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Dieses Spiel ist aus.

Über das verdrängte Sterben der EKD-Kirchenwelt

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe die Landeskirchen oder die EKD selbst ihre Strategiepapiere wie die „Kirche der Freiheit“ von 2006 als Erfolgskonzept verkaufen. Was damit gewollt wird, ist kaum unklar: die EKD als privilegierten Träger der „öffentlichen Religion“ auszubauen. Nichts stört dieses Wollen: weder die erwiesene Untauglichkeit betriebswirtschaftlicher Methoden zur „Steigerung von Effektivität und Effizienz kirchlichen Handelns“ noch der Nonsens der Idee, die Kirche als eine Non-Profit-Organisation zu behandeln, die selbst immer vor der Notwendigkeit steht, „zu ihren Kunden/Klienten/Anspruchsgruppen ein ausreichendes Maß an Distanz zu wahren“[1] [1]. Christoph Meyns referiert richtig: All dies „kann die Eigenlogik religiöser und interaktionsförmiger Kommunikation und deren Bedeutung für Gestalt und Grenzen organisationsförmiger Kommunikationsprozesse nicht erfassen“[2] [2].

1.   Der Gestaltgewinn des Öffentlichkeitsanspruchs der EKD

Dass nun die gesamte „neue Ekklesiologie“ der EKD mit „der Eigenlogik religiöser Kommunikation“ nicht mehr kompatibel ist, mit der sie als „öffentliche Religion“ „die politische Verantwortung“ wahrnimmt und ihren institutionellen Auftritt entsprechend eingerichtet hat, wird nicht zugegeben. Doch ihr „Öffentlichkeitsanspruch“ ist nur Fortführung der Intention hunderter kirchlicher Worte und Denkschriften seit 1945, die in der genauen Absicht der „Ineinssetzung von kirchlichen Äußerungen zur Politik und deren politischem Wahrheitsgehalt“[3] [3] stattfanden. Sie haben eine imperative Grundhaltung bei den kirchlichen Sprechern geformt, die den „status confessionis“ auszurufen immer bereit ist. Selbst geistige Leuchttürme der Theologie wie Gerhard Ebeling scheuen sich nicht, wie Hans Albert in seiner lehrreichen Analyse von Ebelings „theologischer Pinselführung“ gezeigt hat, „um eine vorteilhafte Position für theologisches Denken zu erreichen“ ein Erkenntnisprivileg zu beanspruchen, dessen willkürliche Begründung nur peinlich genannt werden kann[4] [4]. Auch Ebeling muss, um seinen Anspruch zu schützen, sich in die bekannte „habituelle Mogelei der Theologen“[5] [5] flüchten: „Wo sachliche Argumente fehlen, arbeitet er mit Anspielungen und Andeutungen, die ohne jede Substanz sind“[6] [6].

Ebenso erstaunlich ist, wie es den in der EKD-Gremienwelt „eingebetteten“ Theologen gelingt, diesen politischen Habitus der EKD harmlos zu stellen. Ein aktuelles Beispiel dafür liefert der Ökumeniker an der Münchener Evangelisch Theologischen Fakultät Gunther Wenz in seinem letzten Aufsatz über „VELKD, UEK und EKD. Zum Modell ihrer Verbindung“[7] [7]. Wenz reduziert die ekklesiologischen Verschiedenheiten zwischen Lutheranern und ihren theologischen Antipoden innerhalb der EKD auf Auslegungsfragen der CA, die doch bitte in die Therapie einer theologischen Einheitlichkeit zu überführen sind. Wenz überspielt damit den kategorialen Konflikt zwischen lutherischem „Splitting“ und (reformiertem) EKD-Monismus, der nicht aufgelöst werden kann, wie es der US-Lutheraner Frank Senn auf den ultimativen Begriff bringt: „Lutherans are natural splitters“ [8] [8]. Es ist dieses lutherische „Splitting“, das alles Tun in Kirche und Gesellschaft von vornherein in eine, wie es Hanns Rückert einmal genannt hat, „zweipolig strukturierte“[9] [9] und damit prinzipiell offene Ordnung bringt. Diese Offenheit ist durch das politische Engagement der EKD seit 1945 ebenso ultimativ ersetzt durch einen politischen Verlautbarungs-Autoritarismus, der, wie Rückert richtig beklagt, seit den 1960er Jahren erreicht hat, „die Autorität des geistlichen Amtes noch höher über die Gemeinde hinauszuheben, als sie bei uns schon sowieso gerutscht ist“[10] [10].

Anders als Wenz war Wolfgang Huber hier noch ehrlicher: Es sind „einfach zwei feindliche Spielarten des Protestantismus, die an diesem Thema aufeinanderstoßen“[11] [11]. Doch was hier heute noch streitet, liefert nur Nachhutgefechte zu einer verlorenen Schlacht, die das Versagen der VELKD-Mandatare verbergen sollen. Niemand in der VELKD hindert heute noch EKD-Granden daran, als autoritative Träger der „Meinung der Kirche“ mit einem monopolistischen Wahrheitsverständnis unterwegs zu sein. Und auch innerhalb der Lutheraner gibt es, wie Frank Senn sagt, „Splitter and Lumper“, und das letztere inzwischen mehrheitlich. Auch in der VELKD haben die politischen Theologen die Systemherrschaft errungen, die „die Umwandlung der Kirche zur sakralpolitischen Erziehungsanstalt“ betreiben[12] [12], was die „neue Ekklesiologie der EKD sehr treffend charakterisiert. Was hier „kirchliche Verkündigung“ sein soll, hat den Charakter göttlich beglaubigter Information und Weisung: „Denn mit dem ‚Wort‘ wird zugleich immer auch die ‚Antwort‘ verpflichtend abgekündigt“[13] [13], die „die Identität des Themas zwischen Kirche und Welt“ illustriert und „die Einheit der Weltgesellschaft“ beschwört. Was sie dabei freilich bekunden ist „die tiefste Verschiedenheit“ gegenüber jedem lutherischen „Splitting“[14] [14], das „Selbstrelativierung aus Prinzip“ (Eilert Herms) betreibt.

