noten sind nur besser durch eine Politik der Liberalisierung der Leistungsanforderungen.

factum: Bekommen Schüler zu leicht gute Noten?

Kraus: Leider betreibt moderne Schulpolitik immer mehr Gefälligkeits- und Erleichterungspädagogik. Am Ende sind alle auch noch zufrieden: Die Politik, weil sie schöne Bilanzen vorzuweisen hat, die Eltern und die Schüler, weil es nur noch Bestnoten gibt. Tatsächlich aber betrügt man damit die jungen Leute. Denn wenn Zeugnisse zu ungedeckten Schecks werden, sind sie wertlos.

factum: Sie treten für ein differenziertes Schulwesen mit Gymnasium, Realschule und Hauptschule beziehungsweise Werkrealschule ein. Was ist falsch an der Vereinheitlichung der Schulen zur Gesamtschule?

Kraus: Schule soll kein Ort zur Herstellung von Gleichheit sein, sondern der Förderung der Individualität dienen. Nichts ist so ungerecht wie die gleiche Behandlung von Ungleichheit. Alle Blütenträume an Gesamtschulen von so genannter innerer Differenzierung und der Vorstellung, Heterogenität an ein und derselben Schule optimal fördern zu können, sind gescheitert. Die Gesamtschule hat Jahrzehnte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich – trotz überdurchschnittlicher Personal- und Sachausstattung.

factum: Aber der Trend zu mehr Gesamtschulen und auch Ganztagsschulen setzt sich überall durch.

Kraus: Wir müssen Gesamtschule und Ganztagsschule auseinanderhalten. Auch Realschulen oder Gymnasien gibt es in Ganztagsform. Zur Gesamtschule habe ich das Entscheidende gesagt. Kita und Ganztagsschulen sind für mich Symptome der fortschreitenden Verstaatlichung und Kollektivierung von Erziehung. Ich beobachte eher mit Skepsis, dass sich Eltern aus Bequemlichkeit immer mehr aus der Verantwortung stehlen und ihre Erziehungsaufgaben an die Schule delegieren. Die Pflege und Erziehung von Kindern ist aber laut Grundgesetz Pflicht und Recht der Eltern. Nur wenn Eltern sich wirklich nicht um ihren Nachwuchs kümmern, ist es die Pflicht des Gemeinwesens, kompensierend einzugreifen. Aber deshalb sollen nicht alle Kinder zunehmend vom Staat zwangsbeglückt werden.

factum: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Interview: Bettina Hahne-Waldscheck

Kraus3Josef Kraus (geboren 1949) ist seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er studierte Deutsch und Sport für das Lehramt an Gymnasien und erwarb ausserdem ein Diplom in Psychologie. Ab 1980 unterrichtete er 15 Jahre als Gymnasiallehrer in Landshut und war als Schulpsychologe für den Regierungsbezirk Niederbayern zuständig. Seit Februar 1995 ist er als Schulleiter am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg bei Landshut tätig. Kraus war von 1990 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung des Verteidigungsministers. 1993 bis 1996 war er Beisitzer in der Bundesprüfungsstelle für jugendgefährdende Medien. 2008 wurde Josef Kraus mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Er verfasste mehrere Bücher, in denen er Mängel des deutschen Schul- und Bildungssystems kritisiert: «Spasspädagogik – Sackgassen deutscher Schulpolitik» (1998), «Der PISA-Schwindel» (2005) und «Ist die Bildung noch zu retten? Eine Streitschrift» (2009). 2013 erschien im Rowohlt-Verlag sein Buch: «Helikopter-Eltern – Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung» (inzwischen in der vierten Auflage sowie in einer Übersetzung ins Koreanische)

Quelle: factum, Ausgabe 7/2014

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 13. November 2014 um 19:38 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Sexualethik.