Umfassend hat sich so innerhalb der EKD-Kirchenwelt ein neuer christlicher Totalitarismus etabliert, der Politik und Theologie, Religion und Gesellschaftssteuerung in einem sein will. Galt früher, wie Trutz Rendtorff erinnert: „Die Kirche kann sich kein äußeres Recht, kein erzwingbares Recht über die Menschen anmaßen, sondern das Recht, das ihr zukommt, stammt aus der inneren Übereinstimmung zwischen ihr und den Gläubigen, die allein durch den Inhalt der Religion, nicht erst durch die kirchliche Autorität gewährleistet ist“[15] [15], so ist heute das Wort von der Bühne der EKD intellektuell anfechtungslos „wahr“, weil ja „Kirchenleitung selbst immer durch das Wort geleitet“ ist, so der Kieler Bischof Gerhard Ulrich oder EKD-Vizepräsident Thies Gundlach am 21. November 2011: „Dadurch, dass Kirchenleitung durch Wahrheit und Klarheit provoziere, setze sie in geradezu klassischer Weise ‚Leitung durch das Wort‘ um“[16] [16]. Solche erhaben gestanzte Selbstinvestitur in die Rolle des gesellschaftlichen Wahrheitsgebers, der für die „Humanisierung der menschlichen Existenz zu sorgen“[17] [17] hat, bedarf dann natürlich keiner Bestätigung mehr „von unten“. Auf diese Weise wird ein System gefördert, „das die Gefahr einer ‚theologischen Diktatur‘ nach sich zieht, ‚die das Geschichtliche unserer Religion auflöst und die Gewissen anderer mit der eigenen Erfahrung zu foltern sucht“[18] [18], wie Rendtorff den hundert Jahre älteren Harnack treffend zitiert.

Man muss Gunther Wenz zugeben: jede innerkirchliche Opposition ist chancenlos. Die dichte Vernetzung mit der politischen Klasse macht die EKD zu einem unangreifbaren politischen Faktor. Aber dies will Wenz dann auch wieder nicht verteidigen müssen und leugnet „den kirchenoffiziellen Einfluss auf den bundesrepublikanischen Staat“[19] [19], der freilich in fast jeder politischen Erklärung der EKD mit Händen zu greifen ist, wo regelmäßig gefordert wird: „wir müssen…“ oder „es muss…“. Wenz stellt die Selbstinvestitur der EKD in die Rolle des politischen „Bewährungshelfers der Deutschen“ (sic!) mit der ja doch ganz gewiss hochpolitischen Stuttgarter Schulderklärung vom 18. Oktober 1945 (die inzwischen ja auch schon auf der EKD-Homepage den Rang eines kirchlichen Bekenntnisses erhalten hat) als eine unpolitische Tat dar: ein fataler Irrtum oder eine absichtliche Täuschung, die diese und alle weiteren, die politische Entwicklung Deutschlands schicksalhaft prägenden politischen Sollaussagen der EKD-Elite unkritisch stellt. Man muss nur die Jahrgänge der epd-Zentralausgabe und epd-Dokumentationen zur Hand nehmen, die oft bis zur Hälfte und mehr aus politischen Deklarationen und Direktiven bestehen, um ermessen zu können, wie hier immer wieder eine bestimmte politische Entscheidungslage erzwungen werden soll. Wenn Gunther Wenz behauptet: „Die Rolle transsäkularer Weisungsgeber, die er [hier gemeint: Ziegert] protestantischen Kirchenfürsten zudenkt, ist in einer parlamentarischen Demokratie ebenso wenig vorgesehen wie ein politisches Wächteramt, sei es der evangelischen oder der katholischen Kirche“[20] [20], so hat er die Feststellung seines Fakultätskollegen Friedrich Wilhelm Graf verdrängt, der an eben diese Rolle der EKD-Granden als politische Weisungsgeber erinnert hat, die zwar in der Verfassung „nicht vorgesehen“, wohl aber seit dem „Loccumer Vertrag“ von 1955 in allen Staatskirchenverträgen „erlaubt“ bis „gewünscht“ wird. „Kaum eine relevante politische Debatte in Deutschland bleibt ohne die Interventionen führender Kleriker, die ein ‚Wächteramt‘ gegenüber Staat und Gesellschaft in Anspruch nehmen und sich, wie sie dies gerne nennen, fortwährend ins Politische ‚einmischen‘ – von der Sozialpolitik und hier speziell Familienpolitik bis hin zur Biopolitik oder zur Frage, ob denn die Bundeswehr auch bewaffnete Aufklärungsdrohnen kaufen und gegebenenfalls einsetzen soll“[21] [21]. Auch die Historikerin Rebekka Habermas hat dies 2010 auf dem Berliner Historikertag offen ausgesprochen: „Der Protestantismus hat die Position des neutralen und objektiven Wächters über den öffentlichen Raum okkupiert und den Katholizismus wie das orthodoxe Judentum einer vormodernen Sphäre des Aberglaubens zugeschlagen“[22] [22].

Dass für diese „Okkupation der Politik“ die Stuttgarter Schuld-Erklärung des Rates der EKD vom 18. Oktober 1945 die Weichen gestellt hat „als seine erste öffentliche Handlung“ und damit auch als idealtypischer „Ausdruck der politischen Verantwortung der Kirche“[23] [23] und Prägestempel der „neuen Ekklesiologie“ gelten muss, leugnet Wenz[24] [24] gegen eine erdrückende Beweislage. Er ist in dieser Haltung leider keine Ausnahme: Die gewollte Wandlung der EKD zur politischen Macht-Kirche ab 1945, die der Hamburger Theologe Erwin Gross schon 1949 im Deutschen Pfarrerblatt umfänglich kritisierte[25] [25], ist kein Thema der akademischen Theologie. Auch ein liberaler Theologe wie Hartmut Ruddies nennt diese politische Schlagseite verharmlosend „eine ererbte Neigung zu theologisch motivierten politischen Übersprungshandlungen, weil das religiös ethische Interesse an ‚absoluten‘ Lebensorientierungen in den pluralistischen Demokratien nun einmal nur gebrochen befriedigt werden kann“: Ruddies meint, dass der gesellschaftliche Pluralismus auch die „theologisch motivierte Politikauffassung“ der EKD abmildern würde [26] [26]. Doch wo gibt es gar in der Kirche noch einen echten „Pluralismus“? Dazu kommt, dass hier das große Problem der Zuordnung von Einheit und Vielfalt so schlicht, wie dies Ruddies vorführt, nicht behandelt werden kann. Auch Ruddies schweigt zum Ajatollah-Stil der kirchlichen Akteure, die „nicht nach den Grundsätzen der pluralistischen Gesellschaft“, sondern „im Namen Gottes“ die Öffentlichkeit glauben machen wollen, dass ihr hochgezontes moralpolitisches Reden der wahre religiöse Auftrag der Kirche sei, wie es klassisch im Jahre 1966 der EKD-Ratsvorsitzende und Berliner Bischof Kurt Scharf vorspricht: „Wir sprechen nicht im Namen der Christen … wenn die Kirche zu Fragen des öffentlichen Lebens redet, zu kulturellen, zu moralischen oder gar zu politischen oder zu sozialen Fragen, dann … nicht im Auftrag einer Mehrheit, nicht nach den Grundsätzen der pluralistischen Gesellschaft, sondern um des Auftrags willen, den sie vom Herrn hat. Wir reden viel anspruchsvoller: wir reden im Namen Gottes“[27] [27].

Fast alle EKD-Theologen akzeptieren die Rolle der Kirchenführer als privilegierte Mitspieler des politischen Souveräns, wie es einst in Byzanz und in Moskau die Symbiose von Kirche und Staat vorgeführt hat. Wie dieses religiös-politische Spiel mit verteilten Rollen funktioniert hat Emanuel Sarkisyanz 1955 in seiner heute noch lieferbaren Darstellung „Russland und der Messianismus des Orients. Sendungsbewusstsein und politischer Chiliasmus des Ostens“ vorgeführt: wie mit dem Anspruch der Kirchenelite auf politische Ehren wie auf der Bühne des Magiers ständig die Seiten gewechselt werden müssen – ein systemischer Täuschungszwang, dem eine politisierte Kirche wie die EKD nicht mehr entrinnt. Es hat eben seinen Preis, wenn Kirche und Staat im politischen Moralismus gemeinsam werden: nicht nur in den USA, wo gilt: „Civil religion is unquestionably the most powerful religion in America“[28] [28], sondern auch hier, wo die den politischen Mainstream mitregierenden EKD-Theologen nicht nur die Stuttgarter Schulderklärung und ihre späteren Nachrüstungen, sondern eben auch Jürgen Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ von 1964 inhaliert haben, die „von vornherein Gott in der Welt, das Jenseitige im Diesseits, das Universale im Konkreten und das Eschatologische im Geschichtlichen begreifen“[29] [29] will. Ihr Dogma gilt in der EKD immer noch: „Für den Theologen geht es nicht darum, die Welt, die Geschichte und das Menschsein nur anders zu interpretieren, sondern sie in der Erwartung göttlicher Veränderung zu verändern[30] [30]. Und so war Moltmanns pathetischer Weltgestaltungsanspruch die geistige Messlatte, an der Generationen von Jungtheologen ihren Lebensauftrag abgelesen haben. Die „Theologie der Hoffnung“ ist nicht nur die Bibel des Linksprotestantismus, sondern auch bis 2005 in 14 Auflagen das meist gedruckte und in viele Sprachen übersetzte politisch-theologische Buch unserer Zeit.

2.   Der neue Glaube der EKD

Dass in der EKD weithin eine Ab-Wendung von der religiösen Aufgabe erfolgt ist, zeigt sich am seit Jahrzehnten unaufhörlich wachsenden kirchlichen Apparat, dessen Ausgaben für Leitung und Verwaltung z.B. auch in der Bayrischen Muster-Landeskirche „im Haushaltsjahr 2014 bei der kalkulierten Steigerung der Kirchensteuereinnahmen von 5,5 % um 10 % steigen, während bei den Ausgaben, die auf die Konten der Gemeinden fließen, das Plus bei gerade mal 0,66 % liegt“[31] [31]. Was hier vor sich geht, ist ein „beachtlicher Umbauprozess“[32] [32], der in der Praxis der Durchsetzung der „Reformen“ einfach zu verschleiern ist: „Man diskutiert die Papiere im Detail und übersieht den Geist, übersieht den fundamentalen Wechsel der Perspektive und schon hat man die neue eingenommen“[33] [33]. Man muss nur für die schon lange mit Änderungen der Kirchenverfassung, des Pfarrerdienstrechts, der Einstellungs-und Stellenbesetzungspolitik, der Pfarrbesoldung und der Finanzausstattung der Kirchengemeinden weich geklopfte Pfarrerschaft ein paar Arbeitserleichterungen einbauen und schon wird alles geschluckt, was zu den neuen Prinzipien gehört: Ein vor dem Satteljahr 1960[34] [34] undenkbarer Vorrang der Kirchenverwaltung vor dem Gemeinde-Pfarrdienst und so gesehen auch ein neues Kirchenverständnis, das die Pfarrerschaft zu einem der Landeskirche direkt unterstellten religiösen Dienstleister macht[35] [35]. Der Finanzchef der EKD, OKR Begrich, erklärt diese neue Linie am 16. Mai 2014 in Bochum beim „Zukunftsforum“ der EKD, die sich dort auch wieder als die „spirituelle und moralische Avantgarde der Gesellschaft“ (sic!) selbst feiert, völlig offen: „Kirchliche Verwaltungen haben sich in den letzten Jahren erkennbar weiterentwickelt. Es geht darum, nicht mehr (nur) zu verwalten, sondern (auch inhaltlich) zu steuern“[36] [36].

Die strukturellen Veränderungen in der Kirchenorganisation haben nichts mit den von den Reformern angeführten „rückgängigen Mitgliederzahlen durch demographischen Wandel, Austritte, sinkende Kirchensteuereinnahmen, sowie Kostenbelastung durch Gebäude und Verwaltung“[37] [37] zu tun, sondern mit der Neufassung des christlichen Glaubensverständnisses, die Glaube und Politik miteinander identifiziert. Seine kirchlichen „Konkretisten“[38] [38] propagieren, dass dieses gesellschaftspolitische Engagement der wahre Auftrag der Kirche sei. Jürgen Moltmann hat so noch am 11. September 2013 in Ludwigshafen die „Hoffnung auf eine gelingende Zukunft Gottes“[39] [39] (sic!) beschworen, als ob diese Zukunft Gottes je eine Frage sein könnte. Doch solche Statements zeigen eben jene fatale religiöse Selbstermächtigung, wie sie auch das EKD-Zukunftspapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 behauptet:

„Im Jahre 2030 ist die evangelische Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung dadurch stark, dass sie gemeinsame Themen und Positionen vorgibt, die in die Gesellschaft hineingezogen und vertreten werden. Die professionelle Reflexion dieser Themen in Zuschnitt und Abfolge sowie die öffentliche Kommunikation der Themen sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine starke und profilierte Präsenz“[40] [40].

Dieses Wollen, das mit Verve politisch-moralisch über die Gesellschaft, aber nicht mehr religiös über den Glauben reden kann, spiegelt, „darin ist sich die Forschung einig, eine Religion, die weitgehend ohne Gott und Kirche auskommt“[41] [41]. Die EKD propagiert ethisch als besonders hochstehend präsentierte politische Positionen, um die Gesellschaft zu perfektionieren. Und sie fordert, geschützt vom externen Konsens der politischen Klasse, nun auch, dem traditionalen Verständnis der Familie die völlige Offenheit der „sexuellen Orientierung“ überzuordnen. Lorenz Jäger kritisiert diese Positionierung der EKD scharf: „Die sexuelle Orientierung wird, was ihre Bedeutung angeht, zu einem grenzenlosen Faktum, vor dem andere Kriterien keinen Bestand mehr haben; sie müssen sich ihr gefügig machen. Die Sexualität wird zum höchsten Maßstab – für schlechthin alles. Philosophisch müsste man von einer Totalisierung sprechen“[42] [42]. Auch Hartmut Löwe, einst selbst Bevollmächtigter der EKD bei Bundesregierung und Bundestag, nennt diese Politik der EKD schlicht „orientierungslos“[43] [43], was sie aber gewiss nicht ist: Wenn Löwe klagt: „Es bleibt unbegreiflich, wie der Rat der EKD von allen seinen früheren Äußerungen zu Ehe, Familie und Homosexualität abweicht, ohne auch nur einen einzigen diskutablen theologischen Grund anzugeben“, dann übersieht er, dass der von ihm verurteilte „revolutionäre Bruch in der Kontinuität evangelischer Lehre und gemeinchristlicher Überzeugung“[44] [44] schon vor langer Zeit stattgefunden hat und dass die EKD mit ihren radikalen Gender-Statements nur den Preis bezahlt, den die politische Klasse als eine Gegenleistung für die Rolle als politischer Mitspieler einfordert, wie Klaus Tanner richtig erkennt: Diese Äußerungen der EKD offenbaren eine „gezielte politische Indienstnahme der evangelischen Kirchen für eine gesellschaftspolitische Agenda, die auf den Ausbau des Sozialstaates zielt“[45] [45]. Willentlich stellt sich die EKD in die säkulare Dynamik der Politisierung aller Lebensbereiche mit ein, die eine kulturelle Revolution betreibt, in der „Gleichheit an sich zum Argument wird“, obwohl jeder weiß, dass es „legitime, wohlbegründete Ungleichheiten gibt“[46] [46], die für das gesellschaftliche Funktionieren unentbehrlich sind. Niemand in der EKD ist aber bereit, die „große Augenwischerei“ offenzulegen, die mit dieser Utopie der totalen gesellschaftlichen Gleichheit verbunden ist und neue, in ihren Schadens-Dimensionen und Gewaltpotentialen nicht in den Blick genommene gesellschaftliche Pathologien erzeugt. Wie Alain Ehrenberg sagt: „Man kann sich nicht von der Vertikalität befreien, ohne ganz konkret einen affektiven Preis dafür zu zahlen“[47] [47]. Michel Schneiders Studie zur „Psychopathologie de la vie politique“ sagt es plakativ: „Auf die Krankheiten des Vaters folgen nun im großen Maß die Krankheiten der Mutter“[48] [48]. Die EKD hilft durch ihren institutionellen Einsatz mit, „ein egalitäres Anspruchsdenken zu installieren, das so weit geht, Unterschiede als solche möglichst gar nicht mehr namhaft zu machen. Geschlecht, Behinderung, Alter oder Intelligenz gehören dann gar nicht mehr erwähnt, sie erscheinen als bloße Zuschreibungen im Auge des Betrachters“. Dass dieses „Unsichtbarwerden recht eigentlich erst die lebensweltliche Diskriminierung schafft, die man doch verhindern will“, ist „dieser überdrehten Gender-Ideologie“ nicht mehr zu vermitteln[49] [49].

Tief verstrickt in die Machtsicherungsmechanik der politischen Klasse, die der Allgemeinheit Veränderungen schmackhaft macht, die aussehen wie perfekte individuelle Freiheit, aber eben umfassende gesellschaftliche Knechtschaft erzeugen, hilft die EKD, die Tyrannei eines verlogenen Anspruchs zu errichten, „dessen Ergebnis darin besteht, dass die Gesellschaft und das Individuum sich selbst überlassen werden“[50] [50]. Sie unterfliegt mit ihrem opportunistisch-ideologischen Denken immer tiefer auch jenen kultivierten Deismus, für den Immanuel Kant noch eine geistige Höhenlinie gezeichnet hatte, die einem christlichen Personalismus anschlussrational war. Die EKD verliert so nicht nur die Verbindung mit dem christlichen Glauben, wie Hartmut Löwe bitter bilanziert, sie hilft auch, die gesamte überlieferte säkulare Werteordnung zu nivellieren: „Es geht um die Schleifung aller (natürlichen) Unterschiede“[51] [51]. Die totale Vereinheitlichung der Gesellschaft nimmt allen korporativen Eigeninteressen die politische und kulturelle Legitimität und lässt nur eine einzige übrig: die des Konsumenten und Wirtschaftsteilnehmers. Die EKD-Granden übersehen dabei nur, dass sie mit ihrer Komplizenschaft bei der Auflösung der gesellschaftlichen Formen und Institutionen auch ein kirchliches „aliud aus Religion“ und d.h. jede Kritik einer alternativen Wirklichkeitsauffassung politisch niederzuhalten helfen.

Dieser kirchlich-politische Opportunismus, der den Gott des Glaubens und den Gott der Gesellschaft ununterscheidbar macht, hat seine Wurzeln schon in der Reformationszeit gehabt. Mit der bald nicht mehr genau reflektierten Würdigung des weltlichen Tuns macht dieser neue „Protestantismus“ das weltliche Engagement zum Leitthema der Frömmigkeit. Die volle Parallelisierung des Glaubensaktes als eines Geschehens zwischen Gott und Mensch mit dem Akt der Verbesserung des Gemeinwesens als eines Geschehens zwischen Mensch und Staat wird die normative kirchliche Option. Sie ist bereits unübersehbar im reformierten Kirchentypus des Heidelberger Katechismus von 1563 und ganz konkret schon im Wortlaut greifbar im Ordinationsregularium der Kurpfälzischen Kirchenordnung von 1564 enthalten, in der „statt der geistlichen Autorität die politische Bindung vorrangig wird. Unübersehbar hat der 1563 herausgegebene Heidelberger Katechismus als kirchliche Lehrgrundlage für die Pfarrer auch einen restriktiven Prozess mit in Gang gesetzt, der die Freiheit der Pfarrer erheblich einschränken musste“ [52] [52], wie ich 1987 in einer Analyse des Ordinationsverständnisses der Kurpfälzischen Kirchenordnung selbst erschrocken feststellte. Damit war schon am Anfang der Reformation jene schillernde Unschärfe einer unklaren Beziehung zwischen Religion und Gesellschafts-Verfassung in die Welt gesetzt, die dann in der Geschichte des Protestantismus ihre religiös-kulturelle Landnahme immer erfolgreicher fortsetzt. So schnell wie der Zuordnungs-Begriff „protestantisch“ ein Dachbegriff für alle Strömungen der Reformation wurde hat dann auch das reformierte Denken mit seinem von Calvin übernommenen doppelten Gottesbegriff[53] [53] die lutherische Religionsauffassung überschrieben[54] [54]: Für das Weltliche gilt die Wahrheit „der Gemeinde“ in derselben Weise. Mit dieser Unmittelbarkeit der Geltung der religiösen Norm wird alles Überweltliche in weltliche Lebenszwecke transformiert und damit verschwindet der kulturelle Antagonismus der Religion gegenüber der Gesellschaft und am Ende die Religion selbst.

Dass mit dieser Auffassung die EKD-Kirchenwelt in den Niederungen angekommen ist, wo es nur noch um Wirkung geht und Wahrheit mit Sinnbedürfnis gleichgesetzt wird, kann jeder unvoreingenommene Beobachter feststellen. Überall fehlt hier das kulturelle Format, die eindeutig religiöse Fasson, der bewusst theologische Stil, der einer wenigstens kultivierten Doppeldeutigkeit des Gottesbegriffs im religiösen und gesellschaftlichen Auftritt entsprechend Schleiermachers „Circulation des religiösen Bewußtseins“ eine Gegenwart geben könnte. Was die EKD-Kirchenelite heute als Ergriffenheit von Gott vorführt, ist die in den Grenzen ihrer Organisationszwecke bleibende Berufung auf die Wahrheit einer perfekten Gesellschaftsmoral. In einem Wort: Religion hat hier nur noch eine sekundäre Funktion. Insofern haben sich die Verhältnisse seit Schleiermacher sehr verändert. Der schon von diesem „religiösen Paganini“ stets doppeldeutig gehaltene Religionsbegriff ist heute insoweit eindeutig, als ihm nur noch gesellschaftliche Zwecke zugeordnet werden und der religiöse Rest, sofern vorhanden, dann auch nur noch der politischen Eschatologie dient. Man sagt: „Die Zukunft wird bestimmt besser“ oder: „Das Leben ist stärker als der Tod“, wie dies der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider in tief erschreckender Antwort-Verlegenheit auf die Frage „Was ist der Nachrichtenwert der Botschaft, die vor 2000 Jahren alles veränderte: Jesus ist auferstanden?“ ausweichend „erklärt“[55] [55]. Die echte religiöse Differenz zum gesellschaftlichen Lebensverständnis kann oder will diese EKD-Elite selbst nicht mehr aussprechen, obwohl gerade auch von Nicht-Christen erwartet wird, dass gerade nicht die politischen Themen, sondern Persönlichkeit, Lebensführung und religiöse Haltung die für eine christliche Kirche primären Dinge sind.

3.   Der Verlust der Arbeit am religiösen Bewusstsein

Christian Geyer hat 1997 die Lage in die Formel gebracht: „Es ist den Christen der Himmel abhanden gekommen“[56] [56]. Vieles spricht dafür: So verdichten z.B. die fünf Landeskirchen in Niedersachsen ab 2015 ihre Zusammenarbeit um für „die gemeinsamen Themen: Flüchtlingspolitik oder Fragen zu Atommüllstandorten wie Gorleben oder Asse“ eine „effektive Zusammenarbeit“ durch „eine offensive, pointierte, klare Strategie“[57] [57] zu erreichen. Für diese politische Themenarbeit ist kirchliche Gemeinschaft nötig, wie der hannoversche Landesbischof Ralf Meister am 22. November 2013 erklärt, während die Fragen nach der Katholizität des Glaubens nicht mehr wichtig sind. Die Gründe, weshalb die EKD-Kirchen schon lange „nicht mehr die Kraft und den Willen zur Religion aufbringen“, wie es einmal der katholische Staatsrechtler Josef Isensee ausgedrückt hat, hat schon 1970 Rüdiger Altmann im SPIEGEL-Essay „Abschied von den Kirchen“ als den Abschied von der Kultur des christlichen Kultus zu erfassen versucht und gemeint, für eine Umkehr sei es schon „zu spät“. Es war aber nicht nur der von der EKD mit der „Erneuerten Agende“ förmlich besiegelte Abschied vom „Kultus“ (dies freilich auch), sondern der in den 1960er Jahren begonnene kirchliche Rückzug aus der Fläche, der die Gemeinden immer größer gemacht hat und ihre Finanzausstattung immer kleiner. Seit damals wird mit besinnungsloser Konsequenz die von Reinhard Bingener im FAZ-Leitartikel am 17.4.2014 noch einmal verzweifelt beschworene religiöse Basis in den Gemeinden zuerst sich selbst überlassen, d.h. nicht mehr investiv gepflegt, dann werden ihre Ressourcen geplündert und am Ende auch in den Grundlagen zerstört: eine „erkennbare und erreichbare Pfarrerschaft“, wie Bingener anmahnt, gibt es schon heute nicht mehr. Überall in Deutschland werden Kirchengemeinden auch mit noch 1000 Mitgliedern die Pfarrstelle genommen und immer öfter auch ihre Kirche verkauft (von 1990 bis 2010 waren es schon 340) oder abgerissen (46 davon). Doch weshalb darf eine 1.000-Seelen-Gemeinde keinen Pfarrer und keine Kirche mehr haben, obwohl sie (der Durchschnitt des Pro Kopf-Kirchensteueraufkommens ohne Staatsleistungen in der EKD für das Jahr 2012 lag bei 195,79 €) jährlich mehr als 200.000 € Kirchensteuer aufbringt und damit bequem einen Pfarrer besolden könnte? Im Klartext: Die Rede von den sinkenden Kirchensteuereinnahmen ist unehrliche Zweckpropaganda, denn die Kirchensteuereinnahmen steigen immer noch. Von 1967 bis 1970 haben sie sich erstmalig verdoppelt. Diese „explosionsartig gesteigerte“[58] [58] Expansion der Finanzmittel kam nicht den Gemeinden zugute, sondern diente der Erweiterung der kirchlich-politischen Infrastruktur[59] [59]. Harry Oelke urteilt richtig: Der „materielle Zugewinn, der von der Gesellschaft in den 1950er Jahren erwirtschaftet worden war, versetzte die evangelische Kirche in die komfortable Lage , die Partizipation am überall greifbaren Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung (…) auch tatsächlich realisieren zu können“[60] [60]. Von 1970-1990 haben sich die Kirchensteuereinnahmen dann sogar noch einmal verdreifacht und sind zwischen 2005-2012 dann noch einmal um rund 30 % gewachsen trotz 10 % Mitgliederverlust. Dennoch sanken die Schlüsselzuweisungen an die Gemeinden seit 1960 unaufhaltsam, wie gewollt: „Kirche muss in Schwerpunkten denken, nicht mehr in Gemeinden“, so das nun unmissverständliche Bekenntnis der Ludwigshafener Dekanin Kohlstruck zur gültigen Kirchenphilosophie im Speyerer „Kirchenboten“ vom 23. März 2014.

Sehr bald wird es keine „Gemeindepfarrstellen“ mehr geben. Für den Gottesdienst vor Ort „könnten ehrenamtliche Lektoren und Prädikanten sowie mobile Pfarrer eingesetzt werden“, so der Speyerer OKR Müller am 28. April 2014 in vielsagendem Konjunktiv. Die alten Säulen der Kirche, die Gemeinden, sind im „neuen Paradigma“ vollkommen an den Rand gerückt. Sie erhalten pro Mitglied in der für den EKD-Durchschnitt repräsentativen bis vorbildlichen Pfälzischen Landeskirche (in der aparterweise die für bundesweite Verbraucher-Tests und Umfragen vielbenutzte Muster-Gemeinde Haßloch liegt) nur noch rd. 17 €, abzüglich 2 € für Verwaltungsamt, abzüglich dem Zwangsbeitrag für den Kirchlichen Entwicklungsdienst usw. (z.B. auch eine Abgabe für die Dekanswohnung ab 2015). 2013 und 2014 wurde darauf noch einmal ein „Nachschlag“ gewährt, der aber nicht darüber hinweg hilft, dass den Gemeinden kaum mehr als 7 % ihres Kirchensteueraufkommens bleiben, um eine örtliche Gottesdienstkultur mit Kirche, Kirchendienst, Organist usw. aufrecht erhalten zu sollen, was so nicht mehr möglich ist: auch in der Bayrischen Muster-Landeskirche bald nicht mehr, wo 2014 der Anteil des innerkirchlichen Finanzausgleichs an die Gemeinden jetzt „auf nur noch 24 % fällt“[61] [61] – Tendenz auch hier weiter fallend. Die dazugehörige Pfarrstelle formatiert z.B. die Pfälzische Landeskirche ab 1.800 Gemeindegliedern (ab einem Kirchensteueraufkommen von 360.000 € p.a.), die (größte) Hannoversche Landeskirche erst ab 2.400 Kirchenmitgliedern (ab einem Kirchensteueraufkommen von 480.000 €) oder die Badische Landeskirche sogar erst ab 2.800 Gemeindegliedern (ab einem Kirchensteueraufkommen von 560.000 €). Etwa 60-70 Prozent der Kirchensteuer verbraucht der kirchliche Apparat für das „neue“ gesellschaftspolitisch auftretende Kirchenverständnis, zu dem natürlich auch die Diakonie als wichtiger politischer Machtfaktor zählt – ein riesiges Problem für sich.

Konsequent folgt die neue Kirchenlehre ihrem Leitsatz, wie ihn das Strategiepapier der Pfälzischen Landeskirche von 2011 der EKD genau nachspricht: „Die öffentliche Verkündigung in der Parochie reicht nicht aus, um den Öffentlichkeitscharakter der Kirche in einer mobil und medial geprägten Gesellschaft zu gewährleisten“[62] [62]. Dies heißt, dass die Gemeinde-Pfarrerschaft den Haupt-Zweck der Kirche nicht erfüllt, die Kirche als Führer zum gesellschaftlichen Wirklichwerden des Guten machtvoll auftreten zu lassen. Doch die EKD-Elite entrinnt nicht dem Dilemma, dass sie die Themen ihrer ethisch-politischen Objekte auch nur aus den gesellschaftlichen Interessen auswählt, in denen sie selbst steckt. Und ausgewählt wird, was den größten Distinktionsprofit abwirft. Alles wird dann unterdrückt, was darüber zu sprechen hätte, dass dieses Engagement die Interessen der EKD-Nomenklatura bedient, mit denen sie als „spirituelle und moralische Avantgarde“ (sic!) in der Gesellschaft anerkannt sein will. Mit solcher Selbstgerechtigkeit ist freilich vergessen, was bei Luthers Tischrede Nr. 624 auf den richtigen Begriff gebracht ist: „Das Leben ist böse bei uns wie bei den anderen auch. Aber von der Lehre, vom Wort des Glaubens zu handeln, das heißt der Gans an den Kragen gegriffen“.

4.   Wann geben wir den Menschen die Kirche zurück?

Diese schon 2003 von Gerhart Herold so gestellte Frage ist nicht einfach zu beantworten. Zuviel ist schon in Kirche und Theologie zerstört und das wenige, das eine Anknüpfung für den Rückgewinn des Guten innerhalb der EKD und den Landeskirchen möglich macht, bleibt ohne Systemwirkung. Das Ende der Abwärtsbewegung ist noch nicht erreicht. Nichts ist am Horizont, dass dieser Zug der gesellschaftlichen Funktionalisierung aller religiösen Formen und Gehalte im Kursbuch der EKD auf ein anderes Gleis gefahren würde. Die Totalisierung des Protestantismus zur politischen Religion ist nach dem großem Anschub 1945 im Kern seiner Frömmigkeitskultur angekommen: im Gottesdienst, wie die „Junge Kirche“ 2009 exemplarisch illustriert: „Gott erklärt die Einzelnen zu seinen Bündnispartner/innen. Auf sie kommt es an. Königliche, Welt verändernde Macht wird ihnen verliehen (…) Ein Blick in das Gebetbuch der Bibel, den biblischen Psalter, zeigt diese Ermächtigung, die uns das Private politisch verstehen lässt, als einen Kern biblischer Spiritualität … Betend vollzieht sich die Erkenntnis, dass jede und jeder einzelne mit der Verarbeitung von Leid, Verfehlung und Dankbarkeit teilhat an der großen Politik… Jedermann und jede Frau ist auch in Isolation und Bedrängnis mitverantwortlich für die Vollendung der Geschichte Israels und der gesamten Menschheit“[63] [63]. Im Weihrauch so steiler Humanitätspropaganda wird unsichtbar, wie sich der gesellschaftliche Auftritt der Kirche tatsächlich zum Negativen hin verändert. Denn mit dem neuen Zentralismus in der EKD verschwindet in der Fläche der Bundesrepublik auch eine gesellschaftlich ebenso elementare wie kostbare Sache: der für viele Menschen wichtige, ohne Bedingungen greifbare Notausgang bei schwer lösbaren menschlichen und gesellschaftlichen Problemlagen. Was hier eine im Bedarfsfall in wenigen Stunden bis in den letzten Winkel der Bundesrepublik alle gesellschaftlichen Institutionen kontaktierbare Struktur eines kirchengemeindlichen Kümmerns um die Menschen auch am kleinsten Ort löst und leistet, war einmal eine stille, aber für die Betroffenen fast immer bemerkenswert erfolgreiche gesellschaftliche Kraft, die nun die EKD-Kirchen selbst für ihren Plan einer politisch-moralischen Herrschaft über die Gesellschaft opfern.

Man muss sich diese Verhältnisse nüchtern vor Augen führen, um die ganze Dramatik der in den letzten fünf Jahrzehnten immer intensiver eingerasteten Zweck-Mittel-Verkehrung von Finanzierung und Organisation in der EKD begreifen zu können. Die Beteuerung von Synoden und Kirchenleitungen, dass die Gemeinden das Herz der Kirche seien, ist pure Fensterrede. Dass Günter Jauch in der ARD zum Thema „Bischof von Limburg“ am 20. Oktober 2013 einfach behauptet hat, „die Kirchensteuer fließt überwiegend in den Unterhalt der Gemeinden“, ist für den EKD-Bereich schlicht unzutreffend. Denn von der Kirchensteuer finanziert wird überwiegend eine katastrophal überinstitutionalisierte Kirchenorganisation. Anstatt wie vor 1960 – und der Stand dieses Jahres wäre die Messlatte für den Rückbau des Kirchenapparates – in die personale Grundstruktur der Gemeinden zu investieren und in gleicher Weise die notwendigen Ressourcen für die Gemeinschaftsbildung vor Ort und in den kirchlichen Jugendfreizeiten in maximaler Weise zu pflegen, wie dies die Finnische Lutherische Kirche mustergültig praktiziert, werden nur noch diejenigen Organisationszwecke erhalten und ausgebaut, die die zentralistische Äußerungsstruktur der kirchlichen Nomenklatura unterstützen. Mit einem Wort: Die EKD zerstört ihre eigene Religionsfähigkeit. Klaus Mertes benennt in der FAS vom 20. April 2014 im direkten Bezug auf die EKD diese Krankheit, die „am Anfang schwer zu erkennen und leicht zu heilen, am Ende unübersehbar fast nicht mehr zu kurieren ist“, in treffender Weise den „institutionellen Narzissmus“.

Natürlich gibt es im kirchlichen Feld auch noch anderes als institutionellen Narzissmus zu besichtigen und sogar handfeste Gegenbeispiele, die die geschilderte Lage aber nicht verändern. Die Bewegung des Systems ist eindeutig und von der herrschenden EKD-Elite kein Einlenken zu erwarten. Wohl erst wenn alles am Boden liegt, kann eine restlos neue personelle Aufstellung mit religiös wieder sprachfähigen und glaubwürdigen Leitungsgremien, einer konsequenten Restrukturierung der kirchlichen Arbeit als Gemeindearbeit mit einem „ordentlichen“ Gottesdienst – ein eigenes Thema – und der Befreiung der Pfarrerschaft zur „Inkarnation“ in das Leben ihrer Gemeinde mindestens ab 1.000 Mitgliedern die Menschen hoffentlich wieder etwas von dem wahrnehmen lassen, was die Christliche Kirche wirklich ist.

[1] [64] Bei Christoph Meyns: Kirchenreform und betriebswirtschaftliches Denken, Gütersloh 2013, 226.

[2] [65] Bei Meyns, aaO. 210.

[3] [66] Dorothee Buchhaas-Birkholz: „Zum politischen Weg unseres Volkes“. Politische Leitbilder und Vorstellungen im deutschen Protestantismus 1945-1952, Düsseldorf 1989, 122.

[4] [67] Hans Albert: Theologische Holzwege. Gerhard Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft, Tübingen 1973.

[5] [68] Bei Jan Roß: Von einem, der auszog, das Scheitern zu lehren, in: FAZ 13.12.1994, L13.

[6] [69] Albert, aaO. 58.

[7] [70] In DPfBl, Heft 6, 2014, 344-349.

[8] [71] Frank C. Senn: Lutherans are natural „Splitters“, in: Worship, Collegeville, 79. 2005, 316-328.

[9] [72] Hanns Rückert: Kirche und Amt in der evangelischen Theologie, in: L. Reinisch (Hg.): Theologie heute, 4. Aufl. München 1968, 103-114, 110.

[10] [73] Rückert aaO. 114.

[11] [74] Wolfgang Huber (Hg.): Protestanten in der Demokratie, München 1990, 14.

[12] [75] Hans Eckehard Bahr: Verkündigung als Information, Hamburg 1968, 13f.

[13] [76] Bahr, aaO. 14.

[14] [77] Senn, aaO. 316.

[15] [78] Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie, Gütersloh 1966, 2. Aufl. 1970, 69.

[16] [79] So beide in der Fachtagung „Kirchenleitung“ im Theolog. Studienseminar Pullach am 21.11.2011.

[17] [80] Karl Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde, Gladbeck 1946, 18.

[18] [81] Harnack bei Rendtorff, aaO. 187f.

[19] [82] Gunther Wenz: Verrat an Luther? Anmerkungen zum Thema Zivilreligion, in: Stimmen der Zeit, 2013, 855-858, 858. Wenz bezieht sich hier auf mein Buch: Zivilreligion – der protestantische Verrat an Luther. Wie sie in Deutschland entstanden ist und wie sie herrscht, München 2013.

[20] [83] Wenz, aaO. 858.

[21] [84] Friedrich Wilhelm Graf, in: Ders. und Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion, München 2013, 25, 43.

[22] [85] Patrick Bahners: Warum wir nicht in der Provinz bleiben, FAZ 4.10.2010, 27.

[23] [86] Oskar Hammelsbeck: Um Heil oder Unheil im öffentlichen Leben, München 1946, 10.

[24] [87] Wenz, aaO. 856.

[25] [88] Erwin Gross: Mythus und Wirklichkeit der Bekennenden Kirche, Dt Pfrbl. 1949, 556-562.

[26] [89] Hartmut Ruddies: Strukturmerkmale des deutschen Protestantismus, in: M. Grunewald und U. Puschner (Hg.): Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2003, 61-71, 70 (beide Zitate).

[27] [90] Kurt Scharf: Diskussion mit Berliner Schülern über die (EKD-Ost-)Denkschrift; ausgestrahlt von RIAS Berlin am 5.8.1966, Textfassung abgedruckt bei Michael Jach: Der politische Weg der Evangelischen Kirche seit 1945, in: Jens Motschmann und Helmut Matthies (Hg.): Rotbuch Kirche, 4. Aufl. Stuttgart 1976, 23-48, 37f.

[28] [91] Caroline Marvin und David W. Ingle: Blood, Sacrifice and the Nation: Totem Rituals and the American Flag, Cambridge 1999, zit. bei Craig M. Watts: Barth, Barmen and American Civil Religion, in: Pro Ecclesia, Northfield Minn., 14. 2005, 287-305, 300.

[29] [92] Jürgen Moltmann: Der gekreuzigte Gott, München 1972, 313.

[30] [93] Moltmann: Theologie der Hoffnung, 6. Aufl. 1966, 74.

[31] [94] Martin Pflaumer und Hans-Joachim Vieweger: Gemeindefinanzen, in: ABC-Nachrichten, Heft 1 2014, 11f.

[32] [95] So der EKD-Ratsvorsitzende Nik. Schneider im Vorwort zum Programm des „Zukunftsforums der EKD“, 4.

[33] [96] Ludwig Trepl: Anmerkungen zu den Reformpapieren der Landeskirche und der EKD. Kreissynode Charlottenburg, 24. April 2009, 11; vgl. bei Thomas Gandow: Pfarrer hört die Signale, DtPfbl 2011, 611f.

[34] [97] Zur Merkwürdigkeit des Jahres 1960 als „Satteljahr“ des Durchbruchs zur flächendeckenden religiösen Aufladung der politischen Leitbegriffe vgl. Karl Richard Ziegert: Zivilreligion – der protestantische Verrat an Luther, 75ff. 229ff, 237-248, 369ff. Dto. bei Klaus-M. Kodalle: Zwischen Politischen Mythen und gesellschaftlichen Grundwerten, in: Mitteilungen der Evang. Arbeitsgemeinschaft für Zeitgeschichte, Folge 10, April 1990, 33-53, bes. 44f.

[35] [98] Trepl aaO. 2.

[36] [99] Evangelische Kirche in Deutschland: Informieren, transformieren, reformieren. Zukunftsforum vom 15.-17. Mai 2014 im Ruhrgebiet, Programm, 80. Vgl. Reinhard Bingener: Endlich Luther bei die Fische?, FAZ 19. Mai 2014, 4.

[37] [100] So am 28.4.2014 der Speyerer OKR Gottfried Müller.

[38] [101] Hans Otto Wölber: Politisierung – Gefahr für die Einheit der Kirche?, EvKommentare 1. 1968, 139.

[39] [102] Hans-Ulrich Fechler: „Man muss den Widerspruch aushalten“, in: Die Rheinpfalz, 12.09.2013.

[40] [103] Kirchenamt der EKD: Kirche der Freiheit, 2006, 85.

[41] [104] Isolde Karle: Reformen mit Besonnenheit, in: Zeitzeichen, Heft 2, 2011, 40f.

[42] [105] Lorenz Jäger: Das Letzte, in: FAS 6.4.2014, 11.

[43] [106] Hartmut Löwe: Orientierungslos. FAZ 28. Juni 2013, 10.

[44] [107] Löwe, aaO. (alle Zitate).

[45] [108] Reinhard Bingener: Orientierungshilfe, in: FAZ 30.09.2013, 10.

[46] [109] Peter Graf Kielmannsegg: Gleichheitsfuror, in: FAZ 14. Juni 2013, 7.

[47] [110] Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2011, 322.

[48] [111] M. Schneider: Big Mother. Psychopathologie de la vie politique, Paris 2002, 112.

[49] [112] Christian Geyer: Eine unglaubliche Gleichmacherei, in: FAZ 22. Juli 2014, 9 (alle Zitate).

[50] [113] Bei Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft, 362.

[51] [114] Reinhard Müller: Ein revolutionärer Akt, in: FAZ 7. Juni 2013, 1.

[52] [115] Die Ordination in der (Kur-)Pfalz seit der Reformation, in: Pfälzisches Pfarrerblatt, 77. 1987, 46-59.

[53] [116] Der politische Calvinismus, den der kanadische Philosoph Charles Taylor sehr treffend einen „providenziellen Deismus“ nennt, liefert die zum „Öffentlichkeitsanspruch“ passende Scharnier-Sprache, die exakt Calvins Lehre einer doppelten Offenbarung Gottes im Jus Divinum und im Jus naturae entspricht und dabei immer auch den Glauben nährt, „die Ziele von Religion und Politik seien die gleichen“ (Taylor: Ein säkulares Zeitalter, 381, 399).

[54] [117] Christian V. Witt: Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs, Tübingen 2011.

[55] [118] Bei Anne-Susann von Ehr: „Wir wollen durch das Wort überzeugen“, in: Die Rheinpfalz 9. Mai 2014.

[56] [119] Christian Geyer: Gott will Gebabbel, in: FAZ 4. November 1997, L 23.

[57] [120] EKD-Pressemitteilung vom 22. November 2013.

[58] [121] Die Kirchensteuereinnahmen der EKD sind (unabhängig von Staatsleistungen) von 1,6 Mrd. (1967) auf über 3,1 Mrd. (1972) und von da an kontinuierlich weiter bis auf 8,38 Mrd. (1993) gestiegen.

[59] [122] Zur „Explosion“ der Kirchensteuer vgl. Stefan Schmunck: Die Ökonomie des Glaubens. Die Evangelische Kirche in Hessen/Nassau und der Sprung in die Moderne 1945-1980. Diss phil. Darmstadt 2010, ungedruckt, zit. bei F.W. Graf: Kirchendämmerung, 11f.

[60] [123] Harry Oelke: Westdeutsche Kirchengeschichte 1945-1989, in: Katharina Kunter und Jens Holger Schjoerring (Hg.): Europäisches und Globales Christentum, Göttingen 2011, 171-202, 186.

[61] [124] Bei Pflaumer /Vieweger, aaO. 11.

[62] [125] Vgl. Karl Richard Ziegert: Panische Zuversichten. Kritische Anmerkungen zum „Strategiepapier“, in: Pfälzisches Pfarrerblatt, 101. 2011, 464-482 (im Internet greifbar).

[63] [126] Klara Butting: Spiritualität – ein biblischer Weg, JK 2009, 1-6, 3.

 

Karl Richard Ziegert

Jahrgang 1946, Studium in Bethel, Heidelberg und Mainz, seit 1972 Pfarrer an der Pauluskirche in Ludwigshafen am Rhein, 1975 Theolog. Promotion in Heidelberg, 1987-1994 Direktor der Evangelischen Akademie Speyer, 1995-2011 Landeskirchl. Beauftragter für Weltanschauungsfragen. Seitdem im Ruhestand.

Quelle: Deutsches Pfarrerblatt, 10/2014, S. 558ff.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.